Wo sind die Scharnhorsts und Gneisenaus? Die Bundeswehr benötigt Reformen
Julius Braun hat Militärgeschichte sowie Sicherheits- und Verteidigungspolitik an den Universitäten Bonn, Maynooth, Potsdam und Dublin studiert. Er ist Doktorand an der Universität Potsdam und arbeitet für die Abteilung „Internationale Politik und Sicherheit“ der Konrad-Adenauer-Stiftung. Er hat sich mit der Frage auseinandergesetzt, wie die Bundeswehr effizienter werden kann. Hier sind seine Überlegungen – ein Meinungsbeitrag.
Als Heeresinspekteur Alfons Mais am 24. Februar 2022 – dem ersten Tag des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine – medienwirksam verlauten ließ, dass das deutsche Heer „mehr oder weniger blank“ dastünde, rief dies in Expertenkreisen wenig Verwunderung hervor. Die wissentliche, jahrzehntelange Vernachlässigung der Bundeswehr war kein Geheimnis und bereits seit längerem Ziel vehementer Kritik. Denn wer braucht im 21. Jh. schon einsatzbereite Streitkräfte? Und ist der Gedanke an den Gebrauch militärischer Gewalt nicht sowieso eher unbequem?
Die prekäre Situation des deutschen Militärs im Jahr 2022 erinnert vielleicht an den Zustand der altpreußischen Armee im Jahr 1806. Es war das Jahr der Niederlage von Jena und Auerstedt. Der preußische Staat erkannte, dass radikale Reformen notwendig waren, um seine obsoleten Strukturen aufzubrechen und an die Anforderungen der „neuen Zeit“ anzupassen. Im zivilen Bereich erschufen damals die Reformer Stein und Hardenberg einen schlanken und effizienten Verwaltungsapparat (von dem insbesondere die deutsche Hauptstadt heutzutage nur träumen kann) und hinsichtlich der Streitkräfte legten unetr anderem die Reformer Scharnhorst und Gneisenau den Grundstein für jenes Heer, welches später Napoleon bei Waterloo und 55 Jahre danach dessen Neffen bei Sedan schlagen sollte.
Die Bundeswehr braucht Reformer
Was soll uns das alles nun über die Lage der Bundeswehr im 21. Jahrhundert sagen? Die Bundeswehr in ihrer aktuellen Situation braucht Reformer vom Schlag eines Scharnhorsts oder Gneisenaus, welche die festgefahrenen Strukturen aufbrechen und den realpolitischen Anforderungen der Gegenwart anpassen. Doch welche konkreten militärisch-politischen Reformen sind nun notwendig?
Neben dem wohlbekannten Mangel an Personal und Ausrüstung steht der Bundeswehr und ihrem, dem Militär auf natürliche Weise innewohnenden, Bedürfnis nach Schnelligkeit und Effizienz, eine überdehnte Kommandostruktur und deren vom Frieden her gedachten Vorschriften und Arbeitsweisen im Wege. Stabsgänge, die darauf abzielen Verantwortung auf möglichst viele Schultern zu diffundieren, sorgen für Verlangsamung und bis hin zu Stillstand im System. Hinzu kommt, dass Prozesse im Beschaffungs- und Personalwesen nach außen hin zu sehr den Eindruck abgeben, als könnten diese Bereiche insgesamt noch effizienter arbeiten. Überproportionierte Stabsstrukturen stehen einer unterversorgten Kampftruppe gegenüber und sind Zeugen einer politischen Agenda, welche die Bundeswehr eher aus einer innen- anstatt verteidigungspolitischen Perspektive verstehen wollte.
Leistung muss sich lohnen
Zudem sollte die Bundeswehr eine Überarbeitung ihres Beurteilungs- und Beförderungssystems zugunsten eines stärker meritokratisch orientierten Ansatzes andenken, was Kreativität und Innovationsprozesse in der Truppe und den Stäben stärker als bisher fördern könnte. Die notwendigen Maßnahmen zur institutionellen Stärkung des Militärs, namentlich die Stärkung des Generalinspekteurs, die klare Benennung und Übernahme von Verantwortung – insbesondere auf mittlerer Funktionsebene – und die Entbürokratisierung und Optimierung von internen Strukturen und Prozessen, sind notwendige Maßnahmen und wurden schon erkannt. Sie müssen – nun da die Politik scheinbar die Notwendigkeit einsatzbereiter Streitkräfte anerkennt – entschlossen angegangen werden um die Bundeswehr zur Landes- und Bündnisverteidigung (LV/BV) zu befähigen.
Neben der Schaffung der oben genannten essenziellen Grundvoraussetzungen ist vor allem eine Anpassung der Bundeswehr an die neue sicherheitspolitische Realität in Europa von Nöten – vorausgesetzt man meint es tatsächlich ernst mit der Zeitenwende. Deutschlands Verbündete an der NATO-Ostflanke haben diese Notwendigkeit seit gut einem Jahrzehnt erkannt und entsprechende Maßnahmen getroffen. Länder wie Polen und die Ukraine können sich auf eine starke territoriale Reserve verlassen, die ihren regulären Streitkräften im Ernstfall den Rücken freihält. Der Verlauf des Krieges in der Ukraine bestätigt die Effizienz dieser territorialen Verteidigungsorganisationen und auch die Bundeswehr sollte angesichts ihrer eingeschränkten Operationsfähigkeit eine weitreichende Umgestaltung ihrer territorialen Reserve in Erwägung ziehen.
Auf Reservisten basierendes Territorialheer
Die Streitkräftebasis und der Zentrale Sanitätsdienst sind Produkte der politischen Realität der 1990er und haben als solche ihre Funktion im Rahmen von Auslandseinsätzen erfüllt. Die Streitkräftebasis sollte im Zuge dessen in ein, auf Reservisten basierendes, Territorialheer umstrukturiert werden. Das inzwischen aufgestellte Territoriale Führungskommando kann hierfür eine Grundlage schaffen. Wirklich entscheidend für die territoriale Verteidigung können diese Reformen auf Kommandoebene erst werden, wenn sie Hand in Hand mit einem personellen und materiellen Aufwuchs der unterstellten Truppe und einer dem Auftrag entsprechenden Ausbildung einhergehen.
Das Gebiet der Bundesrepublik ist im Rahmen der „Drehscheibe Deutschland“ von strategisch zentraler Bedeutung für die sichere Anlandung und Koordinierung von NATO-Truppen in Europa und damit priorisiertes Ziel feindlicher Angriffe auf operationsrelevante Infrastruktur. Die Absicherung des rückwärtigen Raumes durch eine gut ausgebildete Reserve ist hierbei unerlässlich, um eine Konzentration der Kampfverbände auf die Bündnisgrenzen zu ermöglichen. Eine Bindung regulärer Kräfte auf bundesdeutschem Gebiet wäre fatal und würde die schnellen Kapazitäten der NATO an der Front entscheidend schwächen. Zur spezifischen Aus- und Weiterbildung einer solchen Reserve, wäre die Gründung einer Schule für rückwärtige Verteidigung notwendig, welche die Reserve nach ihrer Grundausbildung für den technologisierten Kleinkrieg im rückwärtigen Raum sowie in infanteristischer Flug- und Panzerabwehr schult. Eine sinnvolle Verwendung des durchschnittlichen Reservisten im mechanisierten „High-Intensity“-Gefecht des 21. Jahrhunderts ist nicht realistisch und würde eine zwei- bis dreijährige Ausbildung voraussetzen. Erste Berichte aus der Ukraine, welche die Leistungen des Territorialheers an der Front als ungenügend bewerten, bestätigen dies.
Heimatnahe Verwendung stärkt die Moral
Dasselbe Fallbeispiel zeigt jedoch auch, dass ein defensiv agierendes Territorialheer mit geringen Mitteln, relativ kurzer Ausbildungszeit und begrenztem Zugang zu schwerem Gerät durchaus in der Lage ist, professionellen Streitkräften – zumindest für einen gewissen Zeitraum – Widerstand zu leisten sowie Sicherungs- und Schutzaufgaben zu übernehmen. Die bereits existierenden, jedoch aktuell stark unterbesetzten und noch schlechter als die reguläre Truppe ausgestatteten Heimatschutzkompanien der Bundeswehr eignen sich durch ihre heimatnahe und lokal begrenzte Verwendung optimal, um die für den Kleinkrieg nötigen Gelände- und Ortskenntnisse einzubringen und flexibel agieren zu können. Eine heimatnahe Verwendung stärkt zudem den Zusammenhalt und die Moral in der Truppe und ermöglicht im Verteidigungsfall eine dezentralisierte Mobilisierung und eine schnelle Zuweisung von verteidigungsrelevanten Aufträgen.
Gesellschaftliche Resilienz durch Pflichtdienst
Gesamtstaatliche Verteidigung bedeutet jedoch nicht nur die Stärkung der militärischen Schlagkraft, sondern vor allem auch die Förderung der gesellschaftlichen Resilienz durch die Sensibilisierung der Bevölkerung, die solche Schritte mittragen müsste. Ein einsatzbereites, auf einer aktiven, eingeübten Reserve basierendes Territorialheer müsste daher mit der Einführung einer gewissen Form von Gesellschaftsjahr verbunden werden, um die personellen Kapazitäten für die Absicherung des rückwärtigen Raumes in der Tiefe sicherstellen zu können. Ob die deutsche Politik und Bevölkerung bereit für solche Schritte wären, bleibt selbst vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine zweifelhaft. Der Pazifismus ist tief in der deutschen „postheroischen“ politischen Kultur verankert und so setzt man in Teilen der Politik mit bisweilen kindlich anmutender Naivität darauf, dass der Bündnisfall schon nicht eintreten werde.
Doch Frieden und Freiheit sind nicht selbstverständlich, sondern müssen immer wieder aufs Neue verteidigt werden. Zurzeit übernehmen die ukrainischen Streitkräfte diese Aufgabe für uns. Die Fragen, die sich die deutsche Politik und Gesellschaft stellen müssen, lauten: Möchte man, dass die angekündigte Zeitenwende wirklich nachhaltig ist? Und möchte die deutsche Bevölkerung zur Landes- und Bündnisverteidigung befähigte Streitkräfte, die in letzter Instanz auch wirklich kämpfen können? Orientiert man sich hierbei am Muster der deutschen Politik der letzten Jahre, so scheint es nicht unwahrscheinlich, dass es für ein wirkliches Umdenken erst ein zweites Jena und Auerstedt benötigt – wenn auch nicht zwangsläufig ein militärisches.