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Abschieben nach Afghanistan?

Ende August – fast auf den Tag genau drei Jahre nach der Machtübernahme der Taliban – hat die Bundesregierung erstmals seit dem Abzug der internationalen Truppen wieder verurteilte afghanische Asylbewerber nach Kabul abgeschoben. Weitere werden womöglich folgen. Dies könnte durchaus auch im Interesse der Taliban-Regierung sein.

Abschiebung von Afghanen am Flughafen Halle-Leipzig im Sommer 2019. Nach der Machtübernahme der Taliban 2021 wurden keine Afghanen mehr aus Deutschland abgeschoben – bis zum 30. August dieses Jahres.

Foto: picture alliance / dpa

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Im Jahr 1995 hatten sich die Taliban in Afghanistan an die Macht gekämpft, im Sommer 2021 taten sie es erneut. Sie etablierten ein „Islamisches Emirat Afghanistan“ in dem Land am Hindukusch, das rund 20 Jahre lang vom Westen vergeblich versucht wurde zu befrieden. Dort ist inzwischen eine neue Generation an Afghanen herangewachsen. Mobiltelefone und Notebooks gehören ebenso zum gesellschaftlichen Alltag wie schon immer der Koran. Geblieben sind allerdings über Jahrhunderte gewachsene Strukturen dieses sich weitgehend auf familiären und Clan-Strukturen gründenden Landes. Westliche Demokratie und entsprechendes Leben funktionierte zwischen 2002 und 2021 nur in der Luxusblase Kabul mit einer korrupten Regierungskaste; auf dem Lande jedoch verfing dies alles nicht.

2021 brach in wenigen Wochen das vom Westen mit militärischer Unterstützung, unter anderem auch der Bundeswehr, mühsam aufgebaute „neue demokratische Afghanistan“ zusammen. Die schon lange perfektionierte Guerillataktik der Taliban feierte mit ihrem Einmarsch in Kabul einen auch medial spektakulären Triumph. Beispielhaft für die westliche Fehleinschätzung stehen in diesem Zusammenhang die Worte eines Bundeswehrgenerals, der über die mit ihrer Taktik erfolgreichen Taliban von „Motorradterroristen“ sprach.

Bilanz fällt düster aus

Seit der Niederlage am Hindukusch behandelt praktisch die ganze Welt die neuen Machthaber in Afghanistan wie Paria. Es gibt keinerlei diplomatische Kontakte, dafür wirtschaftliche und finanzielle Sanktionen. Afghanistan wurde von der Politik, nicht zuletzt auch in Deutschland, ausgegrenzt, wohl auch schlicht vergessen. Man war froh, nach zwei Jahrzehnten aus den Verwicklungen am Hindukusch rausgekommen zu sein. Mit den neuen Machthabern wollte man nichts zu tun haben. Landes- und Bündnisverteidigung stehen jetzt auf der Agenda, der Blick geht in die Ukraine und nach Russland.

Die Bilanz des Ignorierens des Taliban-Regimes fällt im Westen nach drei Jahren allerdings düster aus: Die bisherige Sanktionsstrategie hat nichts bewirkt. Die Rechte der Frauen werden weiter beschnitten. Millionen Afghanen sind durch fehlende Hilfe aus dem Ausland in eine schwere wirtschaftliche und humanitäre Lage geraten. Naturkatastrophen, Dürren und Überschwem-mungen führten zu Hungersnöten und verschärften das Schicksal der Menschen zusätzlich zu den drakonischen Regeln, die ihnen ihre eigene Regierung auferlegt.

Frauen werden im Emirat Afghanistan immer stärker drangsaliert. Höhere Bildung ist ihnen verwehrt. Neuerdings dürfen sie auf der Straße nicht einmal mehr laut sprechen. (Foto: picture alliance / dpa)

Vergrößert wird die wirtschaftliche Not noch durch mehr als eine halbe Million afghanischer Flüchtlinge, die Pakistan nun wieder nach Afghanistan abgeschoben hat. Laut Weltbank lebt die Hälfte der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze. Nach Angaben der Vereinten Nationen können 69 Prozent der Afghanen ihren Lebensunterhalt nicht bestreiten. Das Verbot der Taliban, Schlafmohn anzubauen, hat vielen Afghanen die Lebensgrundlage entzogen. Die Zahl derer, die ihr Land aus wirtschaftlichen Gründen verlassen wollen, wächst. Unter ihnen sind auch immer noch Hunderte Ortskräfte der Bundeswehr.

In dieser Situation wollte die Bundesregierung seit Sommer 2021 keine afghanischen Straftäter und Flüchtlinge ohne Bleibeperspektive in Deutschland nach Afghanistan abschieben. Die Lage sei zu unsicher, Menschenrechte würden missachtet, den Abgeschobenen drohten Folter und Hinrichtung, hieß es lange Zeit. Doch inzwischen hat sich der Wind gedreht.

Kehrtwende in der Migrationspolitik

Am 31. Mai stach ein afghanischer Flüchtling auf dem Mannheimer Marktplatz mit einem Messer auf fünf Männer ein und verletzte dabei einen 29 Jahre alten Polizeibeamten tödlich. Im Bundestag erklärte Kanzler Olaf Scholz (SPD): „Solche Straftäter gehören abgeschoben, auch wenn sie aus Syrien oder Afghanistan stammen. Schwerstkriminelle und terroristische Gefährder haben hier nichts verloren.“ Es war zunächst nur ein verbaler Kurswechsel. Fast drei Monate später sah sich Scholz gezwungen, sinngemäß ähnliche Worte zu finden: Am 23. August ermordete auf einem Stadtfest in Solingen ein 26-jähriger Syrer, der längst hätte abgeschoben werden sollen, drei Menschen mit einem Messer und verletzte acht weitere zum Teil lebensgefährlich. Der Täter wurde festgenommen. Gegen ihn ermittelt der Generalbundesanwalt unter anderem wegen der Mitgliedschaft in der Terrorgruppe „Islamischer Staat“.

Unter dem Eindruck dieser Taten, aber auch der Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen und einer rapide steigenden Unzufriedenheit in der Bevölkerung mit der Migrationspolitik der Ampel-Regierung zeichnete sich in den zurückliegenden Wochen eine Kehrtwende ab. Am 30. August wurden 27 Afghanen ohne Bleiberecht, unter ihnen Straftäter, nach Kabul abgeschoben. Auch wenn diese Abschiebung wohl bereits länger geplant war, so sollte sie in den Tagen nach dem Attentat von Solingen und vor den Landtagswahlen demonstrieren, dass der Regierung das Heft des Handelns noch nicht ganz entglitten ist. Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International kritisierten die Abschiebung als Verstoß gegen die Menschenrechte. Haben sie recht?

Innenministerin Nancy Faeser (SPD) während eines Pressetermins nach dem Anschlag in Solingen. (Foto: picture alliance / dpa)

Die gegenwärtige Situation in Afghanistan gestaltet sich differenzierter als üblicherweise dargestellt. Die Taliban gehen mit äußerster Härte gegen innere Feinde vor. Sie wollen vermeiden, dass ihr Land wieder ein Hort des Terrorismus wird wie vor dem 11. September 2001. Besonders rigide ist ihr Kampf gegen den asiatischen Ableger des „Islamischen Staates“, den sogenannten ISPK (Islamischer Staat Provinz Khorasan), der immer wieder durch schwerste Anschläge den Sicherheitsapparat der Taliban herausfordert. Der ISPK ist ein Todfeind der Taliban. Abgesehen von dieser Konfrontation ist das Gewaltniveau jedoch deutlich geringer als vor 2021. Auf dem Lande ist es weitgehend ruhig. Dies bestätigt der frühere Oberstarzt der Bundeswehr Reinhard Erös, der seit mehr als zwei Jahrzehnten die private „Kinderhilfe Afghanistan“ in Nangrahar im Osten Afghanistan betreibt. „Seit unsere Kinder auf dem Weg zur Schule nicht mehr die Geräusche der US-Helikopter auf der Jagd nach Taliban hören, ist positive Veränderung spürbar.“

Andererseits nehmen seitens der Taliban Restriktionen gegenüber Frauen, besonders im Bildungs- und Berufsleben zu. Es gibt – zumeist in den großen Städten – Einschränkungen gegenüber Medienvertretern und Verfolgung ehemaliger Regierungsmitglieder. Afghanistan ist aber mehr als Kabul oder Masar -e Scharif. Es ist ein ländlich geprägter Staat. Und dessen Bewohner sehen die neuen Machthaber durchaus als Garanten für Sicherheit und Stabilität.

Optionen für Deals

Derzeit gibt es wohl keine Möglichkeit, afghanische Straftäter ohne Bleiberecht aus Deutschland direkt nach Afghanistan abzuschieben. Berlin und Kabul unterhalten keine diplomatischen Kanäle. Die Bundesregierung beharrt darauf, mit den Taliban nicht direkt verhandeln zu wollen. Nur durch die Vermittlung Qatars kam der Abschiebeflug Ende August zustande. Womöglich kommt aber der Wunsch der Taliban, ihre diplomatisch-politische Isolierung zu durchbrechen, weiteren deutschen Abschiebungen entgegen. Das könnte Optionen für Deals in beiderseitigem Interesse eröffnen.

In diese Richtung argumentiert Thomas Ruttig, Mitbegründer des „Afghanistan Analyst Network“ und einer der besten Kenner des Landes: „Die Taliban können sicher keine Straftäter gebrauchen. Aber woran sie interessiert sind, ist diplomatische Anerkennung. Bis jetzt hat sie kein einziges Land als Regierung vollständig diplomatisch anerkannt. Dass sich das ändert, daran arbeiten sie aber, vor allem in der Region. Gespräche mit Vertretern der Bundesregierung über eine Anfrage zur Aufnahme abgeschobener Straftäter würden sie möglicherweise begrüßen“, sagt Ruttig und fügt hinzu: „Es ist nicht so, dass die Taliban nur destruktiv sind, auch wenn das meist berichtet wird. Es gibt auch eine gewisse Zusammenarbeit mit anderen Staaten, zum Beispiel bei der humanitären Hilfe nach Überflutungen. Die Taliban haben auch den Anbau von Schlafmohn weitgehend unterbunden und sind damit einer Forderung der internationalen Gemeinschaft nachgekommen. In bestimmten Bereichen geht man schon auf das Ausland zu.“

Noch am nächsten steht dem Regime in Kabul die Volksrepublik China. Das Foto von September 2023 zeigt Ministerpräsident Mullah Hassan Akhund mit dem chinesischen Botschafter Zhao Sheng. (Foto: picture alliance / AP)

Problemtisch bei möglichen Vorstößen in Richtung Normalisierung der diplomatischen Beziehungen ist die Tatsache, dass die Talibanführung räumlich und politisch getrennt und gespalten ist. Auf der einen Seite steht der Emir Haibatullah Akhundzada als das formale Staatsoberhaupt des Emirats Afghanistan. Akundzadah gilt politisch wie religiös als extremer Hardliner. Er hat seinen Amtssitz längst aus der Hauptstadt Kabul nach Kandahar verlegt, dem religiösen Zentrum des Landes. Der Legende nach wird dort ein Mantel des Propheten Mohammed aufbewahrt. In dieser Stadt wurde der legendäre Gründer der Talibanbewegung, Mullah Omar, geboren. Dort befindet sich momentan das eigentliche Machtzentrum des Taliban-Staates.

Akundzada lebt im Verborgenen, es gibt kaum Fotos von ihm. Umgeben hat er sich mit einer Clique von Hardlinern, die oft religiös wenig gebildet und daher nicht bei allen Taliban angesehen sind. „Dies führt dazu, dass nicht alle Talibanminister die besonders religiösen Dekrete des Akundzadahs und seiner Entourage in Kandahar unterstützen“, sagt Reinhard Erös. Mit dieser Kritik sind vor allem die in Kabul residierenden Minister für Inneres, Verteidigung und Gesundheit gemeint. Sie wollen die rigorosen Verbote für Frauen an Schulen und Universitäten teilweise lockern.

Früher oder später mit den Taliban reden

Während sich in Kandahar die religiöse Machtzentrale des aktuellen Taliban-Staates befindet, liegt der politische Fokus auf Kabul. Dort zählt Innenminister Siradschuddin Haqqani zu den mächtigsten Männern. In den Wirren des Afghanistan-Kriegs ist er zielstrebig aufgestiegen. Er stammt aus dem Haqqani-Clan und stützt sich auf eine eigene Miliz. Wie einflussreich Siradschuddin Haqqani war und womöglich noch ist, zeigt seine Verwicklung in die Planung terroristischer Operationen und die Tatsache, dass das FBI bereits 2008 für Hinweise zur Ergreifung des jetzt amtierenden Innenministers ein Kopfgeld von bis zu zehn Millionen Dollar ausgesetzt hat.

Die Taliban haben den Anbau von Schlafmohn weitgehend unterbunden. Sie sind damit einer Forderung der internationalen Gemeinschaft nachgekommen. (Foto: picture alliance / Anadolu)

Seine derzeitige Position gibt ihm offenbar die Autorität, lockerer mit den Dekreten des Emirs aus Kandahar umzugehen – etwa, was die Beschäftigung von Frauen in seinem Ministerium angeht. Welche Chancen sich aus den Interessenlagen der Taliban und auch aus ihren inneren Widersprüchen für den Westen – nicht zuletzt bei der Abschiebepolitik – ergeben, wird die Zukunft zeigen.

Afghanistan ist jedenfalls nach wie vor ein Land, das von der westlichen Politik und ihren Entscheidungsträgern im Innern nie ganz verstanden worden ist. Wer aber Abschiebungen dorthin will, wird früher oder später mit den Taliban reden müssen. Mantrahaft auf Menschenrechtsverletzungen hinzuweisen, schafft zwar Selbstzufriedenheit in bestimmten Kreisen Deutschlands, hat aber nicht die Verhältnisse insgesamt im Blick. Der Westen sollte im eigenen Interesse nicht wieder den Fehler begehen, Afghanistan falsch einzuschätzen.


Der Autor

Rolf Tophoven ist Direktor des Instituts für Krisenprävention (IFTUS) in Essen. Schwerpunkte seiner Arbeit sind der Nahost-Konflikt und der nationale und internationale Terrorismus.

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