Deutschlands Helden zweiter Klasse
Afghanische Mitarbeiter haben ihr Leben aufs Spiel gesetzt, um deutsche Soldaten im Kampfeinsatz in Afghanistan zu unterstützen. Doch die Bundesregierung zögerte ihre Rettung vor der Rache der Taliban so lange hinaus, bis es für viele Ortskräfte zu spät war. Bundeswehrsoldaten nehmen das als Verrat an ihren Kameraden wahr.
Vielleicht ist beim Führungspersonal der Bundesregierung das Phänomen Kameradschaft schlicht unbekannt. Vielleicht ist Loyalität im bundespolitischen Haifischbecken einfach unvorstellbar. Als ich vor Jahren anfing, über die Bundeswehr zu schreiben, hat mir ein Soldat erklärt: „Kameradschaft bedeutet, für jemanden zu sterben, den ich nicht mag.“ Wer das schwülstig findet, sollte mit deutschen Einsatzveteranen sprechen. Sie erzählen, wie sehr sie gemeinsam erlebte Extremsituationen mit afghanischen Ortskräften zusammengeschweißt haben. Dass sie teils zum engsten Freundeskreis gehören. Die Afghanen sind zu Kameraden geworden, auch wenn sie Zivilisten und Ausländer sind. Dass die Bundesregierung diese afghanischen Kameraden zu lange ignoriert hat, empört viele Soldaten.
Deswegen engagieren sie sich ehrenamtlich: Hauptmann Marcus Grotian organisiert schon lange das „Patenschaftsnetzwerk afghanische Ortskräfte“. Und während der Evakuierungsaktion im August stellte ein junger Hauptmann in Sachsen-Anhalt eine Liste mit Ortskräften zusammen, die in Medienzentren für die Bundeswehr gearbeitet haben. Sie hatten ihren Landsleuten den Einsatz der ausländischen Truppen erklärt, waren aber nicht auf den Namenslisten der zu Evakuierenden. Listen, die längst hätten vorliegen müssen, als die Taliban am 15. August Kabul einnahmen; für viele Beobachter schneller als erwartet. Die USA begannen, Botschaftsmitarbeiter auszufliegen. Das Pentagon schickte 3000 Soldaten in die afghanische Hauptstadt. Am selben Tag beschloss die Bundesregierung die Evakuierungsoperation. Dabei hatte die deutsche Botschafterin in Washington, Emily Haber, schon eineinhalb Wochen vor dem Fall Kabuls vor dem baldigen Kollaps der afghanischen Regierung gewarnt. Das berichtete das Magazin „Der Spiegel“.
Am Morgen des 16. August um 6.30 Uhr hob der erste A400M im niedersächsischen Wunstorf ab. Zu diesem Zeitpunkt lagen laut Verteidigungsministerium nicht mal alle Überfluggenehmigungen vor. Die Maschine flog Kabul an, erhielt allerdings von den USA keine Landeerlaubnis. Nach langem Kreisen über dem Flughafen musste der A400M wegen Spritmangels ins usbekische Taschkent ausweichen. Dort hatte die Bundeswehr einen Umschlagplatz für die deutschen Einsatzkräfte und Transportflugzeuge eingerichtet.
Maximal zulässige Passagierzahl aufgehoben
Ein zweiter A400M landete um 22 Uhr nach langem Kreisen ohne Flugfeldbeleuchtung und ohne umfassend freies Rollfeld, um Spezialkräfte abzusetzen. Die Bundeswehr berichtete, die USA hätten nur eine Stehzeit von 30 Minuten genehmigt. Zu wenig für die eingesetzten Kräfte, um viele Menschen an Bord zu nehmen. Der A400M flog deswegen fast leer zurück, mit nur sieben Personen an Bord. Es war ein Desaster für die Bundeswehr, denn zeitgleich kursierten im Internet Bilder von US-amerikanischen Transportfliegern, in denen dicht an dicht mehr als 600 Geflüchtete saßen. In den folgenden Tagen wurden die deutschen Flugzeuge voller — auch weil der Kommandeur vor Ort, Brigadegeneral Jens Arlt, die maximal zulässige Passagierzahl aufhob. Offiziell zugelassen ist der A400M normalerweise für gut 100 Personen.
Den eingesetzten Bundeswehrsoldaten bot sich auf dem Kabuler Flughafen ein dramatisches Bild. loyal konnte mit einem Feldwebel der Fallschirmjäger aus Seedorf sprechen, der dabei war. Hier nennen wir ihn Sebastian Klar. Er heißt eigentlich anders. Seine Einheit wurde am Freitag, 13. August, alarmiert. Tags darauf kamen alle in die Kaserne. Den Sonntag verbrachten die Fallschirmjäger damit, Waffen und Ausrüstung zu verpacken, am Montag begann der Einsatz. Nach den erwähnten Anlaufschwierigkeiten fertigten die deutschen Soldaten in Kabul vier bis fünf A400M pro Tag ab, mit je 180 bis 240 Menschen an Bord — unter extremen Bedingungen. „Den Ansturm auf den Flughafen muss man sich vorstellen wie die Massenpanik bei der Loveparade in Duisburg 2010“, sagt Feldwebel Sebastian Klar. Er schätzt, dass sich um den Airport bis zu 35.000 Menschen gedrängt haben. Die Flüchtlinge standen unter enormem Druck: Die USA hielten an ihren Plänen fest, bis zum 31. August alle Truppen abzuziehen. Danach würden Evakuierungen nur noch unter stark erschwerten Bedingungen möglich sein.
In der Menschenmenge vor dem Airport kam es zu mehreren Massenpaniken, berichtet der Fallschirmjäger. Dabei seien sowohl Erwachsene als auch Kinder erdrückt worden. „Weil die Eltern so viel Angst hatten und gleichzeitig gesehen haben, dass nicht alle mitkönnen, haben viele ihre Kinder über den Zaun an Soldaten gereicht, teils mit gebrochenen Armen und Beinen“, berichtet Klar. „Es waren so viele Kinder, dass die Amerikaner ein Waisenhaus auf dem Flughafen aufbauen mussten.“ UNICEF sprach später von mindestens 300 unbegleiteten Minderjährigen.
Soldaten psychisch am Ende
Es herrschte totales Chaos, das vor allem die jungen Bundeswehrsoldaten, 18- bis 20-Jährige, erschüttert hat, erinnert sich Klar. „Die waren psychisch am Ende, manche haben geweint. Es war einfach zu viel Leid auf einmal.“ Doch die Soldaten mussten funktionieren. Für den deutschen Feldwebel war es besonders hart, Afghanen, die es auf das Flughafengelände geschafft hatten, wieder runterzubringen. „Wenn wir zum Beispiel gesehen haben, dass sie einen gefälschten Pass haben. Oder wenn wir Vätern sagen mussten, dass wir ihre Frau und Kinder vor dem Tor nicht reinholen können. Die Männer hatten sich durch die Massen durchgekämpft in der Hoffnung, dass die Familie dann irgendwie dazukommen kann. Als sie gemerkt haben, dass das nicht möglich war, haben manche auf den Flug verzichtet und sind wieder vors Tor gegangen. Menschen, die schon das Ticket in der Hand hatten und fließend Deutsch sprachen.“ Es waren Szenen und Entscheidungen, die wir uns hier, im sicheren Deutschland, kaum vorstellen können.
Auch ganz praktisch verlief der Einsatz ganz und gar anders als in Übungen zu Hause: Die Soldaten hatten nur ihre Waffen, keine Fahrzeuge oder sonstiges Gerät — das war ja alles schon abgezogen. Dazu kam das riesige Durcheinander auf dem Airport. Sebastian Klar erinnert sich, dass außer Amerikanern und Briten auch Italiener, Japaner, Holländer, Ungarn, Litauer und sogar eine Schweizer Spezialeinheit vor Ort waren. „Wir alle haben uns dann Fahrzeuge, die auf dem Flughafen rumstanden, geschnappt und kurzgeschlossen. Wir sind auch mit einem Traktor herumgefahren oder mit Autos mit zwei platten Reifen.“ Am 20. August flog die Bundeswehr außerdem zwei kleine Hubschrauber des Typs H145M ein. Sie werden in der Regel vom Kommando Spezialkräfte genutzt und können vier Passagiere transportieren. Eingesetzt wurden sie am Ende nicht.
Schon bei der Planung der Mission war klar: Das Anschlagsrisiko steigt mit jedem Tag. Nach der Machtübernahme der Taliban ging die Bedrohung vor allem von der Terrororganisation „Islamischer Staat“ aus. Sie bekämpft die Taliban, weil diese dem IS nicht radikal genug sind. Die Tausenden westlichen Truppen am Kabuler Airport sowie Zehntausende Ortskräfte und deren Angehörige wären für die Terroristen ein lohnendes Ziel. Feldwebel Sebastian Klar: „Das war uns auch von Anfang an klar. Wir waren alle ständig angespannt, man hatte sein Auge überall.“ Am 26. August gab es tatsächlich den befürchteten Anschlag: Ein Selbstmordattentäter zündete an einem Eingangstor seine Sprengladung. Fast 200 Menschen starben. Kurz darauf hob der letzte deutsche A400M mit einem Notstart ab. In dem Chaos wurden zwei deutsche Soldaten zurückgelassen, die wenig später von einer weiteren deutschen Maschine eingesammelt wurden.
Als die Bundeswehrsoldaten am Tag nach dem Anschlag am Flughafen Wunstorf eintrafen, werden sie von führenden Politikern und Militärs begrüßt: Außer Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer waren auch Generalinspekteur General Eberhard Zorn, die Wehrbeauftragte Eva Högl und weitere Verteidigungspolitiker am Flugplatz. Das Verteidigungsministerium wollte unbedingt verhindern, dass sich das Desaster vom Juni wiederholt. Damals war von den führenden Bundespolitikern niemand vor Ort, als in Wunstorf die vorerst letzten Soldaten aus Afghanistan zurückgekehrt waren. Begründung: Die Soldaten hätten gerne schnell zu ihren Familien gewollt. Kritiker monierten, das sei lediglich eine Ausrede gewesen. Die Ministerin habe schlicht keine Zeit gehabt, weil sie in den USA war.
Einsatzkräfte wollten einfach nur heim
Nach der Evakuierungsaktion im August hätte Feldwebel Sebastian Klar auf das Antreten zum Ministerinnenbesuch gerne verzichtet. „Ich wäre lieber gleich nach Hause gefahren. Wir hatten wegen Handyverbots zwei Wochen keinen Kontakt zur Familie. Und die haben natürlich in den Nachrichten gesehen, was da unten los war, und sich richtig Sorgen gemacht.“ Und es gab einen ganz pragmatischen Grund: „Wir haben alle brutal gestunken. In Afghanistan waren es 35 Grad, dazu stickige Luft, kaum Toiletten, keine richtige Dusche. Wir hatten ein Wechsel-T-Shirt dabei und haben mit dem Schlafsack auf dem Boden geschlafen. Viele hatten nicht mehr als zwei bis drei Stunden Schlaf am Tag.“ Dass die erschöpften Einsatzkräfte einfach nur heim wollten, ist nachvollziehbar.
Während die westlichen Soldaten auf dem Airport so viele Flüchtlinge wie möglich ausflogen, versuchten in Deutschland Hilfsorganisationen, Medien und auch Bundeswehrangehörige verzweifelt, Ortskräfte auf die Evakuierungslisten zu bekommen. Sie wandten sich dafür an private Sicherheitsdienstleister wie Friedrich Christian Haas, einen ehemaligen Luftwaffenoffizier. Er erlebte vor allem das Auswärtige Amt als heillos überfordert: „Zu Beginn der deutschen Evakuierungsmission am 16. August rief mich eine Nichtregierungsorganisation an, ich solle den Transport von afghanischen Ortskräften zum Flughafen Kabul organisieren. Die NGO sagte, sie hätte gute Kontakte ins Auswärtige Amt, weil sie viel mit denen zusammengearbeitet hatte; sie hätte mit den entsprechenden Staatssekretären geredet, und es schien nur eine Formsache zu sein, die Ortskräfte auf die Namensliste zu setzen.“ Haas bereitete den Transport vor, bekam aber tagelang keine Antwort aus dem Auswärtigen Amt. Er führte immer verzweifeltere Telefonate mit den Beamten: „Ich habe deutlich gesagt: Sagen Sie dem Herrn Staatssekretär, wir brauchen jetzt politischen Willen. Irgendwas funktioniert da nicht. Und wenn es Fragen gibt, müssen die Entscheidungsträger das auf ihre Kappe nehmen. Dafür haben die ja die politische Verantwortung. Zumal ich das auch immer wieder erlebt habe, dass das auch funktionieren kann, etwa im Bereich des Verteidigungsministeriums. Wenn der politische Wille von oben kommt, laufen die Dinge auch.“
Doch politischer Wille fehlte schon seit Jahren. Die Grünen stellten bereits im April 2019 im Bundestag den Antrag, afghanischen Ortskräften die Einreise zu erleichtern. Denn seit einem Anschlag auf die deutsche Botschaft in Kabul 2017 wurden dort keine Visa mehr ausgestellt. Über zwei Jahre später, am 23. Juni 2021, lehnten die Regierungsparteien von CDU/CSU und SPD sowie die AfD den Antrag der Grünen ab. Die FDP enthielt sich, nur die Linkspartei stimmte zu. Dabei stand zu diesem Zeitpunkt der Abzug der Amerikaner und damit der Bundeswehr schon lange fest. Es war auch klar, dass die Taliban bald wieder weite Teile des Landes kontrollieren würden.
Bürokratie und Kompetenzgerangel
Die lähmende Langsamkeit der Bundesregierung hatte zwei Gründe: Einerseits hing es an der Bürokratie und am Kompetenzgerangel. Während das Auswärtige Amt laut einem Bericht der „Zeit“ Vorschläge machte, wie Visa für Ortskräfte in Deutschland organisiert werden könnten, bestand das Innenministerium darauf, Ortskräfte vor der Ausreise auf potenzielle Gefährlichkeit zu überprüfen. Das Entwicklungsministerium wiederum lehnte die Ausreise von Ortskräften ab, weil sie für den Aufbau gebraucht würden.
Andererseits ging es um wahltaktische Gründe: Die Große Koalition wollte eine Entscheidung bis zur Bundestagswahl Ende September hinauszögern. Niemand wollte die Verantwortung für die Aufnahme Zehntausender geflüchteter Afghanen übernehmen. Während viele Deutsche schockiert die Bilder vom Kabuler Flughafen im Fernsehen sahen, auf denen sich panische Menschen an startende Flugzeuge klammern und in den Tod stürzen, fiel in Politikerinterviews immer wieder derselbe Satz: „2015 darf sich nicht wiederholen.“ Etwa von CDU/CSU-Spitzenpolitikern wie Armin Laschet, Paul Ziemiak, Julia Klöckner, Thomas Strobl und Markus Söder, aber auch von der Bundestagsabgeordneten Sevim Dağdelen (Die Linke) sowie von AfD-Spitzen.
Der CDU-Abgeordnete und Oberst a.D. Roderich Kiesewetter bezeichnete die Ablehnung des Grünen-Antrags zu Visa-Erleichterungen auf Twitter als „großen und gravierenden Fehler“. Im Interview mit dem Tagesspiegel berichtete Kiesewetter, dass Verteidigungspolitiker der Union im Mai bei Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) und Außenminister Heiko Maas (SPD) auf eine schnelle Ausreise der Ortskräfte gedrängt hätten. „Wirrnisse“ zwischen Auswärtigem Amt und Innenministerium hätten eine schnelle Umsetzung verzögert. Zudem hätten die verschiedenen Ministerien, die mit Ortskräften zusammengearbeitet hatten, nur unzureichende Daten ihrer Mitarbeitenden gehabt.
„Im Auswärtigen Amt herrschte Land unter“
Chaos, das auch Sicherheitsdienstleister Friedrich Christian Haas erlebte. „Im Auswärtigen Amt herrschte Land unter“, sagt Haas. „Die Mitarbeiter waren hilflos, frustriert und überfordert. Da sind dann so Sätze gefallen wie ‚Ich würde Ihnen ja so gerne helfen, das ist so frustrierend. Ich weiß ja auch nicht, was wir machen sollen.‘ Ein anderer hat mir am Telefon gesagt: „Wissen Sie, ich komme hier morgens rein, und ich weiß schon, ich habe verloren, wir schaffen es nicht. Wir haben keine Chance. So viel Personal haben wir nicht.“ Laut Haas hat es zehn Tage gedauert, bis das Auswärtige Amt die Mitarbeiter seines NGO-Kunden auf einer Namensliste hatte. Zu spät: An diesem Tag kam die Terrordrohung, die Tore des Flughafens gingen zu, die Ortskräfte saßen in Afghanistan fest.
Sie fühlen sich von Deutschland im Stich gelassen. loyal konnte sich nach dem Ende der Evakuierungsaktion mit einem Betroffenen austauschen, der mit seiner Familie in Masar-i-Scharif festsitzt. Er hat jahrelang für das Zentrum Operative Kommunikation der Bundeswehr in Mayen gearbeitet und fürchtet jetzt um sein Leben. „Die Talibanführung hat zwar eine Amnestie für Menschen wie mich versprochen, aber die Führungsriege kann die Truppen vor Ort nicht kontrollieren. In meinem Umfeld gab es schon Ermordungen“, berichtet der Familienvater. „Ich habe versucht, in den Flughafen zu kommen, aber ich habe es nicht durch die Menge geschafft. Ich bin seit einem Monat mit meiner Familie auf der Flucht und total am Ende. Meine Kinder fragen: Warum müssen wir von zu Hause weg, warum können wir nicht zur Schule? Ich schaffe es nicht, ihnen die Wahrheit zu sagen.“ Friedrich Christian Haas sagt, viele Ortskräfte seien in kompletter Panik: „Manche haben sich in ihr Auto gesetzt, sind zur persischen Grenze gefahren und hatten dann einen tödlichen Verkehrsunfall. Wenn man traumatisiert ist und schnell Auto fährt, das ist nie gut.“
Obwohl die Evakuierung unter erschwerten Bedingungen weitergeht, blickt Sicherheitsdienstleister Haas bereits nach vorn. Um ein solches Desaster künftig zu vermeiden, komme es auf drei Punkte an: erstens bessere Planung. Bundesbehörden, NGOs und Medien müssten festlegen, ab welchem Zeitpunkt Ortskräfte ausgeflogen werden — und zwar, bevor es Probleme an Flughäfen gibt. Zweitens müsse allen Beteiligten klar sein: In der Krise laufen normale Prozesse nicht. Gerade Führungskräfte müssten von Dienstvorschriften abweichen und Verantwortung übernehmen — wie etwa Brigadegeneral Jens Arlt, als er die maximal zulässige Passagierzahl im A400M aufhob. Drittens müssten Ministerien und Bundesämter eine Aufwuchsfähigkeit haben, um im Krisenfall mehr Telefonate und E-Mails bearbeiten zu können. So herrschten auch nach Ende der Evakuierungsaktion chaotische Zustände in Deutschland. Ein Beispiel: Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hatte eine Mail an Wohlfahrtseinrichtungen wie Caritas, Diakonisches Werk und Bahnhofsmissionen geschrieben. Wenn Geflüchtete bei ihnen landen oder deren Angehörige Fragen haben, sollten Mitarbeiter eine angebliche 24/7-Telefonnummer anrufen. Diese war nach wenigen Tagen nicht mehr erreichbar. Es wurde auf eine Mailadresse verwiesen, die mit einer Fehlermeldung antwortete.
Die Bundesregierung will jetzt versuchen, Ortskräfte und andere Schutzbedürftige über andere Wege nach Deutschland zu holen. Doch die Verhandlungen mit den Taliban verliefen zunächst zäh, hieß es.
Hintergrund: Evakuierung
Die Operation der Bundeswehr dauerte elf Tage, vom 16. bis 26. August. In der Zeit fanden laut Luftwaffe 34 Evakuierungsflüge zwischen Kabul und der usbekischen Hauptstadt Taschkent statt. Eingesetzt wurden sechs A400M-Transporter, darunter ein sogenannter MedEvac-A400M. Die Maschine ist ausgerüstet, um Verletzte zu versorgen.
Nach Bundeswehrangaben waren an der Evakuierungsmission bis zu 600 Einsatzkräfte beteiligt, darunter Fallschirmjäger, Spezialkräfte, Feldjäger und Sanitäter. Sie wurden am 22. September bei einem Abschlussappell in Seedorf gewürdigt, bei dem unter anderem die Bundeskanzlerin und die Verteidigungsministerin anwesend waren.
Die USA haben nach eigenen Angaben über 120.000 Menschen ausgeflogen, die Bundeswehr rund 5.000, darunter 248 Ortskräfte in Begleitung von 916 Familienmitgliedern. Laut Bundesregierung warten noch Zehntausende auf ihre Ausreise nach Deutschland. Bis Mitte September gab es zwei weitere zivile Rettungsflüge von Qatar Airways für rund 400 weitere Menschen.
Julia Weigelt ist Fachjournalistin für Sicherheitspolitik in Hamburg.