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Haiti – ein gescheiterter Staat vor der Implosion

Im ärmsten Land Amerikas regiert seit Monaten die Gewalt – und zwar weitaus schlimmer als die Weltgemeinschaft es aus Haiti gewohnt ist. Die Lage ist außer Kontrolle geraten. Könnte eine UN-Truppe Haiti vor dem völligen Zusammenbruch bewahren? Derzeit findet sich weltweit kein einziges Land, das bereit wäre, Soldaten oder Polizisten nach Haiti zu entsenden. Und die Haitianer selbst wollen offenbar auch keine Intervention von außen.

Bandenführer Jimmy Chérizier (rechts) gestikuliert mit dem Gewehr in der Hand während eines Gesprächs mit Journalisten in Port-au-Prince. Chérizier stellt sich als Mann des Volkes und Feind der Eliten dar.

Foto: picture alliance

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Haiti ist gegenwärtig das gefährlichste Land der westlichen Hemisphäre. Die deutsche Botschaft ist wegen der prekären Sicherheitslage bereits seit Juni vergangenen Jahres geschlossen, Botschafter Peter Sauer hat vor einigen Wochen die Hauptstadt Port-au-Prince verlassen und arbeitet von der benachbarten Dominikanischen Republik aus. Auch die EU und die USA haben ihr Botschaftspersonal aus Haiti abgezogen. Bewaffnete Banden terrorisieren das Land. Zuletzt sind Zehntausende Haitianer aus Port-au-Prince in den etwas ruhigeren Süden des Landes geflohen. Insgesamt sollen dort nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration inzwischen fast 120.000 Binnenflüchtlinge leben – unter katastrophalen Bedingungen.

Eskaliert war die Gewalt im Februar, als bewaffnete Banden Regierungseinrichtungen angriffen, Polizeistationen niederbrannten und den internationalen Flughafen besetzten. Sie stürmten Gefängnisse und befreiten rund 4.000 Insassen. Es gab nach UN-Angaben mehr als 1.500 Tote. Französische Staatsbürger, die Ende März aus dem Chaos evakuiert wurden, sprachen von der Hölle auf Erden.

Sicherheitsbehörden haben kapituliert

Seit 2017 hat es in dem karibischen Staat keine Wahlen mehr gegeben. Proteste und gewaltsame Zusammenstöße zwischen kriminellen Banden sind seit Jahren an der Tagesordnung. 80 Prozent des Stadtgebiets von Port-au-Prince werden inzwischen von ihnen kontrolliert, die Sicherheitsbehörden haben kapituliert. Naturkatastrophen wie Wirbelstürme und Erdbeben haben die prekäre Situation der Menschen in Haiti immer wieder zusätzlich verschärft.

Hintergrund der jüngsten Eskalation ist das Verhalten des bisherigen Interims-Ministerpräsidenten Ariel Henry, der von den USA gestützt wurde und dessen Amtszeit vom völligen Zusammenbruch von Recht und Ordnung in Haiti geprägt ist. Henry war im Juli 2021 von Präsident Moïse eingesetzt worden, der keine 36 Stunden später in seiner Residenz erschossen wurde. Henry soll mit dem Hauptverdächtigen telefoniert haben, weswegen im September 2021 Ermittlungen gegen ihn aufgenommen wurden. Henry entließ daraufhin  den Staatsanwalt und den Justizminister.

Kein Land ist bereit, Truppen zu schicken

Die Amtszeit des Premiers sollte eigentlich Anfang Februar enden, er hatte sich jedoch mit der Opposition darauf verständigt, bis zu Neuwahlen innerhalb von zwölf Monaten weiterzuregieren. Daraufhin schlossen sich bewaffnete Banden unter Führung des ehemaligen Polizisten Jimmy Chérizier, genannt „Barbecue“, zusammen und nutzten eine Auslandsreise Henrys, um die Macht an sich zu reißen. Der 74-jährige Henry hält sich derzeit in Puerto Rico, einem Außengebiet der USA, auf und wird voraussichtlich keine Chance mehr haben, aus dem Exil zurückzukommen. Chérizier hingegen stellt sich als Kämpfer für das Volk dar. Er ist eine zweifelhafte Figur, denn ihm werden Gewalttaten vorgeworfen, unter anderem ein Massaker im November 2018 in La Saline, einem Stadtteil von Port-au-Prince, mit 71 Toten.

Im Oktober 2022 hatte Henry die internationale Gemeinschaft trotz schlechter Erfahrungen seiner Landsleute mit ausländischen Interventionen um Hilfe bei der Lösung der Krise in Haiti gebeten. Kenia hatte sich daraufhin bereiterklärt, 1.000 von den Vereinten Nationen autorisierte Polizisten in den Karibikstaat zu entsenden. Dann jedoch erklärte das höchste Gericht Kenias den geplanten Einsatz der Polizisten für rechtlich nicht zulässig. Derzeit ist kein Land bereit, Polizisten oder Truppen in das Pulverfass zu entsenden.

Letzte Blauhelme 2017 abgezogen

Als nach dem Staatsstreich gegen den damaligen Präsidenten Jean-Bertrand Aristide 2004 Haiti schon einmal im Chaos zu versinken drohte, entsandte der Sicherheitsrat der UN auf Antrag der USA 6.700 Blauhelme, 1.600 Polizisten und 1.700 zivile Helfer nach Haiti. Sie sollten den Frieden wiederherstellen, die Übergangsregierung schützen und bei der Organisation von Neuwahlen helfen. Doch die Haitianer sahen diese MINUSTAH genannte internationale Truppe als Besatzer an. Verfehlungen brasilianischer Blauhelme wie unbotmäßige Gewalt gegen die Bevölkerung und Vergewaltigungen führten rasch zu einer Delegitimierung des UN-Einsatzes. 2010 brach eine Cholera-Epidemie aus, es kam der Verdacht auf, dass der Erreger aus dem Camp nepalesischer Blauhelme stamme. Etwa 600.000 Menschen erkrankten, knapp 10.000 starben. 2016 entschuldigte sich UN-Generalsekretär Ban Ki-Moon für die Tragödie und stellte Reparationen in Aussicht. 2017 verließen nach 13 Jahren die letzten UN-Soldaten Haiti.

Wie geht es nun weiter in Haiti? Die Regierungschefs der karibischen Staatengemeinschaft CARICOM haben sich kürzlich bei einem Treffen in Jamaika auf die Bildung eines Präsidialrats geeinigt, der für eine Übergangszeit die Regierungsgeschäfte übernehmen und Wahlen vorbereiten soll. Wie dieser Rat angesichts der grassierenden Gewalt zustande kommen und arbeiten soll, ist unklar. Bandenführer Chérizier hat den Beschluss der CARICOM bereits abgelehnt. Diese habe nicht das Recht zu entscheiden, wer Haiti führe. Dies stehe allein dem Volk zu, sagte Chérizier haitianischen Medien.

Ohne eine internationale Schutztruppe in dem Land dürfte der Beschluss der Staatengemeinschaft ohnehin reine Theorie bleiben. Die Aussichten für Haiti sind also düster. Das Land gleicht einem dahinrasenden Zug ohne Lokführer und Bremsen. Die drohende humanitäre Katastrophe ist keine Frage mehr von Monaten, sondern von Wochen.

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