Anspruch und Wirklichkeit
Die NATO-Staaten Europas und insbesondere Deutschland wollen ihre Rüstung hochfahren und beschleunigen. Doch zu hohe Erwartungen sollte man nicht haben.
Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine wollen die Europäer zügig ihre Rüstung hochfahren, um ernstzunehmende militärische Schlagkraft aufzubauen. Ein zentraler Akteur dafür ist Deutschland. Doch das Beschaffungswesen der Bundesrepublik war noch nie darauf ausgelegt, konsequent kampffähige Streitkräfte auszustatten. Im Vordergrund steht etwas anderes: ökonomische und fiskalische Effizienz – die Rüstungsmittel sollen passgenau nach den Haushaltsvorgaben ausgegeben werden. Zentraler Prüfer der Rüstungsagenda ist ein Rechnungshof, und nicht etwa eine Institution, die eine effiziente Umsetzung militärischer Fähigkeiten im Blick hat. Was das deutsche Vergaberecht auszeichnet, ist juristische Überprüfbarkeit und die Aufteilung von Rüstungsvorhaben in Kleinstlose für einen maximalen und fairen Wettbewerb.
Die EU fand das einst so überzeugend, dass sie dieses Vergabedesign made in Germany für Europa schrittweise übernahm. Allerdings gilt das deutsche Beschaffungswesen schon länger als ein Ballast für eine zügige Rüstung. Ausnahmen wären nach EU-Recht schon möglich, doch die fallen der hiesigen Beschaffungsbürokratie schwer.
Mit einem „Beschaffungsbeschleunigungsgesetz“ will die Regierung seit Sommer 2022 für mehr Tempo bei der Rüstung sorgen. Unter anderem, indem es die Lossplittung aufhebt und Klagemöglichkeiten einschränkt. Bemerkbar gemacht hat sich das noch nicht. Das hat einen Grund. Für die ungeduldige Öffentlichkeit wird die Ambition Tempo zu machen betont; doch daneben wird gleichzeitig versucht, verstärkt gemeinsam mit Partnern in Europa zu rüsten. Das ist sinnvoll mit Blick auf europäische Wehrkraft, beißt sich aber mit dem Tempo-Anspruch – denn europäisch heißt auch immer Abstimmung und damit Entschleunigung. Bundeswehr-Chefrüster Vizeadmiral Carsten Stawitzki äußerte beim Streitkräfte-Interviewformat „Nachgefragt“ im Juli vergangenen Jahres, er suche mit seinen Kollegen bei den NATO- und EU-Armeen nun stetig nach „Harmonisierungspotenzial“, um gemeinsam ordern zu können. Bis dato zeichnet sich erst ein Vertragswerk in diese Richtung ab: ein Rahmenvertrag zur multilateralen Leopard-2- Beschaffung mit Fokus auf den Partner Niederlande.
Zerfaserte Profile
Denn die Europäer haben ihre Streitkräfteprofile über Jahrzehnte so zerfasert, dass sich Potenziale nur schwer harmonisieren lassen. Deutsche und Niederländer stellten über die Lieferung ihrer Panzerhaubitzen 2000 an die Ukraine fest, dass die Ukrainer im Gefecht nicht einfach deutsche 155-mm-Geschosse in niederländischen Haubitzen nutzen können und umgekehrt. Denn trotz gleichen Kalibers müssen die Granaten im jeweils anderen Feuerleitrechner stets neu kalibriert werden.
Die Panzerhaubitze 2000 ist auch ein ernüchterndes Beispiel dafür, warum selbst Nachbestellungen ewig dauern. Die ersten Haubitzen gingen Ende Juni vergangenen Jahres an die Ukraine. Die Nachbestellung von kümmerlichen zehn Stück erfolgte dann neun (!) Monate später. Der Hintergrund: Die Industrie produziert die Haubitze nur noch als modernisierte Version, auf entsprechende Upgrades verzichtete die Bundeswehr einst aus Kostengründen. Teile der Bundeswehr-Version werden inzwischen nicht mehr produziert. Es dauerte also, bis sich Beschaffungsamt und Industrie handelseinig wurden.
In solchen Fällen würde auch die jüngste Anweisung nicht helfen, mit der Verteidigungsminister Pistorius den Faktor Schnelligkeit ins Rüstsystem pressen will. Laut dem Tagesbefehl zur Beschleunigung des Beschaffungswesens von Ende April gilt Tempo mit Systemen von der Stange am Markt jetzt als einziges Leitkriterium, um Fähigkeitslücken zu schließen.
Wie das mit einer heimischen Wehrindustrie zusammengeht, die über Jahrzehnte auf Entwicklungsprojekte für die Bundeswehr ausgelegt wurde, muss sich noch zeigen. Erste potenzielle Verzögerer formieren sich bereits. Der Bundesverband der Deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie (BDSV) hat Sorge, dass marktverfügbare Lösungen made in Germany übersehen werden könnten. BDSV-Hauptgeschäftsführer Hans Christoph Atzpodien zu loyal: „Wir überlegen derzeit, wie man hier einen Prozess aufsetzen kann, um in den Fällen, wo das Wissen um unsere marktverfügbaren Produkte nicht vorhanden ist, diese Wissenslücke schnellstmöglich zu schließen.“ Das Wehrressort hält das für unnötig. „Die Bundeswehr und hier maßgeblich das Beschaffungsamt hat bereits umfassende Expertise, wenn es darum geht einzuschätzen, welche Produkte seitens der nationalen Industrie marktverfügbar bereitgestellt werden können“, so eine Sprecherin des Verteidigungsministeriums zu loyal.
„Nationale Schlüsseltechnologien“
Allerdings kann die Wehrwirtschaft darauf verweisen, dass die Bundesregierungen seit 2015 zum Erhalt der eigenen Wehrindustrie diverse Rüstbereiche zu „nationalen Schlüsseltechnologien“ erklärt hat, die von der heimischen Industrie zu bedienen sind. Wie geht das mit dem Pistorius-Erlass zusammen? Beispielsweise für den Fall, wenn eine Fähigkeitslücke in die nationalen Schlüsseltechnologien fällt, die heimische Industrie dort aber kein marktverfügbares Produkt liefern kann? Muss dann doch entwickelt werden? Hier reagiert das Verteidigungsministerium ausweichend. Laut Sprecherin sei dies stets eine „Einzelfallentscheidung“ – und zwar nach einer kombinierten Bewertung der Faktoren Zeit, Kosten, Risiko und technologisch-industriellen Auswirkungen. Sicher ist, dass diese Bewertung wieder Zeit in Anspruch nimmt.
Pistorius‘ Beschleunigungsbefehl soll auch die umfassende Berücksichtigung ziviler Standards beenden. Das gilt gerade in der Truppe als Ballast für einfachere Beschaffung. Im Befehl steht: „Wir setzen für die Beschleunigung da an, wo wir uns selbst Regelungen gegeben haben, die uns stärker einschränken oder bremsen, als es die Gesetzeslage vorsieht.“
Beispiel Produktsicherheitsgesetz: Dessen Vorgaben sind entscheidend für das Design von allem, was die Deutschen tagtäglich nutzen, vom Rasierer bis zum Pkw. Laut Paragraf 1 gilt es nicht für „Produkte, die ihrer Bauart nach ausschließlich zur Verwendung für militärische Zwecke bestimmt sind“. Doch via BMVg-Erlass von 2012 gelten die Standards des Produktsicherheitsgesetzes trotzdem für Waffensysteme, so ein Sprecher des Beschaffungsamts in Koblenz gegenüber loyal. Bereits beim Vorgängergesetz von 2004 setzte das Verteidigungsministerium mit einem Erlass die Ausnahmeregelung außer Kraft. Inzwischen wurde der Erlass sogar in die Zentrale Dienstvorschrift „Arbeitsschutz und Prävention“ eingearbeitet. Der Abteilungsleiter Planung im Wehrressort Generalleutnant Gert Nultsch beklagte auf der Fachmesse RÜ.NET 2022 die Aufwände durch das Produktsicherheitsgesetz. Nach seinen Angaben musste die Waffenanlage FLW 200 des Radpanzers Boxer höher gesetzt werden, um den Sicherheitsabstand für aus der Luke schauende Soldaten auf den zivilen Standard zu heben. Die Dienstvorschrift wird jetzt überarbeitet, Ergebnis offen. Da dies im Beteiligungsverfahren mit den Personalvertretern geschieht, wird es dauern.
Exzessive Safety-First-Kultur
Generell gilt, dass die Dominanz ziviler Standards Ausdruck einer ausgeprägten Safety-First-Kultur ist, die sich in der Bundeswehr exzessiv entwickelt hat. Das kommt nicht von ungefähr. Um die Bewaffnung der Armee wird in Politik und Bundestag heftig gestritten. Der einzige gemeinsame Nenner in Deutschlands Streitkräftepolitik ist die Sorge um den Menschen. „Der persönliche Schutz unserer Soldatinnen und Soldaten steht für mich an erster Stelle“ – Diese Formel findet sich so oder leicht abgewandelt in zig Bundeswehr-Reden von Ministern und Abgeordneten. Die einzige Ad-hoc-Beschleunigung einer Beschaffung der Zeitenwende war nicht überraschend die neue persönliche Soldatenausrüstung mit Schutzwesten. Deren Mittel genehmigte der Haushaltsausschuss eiligst noch vor dem Sondervermögen. Es muss sich zeigen, ob auf militärische Erfordernisse ausgerichtetes Gerät schneller beschafft wird, wenn der Verdacht besteht, zivile Standards für Soldaten würden dabei ignoriert.
Ein weiterer zentraler Faktor für schleppende Rüstung, der in der notorisch erregten Debatte meist untergeht, ist die schlichte Tatsache, dass die Bundeswehr häufig nicht weiß, was genau sie beschaffen will. So plant und prüft das Heer weiterhin, mit welchen Systemen es seine „Mittleren Kräfte“ aufzustellen gedenkt. Hier gibt es erst eine Zusammenarbeitserklärung für die Produktion von 100 „Schweren Waffenträgern“ auf Boxer-Basis zwischen Deutschland und Australien. Das Vorhaben der neuen mittleren Kräftekategorie verweist auf ein bleibendes Rüstungsproblem der Bundeswehr sowie der Europäer insgesamt: überschaubare Stückzahlen und damit fehlende Masse führen zu hohen Kosten. Die weitere Untergliederung des Feldheeres in mittlere, schwere und leichte Kräfte führt dazu, dass die Bestellungen der jeweiligen Waffensysteme klein bleiben. So soll ein Teil der Panzergrenadiere künftig mit einem Radpanzer Boxer ausgerüstet werden. Das zweite Los Puma halbierte sich dadurch auf 50 Schützenpanzer.
Beim Aufbau der Mittleren Kräfte sollen nun die Landstreitkräfte der Niederlande helfen, die vollständig ins Heer integriert wurden. Doch wie die Deutschen haben auch die Niederländer zu wenig Kampfbataillone, Artillerie und Logistik, so war in einem NATO-Prüfbericht zu militärischen Fähigkeiten der Niederlande vom vergangenen Jahr zu lesen. Für einen zügigen Aufbau müssten der deutsche und der niederländische Wehretat in den nächsten Jahren entsprechende Heeresprojekte im Gleichklang finanzieren. Ob das passiert, ist fraglich. So steht das niederländische Verteidigungsbudget stark unter dem Druck der kostenintensiven F-35-Beschaffung, die ebenfalls erweitert werden soll, weil von der NATO als zu gering angemahnt.
Polen setzt auf außereuropäische Allianz
Auch die zwei weiteren Hauptmilitärmächte Europas, Großbritannien und Frankreich, bieten keine Stückzahlenrüstung. Beide setzen weiterhin auf Militärkonzeptionen, bei denen die Mittel vor allem in strategische Fähigkeiten wie Atomwaffen und die Seerüstung fließen. Bei den Parlamentsbefragungen zum neuen Streitkräfte-Planungsgesetz Frankreichs bis 2030 machte Verteidigungsminister Lecornu deutlich, dass die wahre Ostflanke Frankreichs der Indopazifik ist, und somit auch Schwerpunkt der Rüstung. Von Großbritanniens Beschaffungsprogramm zum Boxer von 600 Stück diverser Versionen wird in der deutschen Wehrindustrie gerne geschwärmt. Doch dies dürfte ein Einzelfall bleiben. Trotz Ukraine-Krieg hält Großbritannien an der angelaufenen Verkleinerung seines Heeres fest. Große Beschaffungszahlen in der Breite bietet bislang nur Polen. Und das kauft US-amerikanisch und setzt inzwischen auf eine außereuropäische Allianz mit Südkorea bei der Weiterentwicklung seiner Rüstung. Auf deutscher Seite sind selbst neue und kommende Rahmenverträge überschaubar. So sieht ein Abkommen vom März für weitere Panzerhaubitzen 2000 maximal 18 Stück vor. Ein multilateraler Rahmenvertrag für den Leopard-2, den Deutschland zurzeit verhandelt, ist mit 123 Panzern ebenfalls begrenzt. Allein das deutsche Heer wollte in der vergangenen Legislatur 80 Leopard-2 als Umlaufreserve.
Die Streitkräfte von Europas Wirtschaftsmacht Nr. 1 bleiben bis jetzt unterfinanziert. Eine schlagkräftige Bundeswehr ist mit dem bisherigen Ansatz nicht aufzubauen. Allein der Munitionsbedarf ist auf 20 Milliarden Euro eskaliert. Dabei sieht der Wehretat zurzeit nur zehn Milliarden Euro für alle Rüstungsinvestitionen insgesamt vor. Ob und wie der Einzelplan 14 ausgebaut wird, ist unklar. Die üblichen Eckwerte zum Haushalt für 2024 blieben aus. Die Ampelkoalition ringt zäh um den Erhalt von Prestigevorhaben der beteiligten Parteien in den Etats, während Finanzminister Christian Lindner (FDP) seine Linie zur Einhaltung der Schuldenbremse verteidigt.
Strategische Rüstung so nicht machbar
Klar ist, dass strategische Rüstung mit dem bisherigen Vorgehen nicht machbar ist. Stattdessen gibt es beim Ausbau der Produktionskapazitäten ein Katz- und Mausspiel zwischen Politik und Industrie. So fordert Rheinmetall-Chef Armin Papperger trotz bestens gefüllter Auftragsbücher staatliche Investitionen für eine geplante Pulverfabrik des Konzerns in Sachsen. Ein Sprecher von Rheinmetall dazu gegenüber loyal: „Aus rein betriebswirtschaftlicher Sicht wäre eine solche Investition in Höhe von 700 bis 800 Millionen Euro nicht darstellbar. Eine solche würde erst nach vielen Jahren, wenn nicht Jahrzehnten, einen positiven Return on Invest erbringen.“ Der Konzern verweist darauf, dass der Aufbau einer Pulverfabrikation Teil einer nachhaltigen nationalen Sicherheitsvorsorge wäre, wie sie im Zuge der Zeitenwende postuliert wurde.
Auch die Stahl-Holding-Saar äußert sich zurückhaltend. Deren Dillinger-Hütte ist für Panzerstahl zertifiziert. Es gibt Gespräche mit KMW und Rheinmetall zu dessen Lieferung. Doch der Konzern geht von keiner signifikanten Erhöhung der Liefermenge für Verteidigungsprojekte aus, so ein Sprecher zu loyal. Für die Stahlkocher ist eine andere Wende wichtiger. Ausgebaut wird die Produktion von Blechen für Offshore-Windanlagen der Energiewende.