Dieser Tage gab es in Berlin die Präsentation eines bemerkenswerten Dokumentarfilms. In „Heller Weg“ der ukrainisch-deutschen Filmemacherin Iryna Riabenka berichtet der Journalist und Schriftsteller Stanislav Aseyev von seinem zweieinhalbjährigen Aufenthalt in der Hölle eines Foltergefängnisses in der abtrünnigen prorussischen „Volksrepublik Donezk“ in der Ost-Ukraine. Er wurde in dieser irregulären Haftanstalt mitten in seiner Heimatstadt Donezk inhaftiert und jahrelang aufs Schwerste gefoltert. Sein „Vergehen“: Er hatte für ukrainische Medien über die Situation in den Separatistengebieten unzensiert berichtet. Der Film ist das erschütternde Dokument eines Versagens der internationalen Staatengemeinschaft, die es hinnimmt, dass die von Russland unterstützten Separatisten im Donbas seit 2014 fortwährend das Völkerrecht brechen und die Menschenrechte mit Füßen treten.
Der russische Präsident Putin, der im selben Jahr die Halbinsel Krim annektiert hatte, fährt den Konflikt um die Ukraine nach Gutdünken hoch und runter. Im Frühjahr ließ er zehntausende russische Soldaten aus Sibirien nach Woronesch an die ukrainische Grenze verlegen. Die NATO rätselte, was Putin damit bezweckt. Die Soldaten wurden wieder abgezogen, doch ihr Gerät ließ die 41. Gardepanzerarmee zurück, darunter Panzer, Raketenwerfer, Flugabwehrgeschütze. Im Oktober wurden diese Waffen plötzlich nach Jelnja an die Nordgrenze der Ukraine verlegt, unweit auch der Grenze zu Weißrussland. Inzwischen hat Putin wieder Truppen in die Nähe des Nachbarlands beordert. 115.000 sollen es aktuell sein, davon 80.000 Mann Kampftruppen.
Ukraine modelliert Angriffsszenarien
Bei ihrem jüngsten Außenministertreffen in der lettischen Hauptstadt Riga war die russische Aggression das herausragende Thema. In ukrainischen Militärkreisen hält man einen russischen Angriff von drei Seiten im Januar oder Februar 2022 auf das eigene Territorium für möglich: Von Norden, aus Weißrussland kommend, von Osten und von Süden, von der Krim. Doch für eine solche Aktion ist die Truppenstärke der Russen nach Analysen der NATO zu gering. Es müssten Tag für Tag weitere Soldaten in mehrfacher Bataillonsstärke in die Bereitstellungsräume verlegt werden. Davon sehen die Spionagesatelliten der NATO derzeit nichts. Die Unsicherheit bleibt.
Der Ukraine wurde 2008 ein Beitritt zur NATO zugesagt – ein Versprechen, das das Bündnis bis heute nicht eingelöst hat. Die Ukraine hat als einziges Land der Welt seine Atomwaffen abgegeben – und wurde danach zum Opfer des aggressiven russischen Nachbarn. Der Westen sah zu. Obwohl sie im Stich gelassen wurde, hat sich die Ukraine in den vergangenen Jahren mit Siebenmeilenstiefeln innerlich auf den Weg nach Westen gemacht. Sie sieht sich als Teil der westlichen Kultur und ihres Wertesystems und Russland als Bedrohung. Tatsächlich hat Russland 2014 durch die Annexion der Krim und die Unterstützung der prorussischen Separatisten gezeigt, was es von einer souveränen Ukraine hält: nichts. Im vergangenen Sommer hatte Putin höchstpersönlich in einem Aufsatz „Über die historische Einheit von Russen und Ukrainern“ fabuliert und dem Westen vorgeworfen, er betreibe in der Ukraine eine Art Gehirnwäsche, indem er die Ukrainer zu einem Identitätswechsel zwinge. Das ist Propaganda, wie sie im Buche steht: Tatsachen verdrehen, lügen, anderen die Schuld zuschieben. Wer heute durch die Ukraine reist, stellt fest, dass hier eine Nation erwacht, die ihre Identität sucht – aber keinesfalls in einer Art regionalen Russentums, sondern im Gegenteil in strikter Trennung von diesen.
Stärke zeigen oder besänftigen?
Der NATO-Gipfel in Riga hat gezeigt, in welchem Dilemma die Allianz angesichts der Spannungen um die Ukraine steht. Sie muss einerseits Stärke gegenüber den unverhohlenen Ansprüchen Putins auf das Nachbarland zeigen, darf aber andererseits nicht zu weit gehen, um Putin nicht genau den Grund zu liefern, den er für einen Angriff auf die Ukraine sucht. Es ist das klassische Dilemma, vor denen Demokratien im Angesicht von Diktatoren und Autokraten stehen, die willens sind, auch Gewalt einzusetzen, um ihre Ziele zu erreichen. Ein Dilemma zwischen militärischer Stärke (und der Gefahr der Eskalation) und politischem Appeasement (mit der Gefahr des moralischen Versagens).
Deutlich ist in Riga geworden, dass zumindest die Sprache der NATO gegenüber Putin an Schärfe zugenommen hat. Was US-Außenminister Blinken und NATO-Generalsekretär Stoltenberg in Richtung Kreml adressierten, war das Deutlichste, was man seit Jahren aus dem Bündnis gehört hat. Eine russische Aggression würde schwere Konsequenzen nach sich ziehen, hieß es. Putin wiederum konterte, er wolle Garantien, dass die NATO sich nicht weiter nach Osten ausdehne, also die Ukraine als Mitglied aufnehme. Rhetorisch hat der Konflikt damit eine seit 2014 nicht mehr gesehene Heftigkeit erreicht. Doch was geschieht auf der Ebene des Handelns?
Artikel 5 gilt hier nicht
Es gilt als ausgeschlossen, dass die NATO direkt militärisch in einen kommenden Krieg zwischen Russland und der Ukraine eingreift. Sie ist eben kein NATO-Mitglied, also gilt auch die Beistandsklausel des Artikels 5 des Nordatlantikvertrags nicht. Waffen bekommt Kyjiw bislang bilateral von den Amerikanern: zuletzt zwei Patrouillenboote für die Küstenwache und panzerbrechende Bazookas, deren Einsatz Washington den Ukrainern nunmehr auch an der „Kontaktlinie“ genannten Front im Donbas erlaubt hat. Der nächste Schritt auf der Eskalationsleiter wären gemeinschaftliche Waffenlieferungen an die Ukraine über die Rüstungsagentur der NATO.
Bei besagter Filmpräsentation in Berlin wurde in der anschließenden Podiumsdiskussion der einzig vertretene Bundestagsabgeordnete, Robin Wagener von den Grünen, nach den weiteren deutschen Maßnahmen zur Unterstützung der Ukraine gefragt. Deutsche Waffenlieferungen waren für ihn kein Thema. Sein Parteichef Robert Habeck hatte das im Frühjahr nach einem Besuch an der Front im Donbas noch anders gesehen. Dieser Tage wird eine Grüne Außenministerin. Annalena Baerbock hatte sich im Bundestagswahlkampf kritisch zu Putin geäußert.