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Zehn Jahre Arabischer Frühling – Rückschau und Ausblick

Die Welle an Protesten gegen autoritäre Machthaber im Nahen Osten und Nordafrika von Ende 2010 bis Mitte 2012 ging als Arabischer Frühling oder Arabellion in die Geschichtsbücher ein. Repressive Regime, die ihr Versprechen nach Arbeit und Wohlstand für alle nicht mehr erfüllten, sahen sich dem Druck hunderttausender Menschen ausgesetzt, die für Demokratie und Freiheit auf die Straßen gingen. Die Verläufe der Demonstrationen waren höchst unterschiedlich und reichten von ersten Demokratien über Konterrevolutionen bis hin zu Bürgerkriegen. Zehn Jahre nach den Ereignissen ist es Zeit für eine Bestandsaufnahme: Wie sieht die aktuelle Lage in den Ländern aus und wo ist eine Demokratisierung gelungen?

(Symbolfoto: Amine M'Siouri via pexels.com)

Der Beginn des Arabischen Frühlings stellt die Selbstverbrennung des Gemüsehändlers Mohamed Bouazizi in Tunesien dar, der damit öffentlich gegen die Willkür des autoritären Regimes von Zine el-Abidine Ben Ali protestierte. Große Teile der Bevölkerung schlossen sich dem Protest an und es entwickelte sich im Dezember 2010 eine pro-demokratische Massenbewegung, die zur Flucht des Machthabers führte. Die Revolution in Tunesien inspirierte viele Menschen in anderen Staaten des Nahen Ostens und Nordafrikas, die seit Januar 2011 ebenfalls in Massen auf die Straßen gingen und politische Freiheiten forderten. Eine wichtige Rolle bei der Organisation der Proteste nahm die junge Generation ein, die sich auf sozialen Netzwerken wie Facebook und Twitter austauschte.

In Ägypten, dem bevölkerungsreichsten Land der Region, kam es infolge der Demonstrationen zur Absetzung des langjährigen Herrschers und Generals Muhammad Husni Mubarak. Entscheidend hierbei war das Verhalten des mächtigen Militärapparats, der sich im Verlauf der Revolution auf die Seite der Demonstrierenden stellte, um seinen politischen und wirtschaftlichen Einfluss zu wahren. Auch im Jemen gelang es den Demonstrierenden ihren autoritären Präsidenten Ali Abdullah Salih zum Rücktritt zu zwingen. Allerdings entwickelte sich in dem armen Golfstaat zunehmend ein politischer Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten. Konträr dazu ging Muammar al-Gaddafi in Libyen gewaltsam mit Sicherheitskräften gegen die Bevölkerung vor und entfesselte einen achtmonatigen Bürgerkrieg. Der seit über 40 Jahren regierende Diktator konnte erst mithilfe einer militärischen Intervention der NATO von Rebellen gestürzt und getötet werden.

In anderen Ländern führten die Demonstrationen und anschließenden Ereignisse nicht zur Beendigung der repressiven Herrschaft. Die vor allem von der schiitischen Bevölkerungsmehrheit getragenen Proteste in Bahrain gegen das autoritäre sunnitische Königshaus wurden mit Unterstützung der saudischen Armee blutig niedergeschlagen. In Syrien ging Machthaber Baschar al-Assad gewaltsam mit Sicherheitskräften gegen die Protestierenden vor. Nach der Abspaltung von Teilen des Militärs zur Freien Syrischen Armee entwickelte sich schließlich ein Bürgerkrieg. Die Königshäuser in Marokko und Jordanien hingegen stellten politische Reformen in Aussicht. Auch die autoritären Regime in Algerien und im Sudan versprachen den Menschen Neuerungen und Teilhabe. In anderen Ländern wie im Irak, Oman und in Kuwait kam es zu Regierungsumbildungen.

Militärputsch, Islamismus und Bürgerkriege

Nach den Massendemonstrationen machte sich in den Bevölkerungen der Länder schnell Ernüchterung breit. Aus den ersten freien Wahlen in Ägypten ging die radikale Muslimbruderschaft unter Führung von Mohammed Mursi als Sieger hervor, die eine islamistische Verfassung und Transformation der Gesellschaft anstrebte. Viele Menschen protestierten gegen die Maßnahmen der neuen Regierung, woraufhin das im Hintergrund agierende Militär 2013 die Gelegenheit zu einem Putsch nutzte. Ein Jahr später ließ sich General Abd al-Fattah as-Sisi offiziell zum neuen Präsidenten wählen, der seitdem das Land repressiv regiert und damit de facto die politische Linie Mubaraks fortführt. Das Regime in Algerien hob nach den Massenprotesten den langjährigen Ausnahmezustand auf, setzte aber keine in Aussicht gestellten politischen Reformen um. Das Versprechen des Diktators und Kriegsverbrechers Omar al-Bashir im Sudan, bei der nächsten Präsidentschaftswahl 2015 nicht mehr anzutreten, setzte dieser nicht um.

Politische Karte des Nahen Ostens und Nordafrikas (Bild: CIA World Factbook)

Der nach den Protesten entstandene und bis heute fortdauernde Bürgerkrieg in Syrien zeichnete sich von Beginn durch einen starken Einfluss ausländischer Akteure aus. Während Saudi-Arabien die islamistische Opposition unterstützte, förderte der Iran schiitische Rebellen und die Truppen der Assad-Regierung. Der Konflikt drohte mehrfach auf den multikonfessionell geprägten Libanon überzugehen. Im politisch instabilen Nachbarland Irak entwickelte sich von 2014 bis 2017 ein Bürgerkrieg zwischen der schiitischen Regierung und sunnitischen Milizen. Hierbei wurde insbesondere die terroristische und jihadistische Organisation Islamischer Staat zu einer bedeutenden Kriegspartei, die auch in Syrien militärische Eroberungen und Massaker durchführte. Neben nationalen Beteiligten ging ab 2014 auch eine internationale Koalition unter Führung der Vereinigten Staaten gegen die Terrororganisation vor. Ein Jahr später startete der Assad-Verbündete Russland einen bis heute andauernden Militäreinsatz in Syrien, der den Kriegsverlauf entscheidend beeinflusste und den Machterhalt des Regimes sicherte. Beide Bürgerkriege lösten 2015 eine Flüchtlingswelle in Nachbarländer und nach Europa aus, die sich erheblich auf die dortigen politischen Systeme auswirkte.

In Libyen entwickelte sich nach der Tötung von Gaddafi und dem NATO-Rückzug ein Machtvakuum zwischen rivalisierenden bewaffneten Gruppen. Die zunehmende politische Gewalt und Instabilität führten 2014 zur Entstehung eines zweiten, bis heute fortwährenden Bürgerkriegs, in dem sich zwei selbsternannte Regierungen gegenüberstehen. Zeitlich nahezu parallel eroberten im Jemen die schiitischen, vom Iran unterstützten Huthi-Rebellen die Hauptstadt und entfesselten einen primär konfessionell geprägten Bürgerkrieg. Wie in Syrien nahmen in dem bis heute bestehenden Konflikt von Beginn an die Regionalmächte Iran und Saudi-Arabien eine wichtige Rolle als Verbündete der Konfliktparteien ein. Das saudische Königshaus startete 2015 mit Unterstützung der USA eine militärische Intervention aufseiten der jemenitischen Regierung, die durch flächenmäßige Bombardierungen die Zerstörung des Landes und eine humanitäre Katastrophe herbeiführte.

Der Zeitraum nach dem Arabischen Frühling wird aufgrund der Konterrevolutionen durch autoritäre Regime oder der Entstehung langjähriger Bürgerkriege als Arabischer Winter bezeichnet. Sinnbildlich für das Scheitern der Proteste stehen die fortschreitenden Konflikte in den Ländern Syrien, Libyen und Jemen, während der Irak auch nach dem Ende des Bürgerkriegs weiterhin von politischer Gewalt und Instabilität geprägt ist. Schätzungen zufolge starben bis Ende 2019 allein in Syrien und im Jemen mehr als 500.000 bzw. 230.000 Menschen.

Demokratische Reformen und neue Proteste

Zwei Monarchien in der Region versprachen im Zuge der Massenproteste politische Reformen. Der jordanische König Abdullah II. setzte die Regierung ab, leitete eine Neugestaltung des Wahlsystems ein und verkündete mehr politische Freiheiten. In Marokko hingegen wurde eine von König Mohammed VI. in die Wege geleitete neue Verfassung, die eine Stärkung der Position des Premierministers und eine geringere politische Einflussnahme des Monarchen vorsah, in einem Referendum angenommen. Beide Monarchien zählen laut Bericht der Nichtregierungsorganisation Freedom House von 2020 zu den wenigen „teilweise freien“ und damit im Ranking höchstplatzierten arabischen Staaten.

Eine vollumfassende Transformation zur Demokratie nach der Arabellion ist lediglich in Tunesien gelungen. Aus der ersten Parlamentswahl nach der Revolution ging die islamisch-konservative Ennahda als Sieger hervor. Befürchtungen, die neue Regierung könnte wie die Muslimbrüder in Ägypten eine Islamisierung des Landes durchsetzen und die politischen Errungenschaften der Revolution gefährden, bewahrheiteten sich nicht. Stattdessen beteiligte sich die Partei an der Gestaltung einer neuen demokratischen Verfassung, die politische Freiheiten und ein parlamentarisches System etablierte. Dennoch musste die junge Demokratie in den folgenden Jahren einige Krisen überstehen. Hierzu zählten neben der Ermordung des linksorientierten Oppositionsführers im Jahr 2013 zwei Terroranschläge auf die für das Land wichtigen Tourismusgebiete 2015. Das Land stabilisierte sich jedoch und Regierungswechsel, wie zuletzt im Oktober 2019, verlaufen frei und demokratisch. Tunesien, das immer noch mit sozialen Problemen zu kämpfen hat, stellt laut Freedom House das einzige „freie“ Land in der arabischen Welt dar.

Ein Demonstrant im Sudan (Foto: Aladdin Mustafa via pexels.com)

Ab 2018 entwickelten sich in einigen Ländern neue Massenproteste, die auch als zweiter Arabischer Frühling bezeichnet werden. In Jordanien führte ein Generalstreik gegen ein neues Steuergesetz zur Absetzung des Premierministers. Auch im Libanon und Irak, wo die Proteste gegen Korruption und soziale Missstände teilweise noch anhalten, kam es zu Regierungswechseln. In Algerien zwangen die Demonstrierenden den langjährigen Machthaber Abdelaziz Bouteflika zum Rücktritt. Es wurden geringfügige Verfassungsänderungen beschlossen, die 2020 in einem Referendum angenommen, aber von der Demokratiebewegung als unzureichend kritisiert wurden. Die größte Veränderung ereignete sich jedoch im Sudan, wo 2019 eine Revolution gelang. Nach massiven Protesten und Ausschreitungen der Bevölkerung putschte die Armee den seit Jahrzehnten regierenden Herrscher al-Bashir, liberalisierte die zuvor islamistische Rechtsprechung und leitete eine Transition zur Demokratie bis 2022 ein.

Rückschau und Ausblick

Der Arabische Frühling stellt einen historischen Wendepunkt im Nahen Osten und Nordafrika dar. Initiiert von der Selbstentzündung eines tunesischen Gemüsehändlers entwickelten sich in vielen Ländern Massenproteste bis hin zu Revolutionen, die zum Sturz langjähriger autoritärer Herrscher führten. Doch während sich in Tunesien ein demokratisches System etablieren konnte, entstand in Ägypten nach einem Putsch ein neues Militärregime und im Jemen ein politisch-konfessioneller Bürgerkrieg. In Bahrain fand bereits in den Anfängen der Proteste eine militärische Konterrevolution statt, wohingegen sich in Syrien und Libyen sowie später auch im Irak Bürgerkriege entwickelten. Die Monarchen in Jordanien und Marokko stärkten den Parlamentarismus, während das saudische Königshaus bis heute islamistische Gruppierungen in der Region gegen pro-demokratische oder pro-iranische Akteure unterstützt.

Zehn Jahre nach der Arabellion wird ersichtlich, dass sich die Hoffnungen vieler Menschen auf eine Demokratisierung und Verbesserung ihrer Lebenssituation überwiegend nicht erfüllt haben. Vielerorts haben sich politische und religiöse Gewalt sowie Instabilität oder Bürgerkriege als Status quo etabliert. In Syrien, Libyen oder im Jemen sind im Zuge der Dauerkonflikte Städte und Landstriche zum Teil vollkommen zerstört, in anderen Staaten wie im Irak oder Libanon hat die saudisch-iranische Rivalität das politische Klima nachhaltig vergiftet. Bis auf Tunesien sowie in Jordanien und Marokko konnte nach den Massenprotesten keine – mehr oder weniger ausgeprägte – Demokratisierung der politischen Systeme erreicht werden. Die junge Demokratie in Tunesien, das Aufflammen neuer Proteste in den letzten Jahren sowie die Revolution im Sudan zeigen jedoch, dass viele Menschen in der arabischen Welt weiterhin mehr Selbstbestimmung und politische Teilhabe fordern.


Dieser Text stammt aus dem Sicherheitspolitischen Newsletter des Sachgebietes Sicherheitspolitische Arbeit. Diesen können Sie hier abonnieren.
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