Chinas Politik gegenüber Taiwan wird kriegerischer
In einem neuen „Weißbuch“ erklärt die Führung der Volksrepublik, dass sie sich vorbehält, „alle notwendigen Maßnahmen“ zu ergreifen, um die Vereinigung mit der Inselrepublik zu erzwingen. Gemeint sind damit auch militärische Mittel.
Es ist 22 Jahre her, seit die Volksrepublik China ein „Weißbuch“ zu seiner Politik gegenüber Taiwan veröffentlicht hat. Ganz ausgeschlossen war darin eine gewaltsame Lösung der Taiwan-Frage nicht, aber eine explizit gewaltsame Lösung sah die bisherige Linie auch nicht vor. Das hat sich nun geändert. Kurz vor dem Parteitag der Kommunistischen Partei im Oktober ließ Staats- und Parteichef Xi Jinping vom Taiwan-Büro der Regierung ein neues „Weißbuch“ veröffentlichen, das – wie es heißt – „keinen Raum für separatistische Aktivitäten jeglicher Art“ zulässt. Was genau das bedeuten kann, ist Auslegungssache.
Xi, der seine Macht auf dem Parteitag mit einer bislang nicht möglichen dritten Amtszeit zementiert hat, ist unter Druck. Seine desaströse Coronapolitik hat zu einem für das Land beispiellosen Wirtschaftseinbruch geführt – vier Prozent Wachstum sind der niedrigste Wert seit zwei Jahrzehnten. In der Wirtschaftsregion Shanghai ging die Wirtschaft wegen der maßlosen Lockdowns im zweiten Quartal 2022 sogar regelrecht in die Knie: ein Minus von 14 Prozent gegenüber dem Vergleichszeitraum im Jahr zuvor. Jeder fünfte Chinese zwischen 16 und 24 Jahren ist arbeitslos, dabei hatte die KP Chinas erst im vergangenen Jahr zu ihrem 100. Gründungstag den Sieg über die Armut verkündet. In der Mittelschicht brodelt es; der weitreichende Überwachungsstaat und das allumfassende Zensurregime werden nicht von jedem gutgeheißen. Die idyllische Zukunftsvision, die die Partei in Peking präsentierte, wirkt nicht überzeugend. In einer solchen Situation muss der diktatorisch regierende Staats- und Parteichef außenpolitisch auftrumpfen, um von den Kratzern seiner bisherigen Regentschaft abzulenken. Drohgebärden gegenüber Taiwan bieten sich dafür an.
Absurder Führerkult
Der Zeitpunkt zur Veröffentlichung des „Weißbuchs“ kurz vor dem Parteitag war daher geschickt gewählt, konnten die 2.300 Delegierten doch darin blättern und sich ein Bild machen, wie Xi sich inzwischen in der Taiwan-Frage positioniert. Seine Gedanken haben in China Verfassungsrang, schon Schulkinder müssen seine Reden studieren. Was Xi sagt, ist in China Gesetz. Es herrscht ein absurder Führerkult. Kritiker sprechen bereits davon, dass China auf dem Weg sei, Xina zu werden – ein durch und durch von Xi beherrschter Staat, die größte real existierende Dystopie der Welt.
Xi will die Vereinigung mit Taiwan. Von einer Wiedervereinigung zu sprechen, wie die Kommunistische Partei es tut, wäre falsch, denn Taiwan war nie Teil der Volksrepublik. Die westlich orientierte prosperierende Demokratie vor der Küste des Riesenreichs ist Peking seit jeher ein Dorn im Auge. In Zeiten der innenpolitischen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten will Xi nun offenkundig die Zügel gegenüber Taiwan anziehen.
Taiwan verhält sich geschickt
So heißt es im „Weißbuch“, die Volksrepublik könne sich gezwungen sehen, „drastische Maßnahmen zu ergreifen, um auf die Provokation separatistischer Elemente oder äußerer Kräfte zu reagieren, wenn sie je unsere roten Linien überschreiten sollten“. Wobei allein Peking definiert, was diese roten Linien sind. Die taiwanesische Regierung zumindest verhält sich seit Jahrzehnten geschickt, indem sie beispielsweise nicht die förmliche Unabhängigkeit erklärt, was für Peking ansonsten zweifellos einen Kriegsgrund darstellen würde.
Für den Fall einer Vereinigung mit der Volksrepublik stellt das Weißbuch Taiwan wirtschaftlichen Wohlstand in Aussicht. Außerdem komme die Insel dann in den Genuss „größerer Sicherheit und Würde“. Die 23,5 Millionen Einwohner Taiwans fallen auf solcherlei Schalmeiengesänge nicht herein; in der taiwanesischen Gesellschaft gibt es keine Gruppierung, die sich eine Vereinigung mit Peking auf die Fahnen geschrieben hätte.
Die Volksrepublik belässt es nicht mit theoretischen Überlegungen zu einer Annexion Taiwans. Im August hatte Peking hysterisch auf den Besuch der Sprecherin des amerikanischen Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, in Taipeh regiert: Peking setzte seine Militärmaschinerie in Gang und hielt eine Woche lang haarscharf am taiwanesischen Hoheitsgebiet provozierende Manöver ab. Damit unterstrich Xis Regime anschaulich, was im „Weißbuch“ als Möglichkeit genannt wird: Die Anwendung von militärischer Gewalt. Sie ist für Peking „unter zwingenden Umständen“ der „letzte Ausweg“.