Alarmbereit im Baltikum
Deutsche Eurofighter fliegen von der estnischen Luftwaffenbasis Ämari aus, um den Luftraum über dem Baltikum zu schützen. Bei Alarmstarts steigen sie regelmäßig auf, um russische Flugzeuge zu identifizieren. Ein heikler Job.
Das Wetter ist trüb am Flugplatz in Ämari. Es nieselt, die Wolken hängen tief über dem Startfeld. Oberstleutnant Christoph Hachmeister steht vor den Hangars, in denen die deutschen Eurofighter parken. Der Kontingentführer des deutschen Kontingents beim NATO-Air Policing in Ämari schaut sich um. „Wenn man von hier nicht mehr bis zum Tower sehen kann, ist das ein schlechtes Zeichen“, sagt er. Dann steigt die Alarmrotte bestehend aus zwei Piloten in ihren Kampfjets meistens nicht zu ihren Übungsflügen auf. Die Sicht ist zu schlecht und damit das Risiko zu groß, nicht sicher landen zu können. Zumal heute auch im litauischen Šiauliai und in Riga – den Ausweichflugplätzen – das Wetter nicht besser ist. Normalerweise fliegen die deutschen Piloten mit ihren Eurofightern jeden Tag zwei Übungsflüge von Ämari aus: einen am Vormittag und einen am Nachmittag. Es ist wichtig, dass die Piloten Flugroutine behalten und die Technik reibungslos funktioniert.
Reibungslos funktionieren muss es vor allem im Ernstfall. Der Ernstfall, das ist der sogenannte „Alpha Scramble“, der Alarmstart. Wenn es dazu kommt, haben estnische Radare über der Ostsee in internationalen Gewässern ein Flugobjekt identifiziert, das sie nicht einordnen können: Ist es ein Frachtflugzeug, das auf seinem Weg von St. Petersburg in die russische Enklave Kaliningrad vergessen hat, seinen Transponder einzuschalten? Oder ist es ein russisches Kampfflugzeug, das in feindlicher Absicht gerade dabei ist, in den estnischen Luftraum einzudringen? Im nordrhein-westfälischen Uedem beim „Combined Air Operations Center“ der NATO entscheiden dann Experten, dass jemand nachsehen muss, wer da gerade über der Ostsee fliegt. Der Alarm geht bei den deutschen Piloten in Ämari los. Sie steigen auf, um das unbekannte Flugzeug zu „identifizieren“. Das heißt, sie fotografieren es, notieren Flughöhe und Geschwindigkeit. Die Infos gehen dann auch an die örtlichen Flugbehörden – damit es zu keinen Zusammenstößen mit zivilen Flugzeugen kommt. Hat sich seit dem russischen Einmarsch in der Ukraine letztes Jahr etwas verändert? „Wir sehen in der Luft kein aggressiveres Verhalten der russischen Luftwaffe als bisher“, gibt Hachmeister Entwarnung. Die deutschen Piloten müssen nicht öfter als in den Vorjahren aufsteigen, um russische Flugzeuge im internationalen Luftraum über der Ostsee zu identifizieren. Und die Piloten verhalten sich auch nicht aggressiver oder verletzen öfter den estnischen Luftraum. Warum diese überhaupt mit ausgeschaltetem Transponder oder außerhalb des Flugplans fliegen und die deutschen Piloten mit ihren Eurofightern alarmiert werden müssen? Hachmeister zuckt die Schultern. „Das müssen Sie die Russen fragen“, sagt er. Klar ist: „Auch die russische Seite ist daran interessiert, in der Luft nicht zu eskalieren“.
Dabei ist die Situation im Baltikum durchaus angespannt. Erst vor einigen Tagen verwies die russische Regierung den estnischen Botschafter in Moskau des Landes. Daraufhin wies die estnische Regierung den russischen Botschafter aus. Vordergründig ist dafür ein Streit über die Anzahl der jeweiligen Botschaftsangehörigen der Grund. Doch der Zwist geht viel tiefer: Estland ist einer der größten Unterstützer der Ukraine. Und: Angesichts einer russischen Minderheit von fast 30 Prozent fühlen sich viele Esten bedroht: zumal Estland mit seinen 1,4 Millionen Einwohnern ein kleines Land ist. Die estnische Luftwaffe zum Beispiel ist winzig. Sie besteht aus drei leichten Helikoptern, zwei Jagdflugzeugen für die Ausbildung und zwei kleinen Transportflugzeugen. Nichts, womit die Esten selbst den Luftraum sichern und sich gegen die russische Luftwaffe behaupten könnten. Die Esten sind auf die NATO angewiesen. Hachmeister weiß um die große Verantwortung – und bleibt trotzdem entspannt. Mit einem jovialen „Moin“ betritt er den Kontrollraum neben den Hangars und begrüßt die zwei Piloten in Fliegeroveralls, die gerade Bereitschaft haben. Im Raum stehen etwa ein Dutzend Computer, die unter anderem die aktuellen Wetterdaten anzeigen.
Wenn die Piloten Bereitschaft haben, müssen sie sich 24 Stunden hier – gleich neben ihren Eurofightern – aufhalten. Denn bei einem „Alpha Scramble“ schallt die Sirene durch das Unterkunftsgebäude der Piloten, und diese haben nur 15 Minuten Zeit, um ihre Anti-G-Anzüge anzuziehen, ihre Helme aufzusetzen, in ihre Maschinen zu steigen und auf die Startbahn zu fahren. Wie oft kommt ein Alarmstart vor? Manchmal müssen sie mehrmals am Tag aufsteigen, manchmal kommt der „Alpha Scramble“ eine ganze Woche lang gar nicht vor.
Die beiden Piloten kommen vom Taktischen Luftwaffengeschwader 71 in Wittmund. 140 Soldaten sind neben den Piloten im Moment hier, um die Eurofighter zu warten und den Flugbetrieb sicherzustellen. Viele davon waren schon öfter hier. Die Deutschen haben schon neun Mal von Ämari aus die Luftraumüberwachung über dem Baltikum ausgeführt, seit die NATO diese Aufgabe im Jahr 2014 übernommen hat. Die Abläufe sind eingespielt, jeder weiß, was er zu tun hat.
Und doch hat sich einiges verändert, seit loyal im Jahr 2015 zum letzten Mal in Ämari zu Besuch war. Das wird gleich bei der Einfahrt in den Fliegerhorst deutlich: Der Redakteurin fällt eine Gruppe junger Soldaten auf, die vom Gehweg Richtung Fichtenwald abbiegen. Gekleidet sind sie in Kampfanzügen in Wintertarn-Optik, sie tragen einen vollgepackten Rucksack auf den Schultern. Es sind Wehrpflichtige, die gerade ihre „grüne“ Ausbildung bekommen, also lernen, wie sie ein Biwak bauen und sich im Gelände orientieren können. Ämari ist nicht nur Estlands einziger Militärflugplatz, es ist auch der Ort, an dem das estnische Militär seine Wehrpflichtigen ausbildet. Und davon zieht das Land immer mehr ein. Estland ist eines der wenigen Länder in Europa, das seine Wehrpflicht nie ausgesetzt hat. Alle männlichen Jugendlichen zwischen 18 und 27 Jahren werden gemustert und 3.300 davon jährlich eingezogen. Das ist etwa ein Drittel eines männlichen Jahrgangs. Damit zieht Estland um einiges mehr junge Männer ein als zum Beispiel Schweden, das die Wehrpflicht im Jahr 2017 wieder eingeführt hat. Sie gilt dort für Frauen und Männer. Doch nur etwa zehn Prozent eines Jahrgangs werden in Schweden zu den Streitkräften eingezogen, die Streitkräfte wählen unter den Wehrpflichtigen aus. Auch interessant: In Estland gibt es zwar die Möglichkeit, einen sogenannten Alternativdienst in Krankenhäusern oder Seniorenheimen zu absolvieren, er wird aber sehr selten genutzt. Im Jahr 2020 gab es nur 104 Anträge auf Alternativdienst. Wie groß die Unterstützung für die Wehrpflicht bei den jungen Männern in Estland ist, zeigt auch, dass es bei weitem mehr Interessenten als Plätze für die Wehrpflicht gibt.
Deshalb stößt auch der neueste Vorstoß der Regierung unter Kaja Kallas nicht auf Kritik: Die estnische Regierung plant, die Plätze für den Wehrdienst massiv zu erhöhen – von 3.300 Plätzen heute auf 4.000 Plätze im Jahr 2026. Auch wenn Frauen in Estland nicht der Wehrpflicht unterliegen, dienen viele freiwillig. Der Anteil der Frauen in der Truppe beträgt zehn Prozent und liegt damit nur unwesentlich unter demjenigen in Deutschland, wo er seit Jahren bei 12 Prozent stagniert. Doch mehr Wehrpflichtige bedeuten auch mehr Kosten. Kallas hat auch deshalb das im NATO-Vergleich schon sehr hohe Verteidigungsbudget noch weiter angehoben: Es beträgt in diesem Jahr erstmals über eine Milliarde Euro und damit 2,9 Prozent des Bruttoinlandprodukts. Damit gehört Estland zu den Spitzenreitern bei den Militärausgaben in Europa im Vergleich zur Wirtschaftskraft des Landes. Das Geld fließt vor allem auf die Air Base in Ämari, wo viel gebaut wird. Bagger stehen neben einer Baugrube, wo in ein paar Monaten ein neues Unterkunftsgebäude mehr Platz für neue Wehrpflichtige bieten soll. Erst vor ein paar Monaten wurde die neue Sporthalle ein paar Meter weiter eingeweiht.
Doch nicht nur beim estnischen Militär ist kaum mehr etwas wie vor dem 24. Februar 2022. Auch bei Hachmeister, der selbst den Eurofighter fliegt, und den anderen Piloten vom Taktischen Luftwaffengeschwader 71 in Wittmund hat sich einiges verändert. Sie sind nun viel stärker gefordert. Wenige Tage nach der russischen Invasion in der Ukraine vergangenes Jahr startete Hachmeister und seine Pilotenkollegen im Auftrag der NATO zu bewaffneten Patrouillenflügen nach Polen. Dort flogen sie in Kreisen entlang der polnischen Grenze zu Weißrussland, gleichzeitig die Ostgrenze der NATO. Die Message an die russische Regierung: Das hier ist Bündnisgebiet, und wir werden es gegen jede Aggression verteidigen.
Auch in Rumänien beim sogenannten Air Policing South verdoppelte die deutsche Luftwaffe ihr Engagement. Sie schickte drei weitere Eurofighter inklusive der dazugehörigen Crews und Unterstützungskräfte. Doch: Kann die Luftwaffe das überhaupt leisten? Gibt es überhaupt so viele einsatzbereite Kampfjets? Neben der Luftraumüberwachung im Ausland muss die Luftwaffe ja auch die Alarmrotten in Deutschland stellen. Dazu kommen noch die Ausbildung von Piloten und der Regelbetrieb auf den Fliegerhorsten. Hachmeister ist überzeugt: „Ja, das können wir!“ Während der Eurofighter in den 2010er-Jahren regelmäßig negative Schlagzeilen machte, weil die neu ausgelieferten Jets noch an Kinderkrankheiten litten und oft nur ein Teil der Flotte einsatzfähig war, wird er inzwischen sehr positiv bewertet. Heute können zwischen 75 und 80 Prozent der Eurofighter jederzeit abheben – ein Wert, von dem andere Truppengattungen bei ihrem Gerät nur träumen können. Der Hauptgrund für die positiven Entwicklungen: Ingo Gerhartz, der Inspekteur der Luftwaffe. Er ist in Rüstungsindustrie und Politik so gut vernetzt, dass er es schaffte, dass Inspektionen und Reparaturen tatsächlich nur so lange dauern wie vorgesehen und Ersatzteile tatsächlich vorgehalten werden. Die Zeit schrieb vor Kurzem ein Porträt über Gerhartz mit der Überschrift „Ist das Bruce Willis?“ als Anspielung auf die Glatze und die Macherqualitäten des Inspekteurs. Auch die Techniker, die gerade den Eurofighter im Hangar auf der Air Base Ämari neu betanken und den Bordcomputer nach Fehlern checken, sind voll des Lobes für den Kampfjet, der eigentlich ein fliegender Computer ist. „Ich finde besonders faszinierend, dass man beim Eurofighter einfach eine neue Software aufspielen kann und dann ist es ein völlig anderes Flugzeug“, sagt zum Beispiel Oberfeldwebel Mirko K., der für die Elektronik des Jets zuständig ist. Aufklärung, Kampf gegen Ziele auf der Erde oder der Luftkampf gegen gegnerische Flugzeuge – der Eurofighter kann tatsächlich vieles, wenn man ihn mit der entsprechenden Software bestückt. Das unterscheidet ihn von vielen Kampfjets anderer Nationen. Auch Hachmeister fliegt den Eurofighter gern. „Er ist schnell und sehr wendig“, sagt er. Ein weiterer Vorteil: Auch andere europäische Nationen fliegen den Eurofighter. Etwa die Briten. Im März wird ein britisches Kontingent in Ämari eintreffen, um die Luftraumüberwachung über dem Baltikum von den Deutschen zu übernehmen. Normalerweise ist die Übergabe fließend. Die Deutschen gehen, die Briten kommen. Aber dieses Mal werden Briten und Deutsche einen Monat lang gemeinsam Patrouillen fliegen. Vor allem aber werden zum ersten Mal britische Techniker an deutschen Eurofightern arbeiten und umgekehrt. Ziel ist die sogenannte Interoperabilität, also dass deutsche und britische Eurofightercrews ohne Reibungen miteinander arbeiten können. Die Message nach außen: Wir treten als einheitlicher Block der russischen Bedrohung entgegen. Die Esten beruhigt die Präsenz der Deutschen und anderer NATO-Nationen. „Die NATO ist im Moment die beliebteste Organisation im Land“, sagt Fredi Karu, stellvertretender Stabschef der estnischen Armee. „Wir sind ein kleines Land, das immer wieder in der Geschichte um seine Unabhängigkeit kämpfen musste. Und wir haben sehr bittere Erfahrungen mit den Russen gemacht. Wir brauchen die Unterstützung unserer Bündnispartner“. Neben dem NATO-Air Policing zeigt die Allianz auch mit einer Battlegroup der sogenannten „Enhanced Forward Presence“ Präsenz in Estland. Die Battlegroup steht unter der Führung der Briten und ist etwa 1.700 Soldaten stark.
Die Esten sind nicht nur ein großer Fan der NATO, auch die Solidarität mit der Ukraine ist hier besonders groß. Passanten in der Hauptstadt Tallinn tragen Schleifen in den ukrainischen Farben auf ihren Wintermänteln, von vielen Häuserwänden weht die Flagge der Ukraine. Estland ist das Land, das gemessen an seiner Wirtschaftsleistung am meisten für die Unterstützung der Ukraine ausgibt. Über ein Prozent seines Bruttoinlandsprodukts (BIPs) geht als militärische und zivile Unterstützung an die Ukraine, in Deutschland sind es 0,3 Prozent des BIP. „Wir wissen, genau wie die Ukrainer auch, wie es war, unter sowjetischer Herrschaft zu leben, und wie es ist, für die eigene Unabhängigkeit und Freiheit kämpfen zu müssen“, sagt Fredi Karu. Fast jede estnische Familie zählt ein Mitglied, das während der Sowjetzeit nach Sibirien verschleppt oder vom Sowjetregime getötet wurde. Vor der russischen Botschaft zeigt sich das Mitgefühl für die überfallene Ukraine und die Abscheu gegen den Aggressor Putin am augenscheinlichsten. Vor der Botschaft, die mitten in der historischen Altstadt von Tallinn liegt, haben Passanten Plakate mit der Aufschrift „Ukrainians are fighting for our freedom too!“ (Die Ukrainer kämpfen auch für unsere Freiheit!) oder „Putin is a killer“ aufgehängt. Fotos zeigen Kinder, die bei den Bombardierungen von Kindergärten und Krankenhäusern in der Ukraine getötet wurden. Daneben hängen mit roter Farbe bemalte Puppen und Kuscheltiere. Hier wird besonders deutlich: Die Esten wissen, warum es sich lohnt, wehrhaft zu sein.