Böser Araber gegen guten Amerikaner
Bis 2023 werden weltweit drei Milliarden Menschen regelmäßig Videogames spielen. Auch anderen beim Zocken zuzuschauen boomt: Allein in den USA sehen sich monatlich 40 Millionen Menschen Liveübertragungen auf der Onlineplattform Twitch an. Doch manche Spiele kommen mit einer toxischen Beigabe: Ganz nebenbei werden den Spielenden Feindbilder untergejubelt, die im Widerspruch zu demokratischen Werten stehen.
Die Zeiten, in denen der Nachwuchs genügsam auf dem Game Boy Tetris spielte, sind vorbei. Für Branchenfremde kaum vorstellbar: Inzwischen macht die Gaming-Branche mehr Umsätze als Hollywood und die Musikindustrie zusammen. Weltweit wurden im Jahr 2020 knapp 175 Milliarden US-Dollar umgesetzt. Dazu zählen Handyspiele, auf denen bunte Punkte verbunden werden müssen, genauso wie Konsolen- und Computerspiele. Es gibt Lern-Games und sogenannte Plattformer, in denen man vorallem präzise springen muss, dazu Strategiespiele und auch Ego-Shooter. Meist gilt die Devise „Gut gegen Böse“. Und hier wird es problematisch, denn: Wenn der Gegner nicht gerade Außerirdischer oder Zombie ist, kommt er oft aus fiktiven osteuropäisch oder arabisch klingenden Ländern, sagt Holger Pötzsch. Er lehrt Medienstudien an der Arctic University im norwegischen Tromsö. Die Helden seien oft männliche US-Amerikaner, die gegen Araber oder Russen kämpfen. Manchmal werden in den Spielen auch populistische Feindbilder wie das der korrupten Elite dargestellt. Wie im Shooter „Tom Clancy’s The Division 2“. Das Spiel kam 2019 auf den Markt und wurde von Millionen Amerikanern gespielt.
Manouchehr Shamsrizi, Gaming-Experte der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, fasst die Handlung zusammen: „Im Spiel gab es einen terroristischen Anschlag in den USA mit Biowaffen, der eine Pandemie zur Folge hat, woraufhin die öffentliche Ordnung zusammenbricht. Der Spieler findet heraus, dass bei dem Anschlag auch Regierungskreise beteiligt waren. Er muss dann gegen die eigene Regierung kämpfen, um das Land zu retten.“ Schockierende Parallele: Im Januar 2021 folgte der reale Sturm aufs Kapitol. Natürlich sei das Spiel dafür nicht verantwortlich zu machen, sagt Shamsrizi. „Aber wenn man solche Szenarien immer wieder durchspielt, erhöht das möglicherweise die Bereitschaft, sie in der Realität als gerechtfertigt wahrzunehmen.“
Wie sehr prägen Videospiele unsere Feindbilder?
Genauso wie Kinofilme, Serien, Aussagen von Politikern oder Zeitungs-Headlines, sagt Eugen Pfister, Leiter des Projekts „Horror-Game-Politics“ an der Hochschule der Künste Bern. Wenn Terroristen immer wieder arabisch oder russisch aussehen, trage es dazu bei, die Grenzen des Sagbaren zu verschieben. Rassistische Sprüche etwa könnten leichter gebracht werden, weil Zuhörer sich weniger darüber aufregten. „Wenn wir etwas immer und immer wieder sehen oder hören, setzt es sich unbewusst bei uns fest“, sagt Pfister. Außer rassistischen Vorurteilen kann das auch den Umgang mit Menschenrechten betreffen. Etwa, was den Einsatz von Folter angeht. „In Spielen wird das immer wieder als letzte Möglichkeit inszeniert, womit man die gute Seite noch vor einem bösen, hinterhältigen Angriff retten kann.“
„Das sind diese Normalisierungsprozesse: Folter ist plötzlich etwas, worüber man nachdenken kann“, erklärt der Gaming-Experte. Prozesse, die besonders beim Spielen wirken: Denn hier handelt der User selbst. Anders als beim Lesen oder Hören von Informationen bleibt beim Selbermachen am meisten hängen. Und bei manchen Spielen lautet die gefährliche Botschaft: Faschismus ist eine total effiziente Staatsform, weil man sich da nicht mit lästigen demokratischen Entscheidungsprozessen rumschlagen muss. „Solche Weltbilder jubeln einem nicht nur Ego-Shooter unter – auch Simulationsspiele wie „Civilisation“ oder „Anno“, sagt Manouchehr Shamsrizi. „Da gibt es Spielmechaniken, bei denen man mit einem Mausklick das politische System ändern kann. Bei Unruhen oder Ernteausfällen kann man einfach von Demokratie zu Faschismus, Kommunismus oder anderen totalitären Systemen wechseln. Dann sind Aufstände kein großes Ärgernis mehr. Und wenn der Krieg gewonnen ist, kann man zurückwechseln auf Demokratie.“
Ein anderes Beispiel aus „Anno 1800“: Dem Spieler wird in seiner Rolle als Herrscher die Zeitung des kommenden Tages vorgelegt. Kritische Artikel kann er dann für eine Geldzahlung an die Redaktion verhindern. „Das politische Narrativ, das vermittelt wird, lautet: Die da oben kaufen sich ihre Presse, und Staatsformen sind einfach hin- und herzuwechseln. Wenn manche Spieler diese Botschaft mitnehmen, ohne dass es kritisch diskutiert wird, ist das eine Katastrophe“, sagt Shamsrizi.
„Entwickler greifen auf das zurück, was am besten funktioniert“
Die meisten Spieleentwickler machten nicht bewusst Politik oder wollten bestimmte Ideologien durchsetzen, ist Eugen Pfister überzeugt. „Die greifen einfach auf das zurück, von dem sie glauben, dass es gerade am besten funktioniert.“ Viele Gamer hätten ein unterschwelliges Weltbild, das Terroristen oft Muslime seien. „Spiele sollen sich schließlich gut verkaufen, deswegen greifen die Entwickler auf die Erwartungen des Publikums zurück und auf das, was schon erfolgreich ist.“ Manchmal nutzen Staaten allerdings Videospiele auch ganz gezielt, um ihre Botschaften zu verbreiten. So finanzierte der Kommunistische Jugendverband Chinas im Jahr 2005 das Spiel „Anti-Japan War Online“, um japanische Feindbilder zu festigen. Im Spiel „Genshin“ wurden politisch aufgeladene Namen wie Hongkong, Taiwan oder Falun Gong zensiert, berichtet der Analyst Shamsrizi.
Für Holger Pötzsch ist noch ein weiterer Aspekt problematisch, etwa beim Spiel „Medal of Honor“ von 2010: „Wenn man da als amerikanischer Soldat durch Afghanistan läuft, ist man von Gegnern umgeben, die ausrüstungs- und trainingsmäßig gleichwertig sind. Das ist aber in Wirklichkeit nicht der Fall.“ Auch werden Feinde der Spieler oft als sadistisch und grundlos böse dargestellt. Als Problemlösung ist nur der Kampf zugelassen. Weder Verhandlung noch Flucht oder Kapitulation sind mögliche Alternativen. Dass es auch anders geht, zeige das Game „Spec Ops – The Line“. Nachdem man als Spieler mit einer Drohne viele Soldaten und Zivilisten angegriffen hat, muss man langsam zwischen schreienden Verletzten durchgehen. „Das tut richtig weh. Da geht es darum zu sehen, was man angerichtet hat“, sagt Pötzsch. Krieg wird hier nicht glorifiziert, sondern so schrecklich gezeigt, wie er ist.
Was muss passieren, um Vorurteile zu vermeiden?
Computerspiele müssten besser in den Medien besprochen werden – da sind sich die drei Gaming-Experten einig. Lange galten Videospiele für Medienschaffende als „Kinderspielzeug“, über das man nicht berichten sollte. Das verändert sich langsam. Manouchehr Shamsrizi fordert noch mehr kritische Reflexion: „Wenn in einem Hollywoodfilm die Presse als korrupt dargestellt wird, wird darüber im Feuilleton diskutiert. Bei Games fällt das weg, dabei ist Gaming das meistgenutzte Kulturmedium unserer Zeit. Dennoch hat es kaum selbstkritische Infrastruktur aufgebaut wie Literatur, Theater oder Musik.“
Holger Pötzsch fordert für Computerspiele außerdem staatliche Kulturförderung, wie es sie auch für die Filmbranche gibt. So sollten Spiele mit demokratischer Botschaft gefördert werden, die nicht nur im Gut-Böse-Schema verharren, sondern die komplexe Wirklichkeit widerspiegeln. Bei manchen Spielen gibt es heute schon mehr als das: eine Art moralischen Zeigefinger, was richtig und was falsch ist. „Serious Games“ werden solche Spiele genannt, auch das Auswärtige Amt hat schon eines finanziert. Im Spiel „Path-ways“ etwa soll der User die Vorzüge der Europäischen Union entdecken. Er reist dabei durch Europa und profitiert von Meinungsfreiheit und offenen Grenzen.
Manouchehr Shamsrizi geht das nicht weit genug – zum einen, weil Serious Games oft kaum gespielt würden. Zum anderen, weil Spieler trotzdem weiter Top-Seller-Ego-Shooter nutzten. Stattdessen sollten sich Mitarbeiter etwa des Auswärtigen Amtes mit den Spielern direkt unterhalten, etwa auf Online-Plattformen wie Twitch oder Discord. „Das wäre auch eine passende Aufgabe für Jugendoffiziere, sich dort in die Debatte einzumischen und zum Beispiel bei einem Ego-Shooter zu kommentieren: ,Das ist ein cooles Spiel, das ich auch gern spiele! Mir ist aber aufgefallen: Der Charakter in dem Spiel XY ist schon ein bisschen stereotyp, und Handlung Z, das Schießen auf Zivilisten, entspricht nicht den Regeln des humanitären Völkerrechts, dem wir als Bundeswehr verpflichtet sind.‘“
Manouchehr Shamsrizi fordert außerdem Außen- und Sicherheitspolitiker auf, die Gaming-Branche besser zu analysieren: Mit Blick auf vermittelte politische Botschaften genauso wie auf Firmenübernahmen. So plante das chinesische Internetunternehmen Tencent 2021 nach Informationen der Bild-Zeitung die Übernahme der deutschen Spielefirma Crytek („FarCry“, „Crysis“). Das Problem: Laut Bild nutzen die US-Armee, die Bundeswehr und mehrere Rüstungsunternehmen Crytek-Software für Militärsimulationen und Ausbildung. Analysten befürchten, dass auch die chinesische Regierung mit dem Programm ihre Armee trainieren könnte. China könnte auch ausspähen, wie deutsche und amerikanische Streitkräfte trainieren. „Es reicht nicht nur, darauf zu achten, welche Maschinenbauer in Deutschland Dual-Use-Technik produzieren, die auch zur Kriegsführung eingesetzt werden kann. Die Bundesregierung muss auch Game-Studios im Fokus haben“, fordert Shamsrizi.
Und die Eltern?
„Eltern sollten ihren Kindern Kriegsspiele nicht verbieten – sie sollten stattdessen daran teilnehmen, neugierig sein und versuchen zu verstehen, warum das Spiel für ihr Kind so wichtig ist“, sagt Holger Pötzsch von der Arctic University. „Und nicht mit der moralischen Keule kommen und sagen: Oh, da wird ja gerade einer umgebracht.“ Dabei helfe es, wenn die Playstation statt im Kinderzimmer im Wohnzimmer stehe.
Eugen Pfister von der Hochschule der Künste Bern warnt vor „alten Fallen“. Er sagt: „Der Vorwurf, Gaming mache gewalttätig und kriminell, gab es für jedes neue Medium. Vom Kinofilm über Comics bis hin zur Novelle im 19. Jahrhundert. Damals haben Kritiker gewarnt, Novellen seien hochgradig gefährlich, weil jetzt alle jungen Frauen den Kontakt zur Realität verlieren würden. Ich rate bei Games zu mehr Gelassenheit.“
Die Autorin
Julia Weigelt ist Fachjournalistin für Sicherheitspolitik in Hamburg.