Gute Zusammenarbeit kann man nur üben, üben, üben
Auf der Strandpromenade in Travemünde geht es beschaulich zu. Eltern schauen ihren Kindern zu, wie sie das Klettergerüst unmittelbar vor der Nordermole erklimmen. Spaziergängerinnen und Spaziergänger genießen die ersten Sonnenstrahlen. Ein paar von ihnen lassen ihren Hund auf dem Sand laufen. Von der Strandpromenade hört man die Möwen kreischen. Plötzlich zerreißt ein ohrenbetäubender Knall die Idylle.
Rauch steigt auf. Menschen schreien um Hilfe. Sie liegen schwer verletzt im Sand. Einige krümmen sich vor Schmerzen. Es ist das verheerende Ergebnis eines Sprengstoffanschlags. Zum Glück handelt es sich um keinen echten Anschlag. Was dort am Strand von Travemünde geschieht, ist eine bis ins Detail durchchoreografierte Übung der Zivil-Militärischen Zusammenarbeit. Eine Übung, die viel von den Beteiligten abverlangt und gleichzeitig ein paar Schwachpunkte bei der Zusammenarbeit zwischen den Rettungskräften untereinander und auch mit der Bundeswehr während eines Amtshilfe-Einsatzes offenlegt.
Die Übung ist der Abschluss einer hochkarätigen Tagung im Atlantic Grand Hotel. Diese hat Oberstarzt d.R. Dr. Jörg Sandmann unter dem Motto „Medizin in besonderen Lagen und Mee(h)r“ organisiert. Im Mittelpunkt stehen medizinische Fachvorträge, aber auch die Zivil-Militärische Zusammenarbeit (ZMZ). So berichtet der Stellvertretende Kommandeur des Kommandos Sanitätsdienstliche Einsatzunterstützung, Generalarzt Dr. med. Bruno Most, über die ZMZ aus dem Blickwinkel der territorialen Verteidigung. Zudem spricht der Kommandeur Gesundheitseinrichtungen der Bundeswehr und der Stellvertreter des Inspekteurs des Sanitätsdienstes, Generalstabsarzt Dr. Stephan Schoeps, über die aktuelle Lage des Sanitätsdienstes.
Er schaut sich das Geschehen von der Seite an. Über die Übungslage informiert der Leitende, Oberstarzt Matthias Marth, stellvertretender Kommandeur des Kommando Schnelle Einsatzkräfte Sanität (SES), wenige Minuten zuvor alle Beteiligten. Das sind die mehr als 120 Unfalldarstellerinnen und -darsteller vom Kommando SES, darunter auch Reservistinnen und Reservisten. Sie sind neben der Polizei und den Rettungskräften der Deutschen Lebens-Rettungs-Gesellschaft (DLRG), Wasserwacht, Freiwilligen Feuerwehr, Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger (DGzRS) und Reservistinnen sowie Reservisten des Sanitätsdienstes der Bundeswehr die Hauptdarsteller. Oberstarzt Matthias Marth braucht die Teilnehmerinnen und Teilnehmer nicht mehr über das fiktive Szenario zu informieren, das der Übung zugrunde liegt. Es ist ausführlich in einer eigens für die Veranstaltung gedruckten Zeitung nachzulesen.
Diese Zeitung mit dem Titel „Travemünde Today“ berichtet über Cyberangriffe und Sabotagen in der Hafenstadt. Auf der ersten Seite gleich mit erschreckenden Nachrichten: Eine Gruppe maskierter Männer habe in der Nacht eine Brücke gesprengt. Travemünde sei auf dem Landweg von der Außenwelt abgeschnitten, da auch der Bahnverkehr blockiert sei. Zeitgleich habe eine große Cyberattacke durch Hacker die IT-Systeme der Hafenstadt angegriffen. Stadtwerke und Rettungsleitstellen seien so außer Gefecht. Die Wache der Feuerwehr sei ferner durch einen Schützen beschossen worden. Weitere Anschläge auf die Polizei fordern die Einsatzkräfte. Mit weiteren Anschlägen sei zu rechnen. Die Nachrichten der fiktiven Zeitung zeichnen ein düsteres Szenario.
Erfahrungsgewinn in der ZMZ
Es beinhaltet eine militärische Komponente: Der Skandinavienkai, der größte deutsche Fährhafen an der Ostsee, wird für Truppenverlegungen an die NATO-Ostflanke genutzt. Deshalb halten sich laut Übungsszenario Soldatinnen und Soldaten der dritten und fünften Kompanie des Kommandos SES in Travemünde auf. Das Kommando SES wird angesichts der prekären Anschlagssituation um Unterstützung gebeten. Obwohl seine Frauen und Männer einen großen Teil der Übung mittragen und bei der Organisation unterstützt haben, betont Oberstarzt Matthias Marth: „Die Bundeswehr gliedert sich bei Amtshilfe-Einsätzen ein.“ Aus seiner Sicht gehe es bei der Übung primär ums Selbsttraining und darum, wertvolle Erkenntnisse in der Zusammenarbeit mit anderen Organisationen zu sammeln.
„Vanessa, ich bleibe bei dir“, schreit ein Unfalldarsteller. Er hält die Hand einer verletzten jungen Frau. Die Polizei nähert sich mit Gewehren im Anschlag. Die Polizisten, unter ihnen auch welche, die extra für die Übung aus Berlin angereist sind, sichern den Strandabschnitt. Sie schreiten durch das Feld der vom fiktiven Sprengstoffanschlag Verwundeten. Mit einem zweiten fiktiven Anschlag ist jederzeit zu rechnen. Dennoch beginnen die Polizisten, das Chaos zu ordnen. Sie teilen sich auf, sichten die Verletzten und weisen diejenigen Personen, die noch laufen können an, sich an einem bestimmten Punkt zu sammeln. Während sich die Polizisten einen Überblick verschaffen, erreichen die Reservistinnen und Reservisten den Strand. Gemäß Übungslage hat sich der Anschlag auf dem Priwall ereignet. Um dorthin zu gelangen, müssen sie zunächst per Boot übersetzen. Ebenso müssen die Verwundeten über Wasser zu einem Übergabepunkt transportiert werden, damit Rettungskräfte sie anschließend an Land versorgen können. Dies geschieht in einer vom Kommando SES aufgebauten Luftlanderettungsstation, eine Role 1 (Behandlungsebene 1). Auf der Behandlungsebene 1 findet die erste sanitätsdienstliche und notfallmedizinische Versorgung statt.
Da nicht alle Verwundeten gleichzeitig mit dem Boot transportiert werden können, müssen die Rettungskräfte die Patienten nach der Schwere der Verletzung sortieren. Die Polizei teilt die Anschlagsopfer in rot für kritisch, gelb für dringend und grün für nicht dringend ein. Am ersten Übergabepunkt, bevor es mit den Patienten aufs Boot gehen soll, kommen die Reservistinnen und Reservisten sowie Notärzte dazu, um sich um die Verwundeten zu kümmern. Wer ist der Verantwortliche in diesem Abschnitt? Wer kümmert sich um wen? Welche Informationen gibt es über die Patienten zu übermitteln? Das sind die ersten Fragen, die die Beteiligten nun schnell klären müssen.
„Die wissen, was sie tun“
Dr. Stephan Schoeps sieht, wie die Polizei weitere Ordnung in das Chaos bringt. „Die wissen, was sie tun“, sagt der Generalstabsarzt. „Wichtig ist, dass es Übergaben gibt und die Leitung dabei klar ist“, kommentiert er. Der Stellvertreter des Inspekteurs des Sanitätsdienstes der Bundeswehr bleibt jedoch realistisch, als er darauf hinweist, dass in der Realität die Bundeswehr bei einer Lage wie dieser nicht zum Einsatz kommen würde. Das sei eine reine Übungskünstlichkeit, um das Zusammenwirken der einzelnen Rettungskräfte üben zu können. Wäre es tatsächlich zu einem Massenanfall von Verletzten gekommen, wäre die Polizei zusammen mit den zivilen Rettungsorganisationen für den Verwundetentransport und deren Versorgung zuständig.
Dass Zivil-Militärische Übungen wie diese sinnvoll sind, zeigt ein Blick auf die gegenwärtige sicherheitspolitische Lage mit dem Krieg in der Ukraine. Sie führt vor Augen, wie wichtig es ist, lange vernachlässigte Strukturen der Landes- und Bündnisverteidigung wieder aufzubauen. Verteidigung ist aber eine gesamtstaatliche Aufgabe, bei der neben dem Militär den zivilen Rettungskräften eine besondere Rolle zukommt. Im Fall der Fälle müsse auch das zivile Gesundheitswesen Verwundete übernehmen können. Das müsse ausgestaltet werden, sagt Generalstabsarzt Dr. Schoeps. Deshalb übe der Sanitätsdienst der Bundeswehr beispielsweise bereits gemeinsam mit den BG Kliniken (Klinikverbund der gesetzlichen Unfallversicherung).
Der Generalstabsarzt beobachtet ein Boot der Wasserwacht. An Bord sitzen mehrere Patienten, die Opfer einer zweiten Sprengstoffexplosion geworden sind. Die Unfalldarstellerinnen und -darsteller tragen orangene wasserdichte Schutzanzüge. Sie sehen aus wie Michelin-Männchen und gehören zu denjenigen Verwundeten, die zusätzliches „Pech“ haben: Denn das Boot kentert und die Patienten fallen ins Wasser. Wenige Minuten später sind die Seenotretter mit den beiden Seenotrettungsbooten „Hans Ingwersen“ und „Erich Koschubs“ zur Stelle. Sie retten die gekenterten Patienten und hieven sie auf ein Schnellboot, das sie zum Übergabepunkt zur weiteren notärztlichen Versorgung an Land bringt. Gleichzeitig sucht der Seenotrettungskreuzer „Felix Sand“ nach einer bei der Aktion vermissten Person, die ins Wasser gefallen ist.
Die Rettungskräfte bringen die letzten Patienten zur Luftlanderettungsstation, als Dr. Jörg Sandmann laut ruft: „Übungsende!“. Wenige Minuten später sitzen alle Beteiligten im Hotelsaal und üben Manöverkritik. Es gibt viel Lob für die Führungsleistung der Polizei. Wie die Kameraden Struktur gewonnen hätten, sei sehr eindrucksvoll gewesen. Das habe manche kritische Stimme von der Strandpromenade verstummen lassen, schildert Oberstarzt Dr. Matthias Marth. Verbesserungswürdig sei die Kommunikation an den einzelnen Übergabepunkten gewesen, stellen einige Übungsteilnehmer fest.
„Wir würden uns wünschen, dass man sich bei uns anstellt, sich meldet und wir weisen dann ein“, fasst ein Polizist sein Fazit zusammen. „Herzlichen Dank für die schöne Zusammenarbeit. Mit den Booten und den Schiffen lief es hervorragend.“ Das hört der Organisator der Übung, Dr. Jörg Sandmann, gern.