Der Kriegserklärer
Der österreichische Offizier Markus Reisner ist gefragt: In den Medien, auf Diskussionspodien. Überall erklärt er den Ukraine-Krieg. Warum reißen sich alle um Oberst Reisner, der übrigens „nebenbei“ auch Chef der österreichischen Garde ist? loyal hat ihn einen Tag lang begleitet.
Neulich in Wien. Markus Reisner ist gerade zu Fuß unterwegs und wartet an einer Ampel. Ein Auto fährt heran, der Fahrer lässt die Scheibe herunter und ruft ihm zu: „Sind Sie der Oberst Reisner?“ Reisner ist so verdutzt, dass er nicht sofort antwortet. Das nimmt ihm ein Radfahrer ab, der gerade vorbeikommt. „Ja, genau, das ist der Oberst Reisner aus den Medien!“, ruft der dem Autofahrer zu.
Markus Reisner ist selbst noch überrascht, wie viele Menschen ihn mittlerweile kennen. Dabei ist das kein Wunder: Reisner läuft seit einem Jahr gefühlt auf allen Kanälen. Auf Fernsehsendern, in Zeitungen und Magazinen: wann immer militärische Expertise zum Verlauf des Ukrainekriegs gefragt ist, spricht oft der großgewachsene Österreicher mit dem trockenen Redestil und dem weichen wienerischen Tonfall. Selbst japanische Journalisten haben vor Kurzem um ein Interview gebeten, erzählt Reisner. Da stellt sich die Frage: Warum wollen alle Oberst Reisner?
Besuch in Wien, in der Maria-Theresia-Kaserne am Rande der Stadt. Hier hat die österreichische Garde, deren Kommandeur Markus Reisner im Moment ist, ihren Sitz. Schon vor dem Besuch wird klar: In Österreich läuft vieles anders. Keine langwierigen Anfragen ans Verteidigungsministerium, wenn man als Journalistin ein Interview möchte, keine bürokratisch-formulierten Antworten. Stattdessen ein „Guten Tag! Hier bin ich! Feuer frei!“ per Email von Reisner persönlich. Und das nur etwa zwei Stunden nachdem die Autorin dieses Artikels ihre Anfrage an die Pressestelle der österreichischen Armee verschickt hat. Soviel Zackigkeit beeindruckt. Zwei Wochen später also der Besuch in der Maria-Theresia-Kaserne in Wien-Meidling.
Fast zehn Jahre lang in den Spezialkräften gedient
Die Treppe hinauf zum Büro von Markus Reisner geht es vorbei an historischen Stichen aus der Geschichte der Garde. Darunter ein Gardist aus der K.u.K.-Zeit. Er trägt Schaftstiefel, die über die Knie reichen, tressenbesetze Schulterklappen und einen hohen Helm, von dem Zottelhaare hängen. Ob beim Wachbataillon in Berlin wohl auch jahrhundertealte Stiche hängen? Auch bei der Begrüßung geht es traditionell zu. Der Zeremonienmeister, Reisners rechte Hand bei der Garde, gibt der Autorin einen Handkuss. Oberst Reisner dagegen reicht die Hand zur Begrüßung. Sein Händedruck ist fest, er macht einen entspannten Eindruck. Der 45-Jährige ist sportlich. Durch das grüne Uniformhemd zeichnet sich ein muskulöser Oberköper ab. Reisner, der heute eher als Intellektueller bekannt ist, gehörte einmal zu Österreichs härtesten Jungs. Fast zehn Jahre lang hat er in den Spezialkräften des österreichischen Heeres gedient.
Jetzt ist er vor allen Dingen ein Erklärer: Schon vor der ersten Frage der Autorin fängt er an, die derzeitige Patt-Situation im Ukraine-Krieg zu erklären: Man solle die Russen nicht unterschätzen, sie hätten die Ressourcen, um den Ukraine-Krieg noch jahrelang weiterzuführen. Aber auch bei den Ukrainern sei nicht davon auszugehen, dass sie klein beigäben. Der Konflikt werde noch lange dauern. Es fällt gar nicht so leicht einzuhaken und auf Persönlicheres überzuleiten. Ein Versuch: Wie er denn fände, dass er nun so bekannt sei? Reisner überlegt, dann sagt er, dass er sich nicht darüber freuen könne, es sei schließlich ein trauriger Anlass, weshalb er nun so begehrt sei.
Da klingelt sein Telefon. Ein deutscher Oberstleutnant ruft an, um ihn auf eine Podiumsdiskussion einzuladen. Reisner soll seine Position zum Ukraine-Krieg auf dem Podium vertreten. „Ich bin ein Groupie von Ihnen!“, sind die ersten Worte des deutschen Offiziers. Von den deutschen Generälen, die auch auf das Podium eingeladen wären, sei ja nicht viel zu erwarten, so der Anrufer. Floskeln, politisch Korrektes. „Bei Ihnen dagegen schätze ich Ihre schonungslose Analyse!“, schwärmt der Oberstleutnant am anderen Ende der Leitung. Reisner sagt nicht viel, er verhandelt lediglich die Konditionen seines Besuchs – Anreise, Hotelübernachtung – dann legt er schnell auf. Er wirkt, als ob ihm die Schmeichelei etwas peinlich wäre.
Durch und durch Militär
Doch wie kommt Reisner eigentlich dazu, zum Ukraine-Kriegserklärer Nummer 1 aufgestiegen zu sein? Der 45-Jährige hat eine interessante Vita. Reisner studierte Geschichte und Jura an der Universität in Wien und schrieb seine Doktorarbeit über den Luftkrieg über Österreich von 1943 bis 1945. Aber Reisner ist nicht nur Wissenschaftler, er ist auch durch und durch Militär: Als Soldat war er in fast allen Auslandseinsätzen der Österreicher mit dabei: Mali, Tschad, Afghanistan, Bosnien, Kosovo.
Seit mehreren Jahren ist er nun Leiter der Forschungsabteilung der Theresianischen Militärakademie. Dort beschäftigte er sich zunächst mit autonomen Waffensystemen, Drohnen und dem Krieg der Zukunft. Doch dann brach der Ukraine-Krieg aus. Der Erklärungsbedarf war groß: Wie war das militärische Vorgehen der Russen zu bewerten? Über welche militärischen Kapazitäten verfügten die Ukrainer? Reisner begann im Frühjahr vergangenen Jahres regelmäßig 30-minütige Youtube-Videos zu drehen, in denen er die drängenden Fragen der Öffentlichkeit zum Ukraine-Krieg beantwortete. Das kam gut an. Das beliebteste Video klickten über eine Millionen Menschen an – wohlgemerkt: Österreich hat nur neun Millionen Einwohner. Reisner wirkt in diesen Videos ein bisschen wie ein Erdkundelehrer, wenn er mit seinem Teleskopstab die Truppenbewegungen in der Ukraine auf einem Bildschirm erklärt.
Ein Grund für seine Popularität als Erklärer ist laut Reisner aber seine Neutralität. Weil Österreich im Ukraine-Krieg und auch generell in den großen Konflikten der vergangenen Jahrzehnte neutral war, würde ihm als Vertreter Österreichs mehr Glauben geschenkt, meint er. Dabei ist das mit der Neutralität Österreichs so eine Sache. Moralisch stehe Österreich auf der Seite der angegriffenen Ukraine, sagt Reisner. Aber Waffen liefere Österreich nicht, das Land bildet auch keine ukrainischen Soldaten aus. Und, auch das gibt Reisner zu, Österreich bezieht immer noch einen großen Teil seiner Energieversorgung aus Russland. Wie er diese seltsam unentschiedene Position Österreichs finde? Auf diese Frage antwortet Reisner ausweichend: Als Militär sei er ein Vertreter der österreichischen Politik. Und die Österreicher hätten nun einmal in ihrer Geschichte schlechte Erfahrungen mit Allianzen gemacht – vor allem in den beiden Weltkriegen. Deshalb wollten sie nun in Konflikten nicht mehr Stellung beziehen, sich nicht mehr auf eine Seite schlagen. Dass er selbst als Soldat in den Auslandseinsätzen seine Gesundheit und sein Leben riskiert hat und dabei nie auf der Seite der Guten stehen konnte etwa in Afghanistan? Auch auf diese Frage antwortet er trocken: Man müsse die Mehrheitsmeinung in Österreich akzeptieren. Und diese sei nun mal für Neutralität. Punkt.
„Die Armee ist ein Integrationsinstrument“
Jetzt hat Reisner aber einen Termin. Als Kommandeur der Garde muss er am Schießplatz in Völtendorf bei St. Pölten die Schießausbildung der neuen Rekruten beaufsichtigen – Dienstaufsicht. Am Schießplatz warten die Rekruten schon in einer Reihe bis sie mit dem Schießen dran sind. Die jungen Rekruten sind Wehrpflichtige. Die Österreicher haben sich in einer Volksabstimmung im Jahr 2013 gegen die Abschaffung der Wehrpflicht ausgesprochen, seitdem herrscht Ruhe im Streit um die Wehrpflicht. Wehrpflichtig sind nur junge Männer, deshalb ist die Frauenquote im österreichischen Militär mit 3,5 Prozent auch verschwindend gering. Frauen können sich freiwillig zum Dienst melden.
Auch am Schießplatz in St. Pölten sind alle Rekruten männlich. Ihre Nachnamen, die als Badge auf der Brust ihrer Uniformen angebracht sind, verraten, dass sie aus aller Welt stammen. „Die Armee ist ein Integrationsinstrument“, erklärt Reisner und tritt auf zwei junge Rekruten zu, die in der Reihe warten bis sie schießen dürfen. Der eine verrät, dass seine Eltern aus Pakistan nach Österreich gekommen sind und er vor dem Wehrdienst als IT-Techniker in einem „Apple“-Shop gearbeitet habe. Ein anderer hat kroatische Wurzeln und war als Einzelhandelskaufmann in einem Supermarkt angestellt, bevor er eingezogen wurde. Beide jungen Männer beteuern, dass es ihnen bei der Garde sehr gut gefalle – was sollen sie auch anderes sagen, wenn sie ihr oberster Chef fragt? Ob sie sich vorstellen könnten, länger als die vorgeschriebenen sechs Monate in der Truppe zu bleiben? Die beiden wiegen abwägend den Kopf. Doch, ja, vorstellen könnten sie sich das schon.
Etwa zehn Prozent der Rekruten verpflichten sich nach ihrer Wehrdienstzeit länger. Für Reisner ist klar: Auch wegen der Wehrpflicht hat das Bundesheer weniger Personalprobleme als die Bundeswehr. Reisner wirkt beim Gespräch mit den jungen Rekruten ehrlich interessiert, er hakt nach, wünscht ihnen am Ende des Gesprächs eine gute Zeit. Man hat das Gefühl, dass ihm die jungen Männer wirklich wichtig sind.
Am Schluss des Besuchs auf dem Schießplatz erkundigt sich Reisner noch bei den Leitenden, wie die Ausbildung läuft, ob das vom Ministerium angekündigte Material angekommen ist, wie sich die Rekruten machen. Dann geht es zurück nach Wien. Der südkoreanische Premierminister wird heute Abend am Heldenplatz eintreffen, um den österreichischen Bundeskanzler zu besuchen. Natürlich wird ihn die Garde mit militärischen Ehren empfangen.
Vom Feldanzug in die Gardeuniform
Seinen Feldanzug tauscht Reisner nun gegen seine Gardeuniform. Dann fährt ihn sein Fahrer zum Heldenplatz im Herzen von Wien. In einem Innenhof der Hofburg hat sich bereits die Ehrenkompanie der Garde aufgestellt. Touristen bleiben stehen und bewundern die Soldaten mit ihren roten Baretten, den dicken goldenen Schulterschnüren und den weißen Handschuhen. Auf Befehl eines Offiziers präsentieren sie ihre Gewehre, empfangen die Fahne – ein wichtiges Ritual vor Beginn der Feierlichkeiten – und marschieren dann im Gleichschritt zur Musik der Militärkapelle vor das Bundeskanzleramt. Die jungen Soldaten – allesamt Wehrpflichtige – wirken stolz, bei diesem Staatsakt mitwirken zu dürfen, manche blicken ernst, andere verwegen drein. „Das ist ein großer Tag für die Rekruten“, sagt Reisner, der das Geschehen aus dem Hintergrund beobachtet. „In kurzer Zeit haben sie gelernt, sich synchron zu bewegen und stundenlang unbeweglich zu stehen. Das erfordert viel Willensstärke“, sagt Reisner. Er selbst wechselt einige Worte mit dem Wiener Polizeichef zu den Sicherheitsvorkehrungen für den Staatsbesuch, dann bespricht er sich mit seinem Stellvertreter zum Ablauf der Zeremonie.
Nach etwa einer Stunde, es ist jetzt 17 Uhr, ist alles vorbei. Der südkoreanische Ministerpräsident ist mit dem österreichischen Kanzler im Kanzleramt verschwunden. Die jungen Gardesoldaten sind im Takt der Militärmusik wieder abmarschiert und mit Truppenfahrzeugen in ihre Kaserne zurückgefahren. Doch für Markus Reisner ist der Tag noch lange nicht vorbei. Er muss zurück ins Büro, einige Telefongespräche führen, E-mails schreiben. Danach ist es Zeit, zu seiner Frau und seinen drei Kindern nach Hause zu fahren. Wenn die Kinder im Bett sind, wird er die Sozialen Medien noch nach Videos und Textposts von der ukrainischen Front durchforsten und seine Einschätzungen der militärischen Lage in der Ukraine auf einen eigenen Telegram-Kanal stellen. Das wird etwa bis Mitternacht dauern. Danach wartet eine kurze Nachtruhe auf ihn. Denn der Wecker wird bereits um 5:30 Uhr klingeln. Dann wartet ein neuer vollgepackter Tag auf Markus Reisner, den Kriegserklärer Nr. 1.