Die künftige Sockel-Armee
Die Bundeswehr 2030 soll eine Netzwerk-Streitmacht sein, um die herum europäische Großverbände entstehen. Dazu baut sie sich schon auf. Das Mittel zum Zweck sind so genannte „Affiliationen“.
Es ist eines der strategischen Hauptziele der Bundeswehr: Über die nächsten zehn Jahre will sie zur Rahmennationen-Armee heranreifen – so die neue Konzeption samt Fähigkeitsprofil von 2018. Das heißt, die drei Divisionen des Heeres sollen als Rahmen dienen, um Verbände kleinerer Streitkräfte Europas aufzunehmen. Der erhoffte Mehrwert: Mit den so gebildeten multinationalen Großverbänden käme ein schlagkräftiger Streitkräfteverbund der Europäer zustande.
Das militärpolitische Werkzeug der Bundeswehr dafür ist das Rahmennationen-Konzept, das von Deutschland 2014 bei der Nato etabliert wurde. Es sieht vor, dass sich Staaten zu – von Deutschland koordinierten – Rüstungsclustern zusammenfinden, um abgestimmt neues Gerät zu beschaffen. Parallel dazu sollen die Mehr-Nationen-Verbände mit der Bundeswehr als „Rückgrat“ aufwachsen, so ein Sprecher des Verteidigungsministeriums zu loyal.
Plattform für die Angleichung von Training und Ausbildung
Das Mittel der Bundeswehr, um sich zu dieser Rahmen- oder Sockel-Armee aufzubauen, sind sogenannte „Affiliationen“. Der sperrige Begriff heißt so viel wie „Annäherungen“. Darum geht es: Partner-Armeen docken Brigaden (etwa 5.000 Soldaten) an Bundeswehr-Divisionen (bis zu 20.000 Soldaten) an. Die Einheiten bleiben unter nationalem Befehl. Aber die deutschen Divisionen dienen als Plattformen für die Angleichung von Training und Ausbildung der Partner. Die Einheiten werden dadurch „interoperabel“ wie es im Militärsprech heißt und somit kampfstärker. Dieses Zusammengehen soll perspektivisch erleichtert werden durch gleiches Material, das über Rüstungscluster beschafft wird. Das Kalkül der Deutschen: So können sie sich als maßgeblicher Koordinator in einem europäischen Militärnetzwerk platzieren und an politischem Einfluss gewinnen.
Das am weitesten entwickelte Affiliationsprojekt unterhält die Bundeswehr mit den Streitkräften der Niederlande seit Mitte der 1990er Jahre. Das Motiv war, trotz schrumpfender Verteidigungsausgaben nach dem Kalten Krieg militärische Fähigkeiten zu erhalten. Seit 2015 gibt es einen regelrechten Boom an Affiliationen, ausgelöst durch die Krim-Annexion Russlands im Jahr davor. Seitdem gelten ernst zu nehmende Streitkräfte bei Europas Staaten wieder als wichtig, vor allem in Osteuropa. Inzwischen laufen „Annäherungen“ der Bundeswehr mit den Streitkräften Polens, Tschechiens, Rumäniens und Litauens. Mit Ungarn wird eine Affiliation vorbereitet.
Die Motive der Bundeswehr-Partner, zu affiliieren, sind vielschichtig. Rumänien hat seine 81. Mechanisierte Brigade an die Division Schnelle Kräfte angebunden. Das Kalkül dabei ist laut Claudiu Degeratu – ehemals Chef der Sektion Verteidigungspolitik bei der Nato-Vertretung Rumäniens: „Die Rumänen wollen mehr militärische Ressourcen in der Schwarzmeer-Region integrieren.“ Dort über Affiliationsübungen eine erhöhte Präsenz der Bundeswehr zu haben, wäre schon ein Fortschritt aus rumänischer Sicht. Denn an der Südostflanke engagieren sich europäische Nato-Partner bis dato kaum. Tschechien wiederum hat Interesse, dass seine Offiziere lernen, wie Divisionen geführt werden, die die eigenen Streitkräfte nicht haben, so Andor Šándor, Ex-Chef des militärischen Nachrichtendienstes Tschechiens. Dafür hat Tschechien seine 4. Schnelle Eingreifbrigade der 10. Panzerdivision beigeordnet. So bekommt das Land mehr Fachpersonal, das es beim laufenden Ausbau der Nato-Strukturen einbringen kann, um militärpolitisch mitzureden.
Das Kalkül Litauens
Das dürfte auch im Kalkül Litauens eine Rolle spielen. Aufgrund seiner prekären Lage in direkter Nachbarschaft zu Russland hat das kleine Land im Baltikum aber stärker den militärischen Mehrwert im Blick. Litauens Armee affiliiert seine mechanisierte Brigade „Eiserner Wolf“ stets mit jener deutschen Heeresdivision, die gerade die Truppen für das Nato-Bataillon in Litauen stellt, das von der Bundeswehr geführt wird. Das Verteidigungsministerium in Vilnius macht gegenüber loyal zudem deutlich, dass der Kauf von deutschen Waffen, vor allem der Panzerhaubitze 2000 und dem Boxer als Infanteriekampffahrzeug, ein Treiber für die Litauer war, die Affiliation mit der Bundeswehr zu suchen. Denn die sichert eine intensive Ausbildung an dem neuen Gerät.
Polens Streitkräften ist wichtig, ihre Expertise bei der Leopard II-Technologie und der Operationsführung zu verbessern, so Marek Świerczyński, Militärexperte des Analyseunternehmens Polityka Insight in Warschau. Die deutsch-polnische Affiliation ist eine besondere über ein „Cross Attachement“. Die Panzergrenadierbrigade 41 der Bundeswehr, die über kein eigenes Panzerbataillon verfügt, bindet eines mit Leopard II der 10. Panzer-Kavalleriebrigade Polens ein. Bei dieser dockt im Gegenzug das Panzergrenadierbataillon 411 aus der Panzergrenadierbrigade 41 an.
Zähes Unterfangen mit Störpotenzial
Diese Affiliation seit 2015 zeigen: Der Aufbau solcher Verzahnungen für europäische Großverbände ist ein zähes Unterfangen mit Störpotenzial. Anfangs wurde eine ambitionierte Roadmap aufgelegt mit dem Ziel, die Partnerbataillone von 2020 an gemeinsam in Einsätze zu schicken. Inzwischen backt man kleinere Brötchen. Neues Ziel auf Seiten der Bundeswehr ist, 2022 in die deutsch geführte Nato-Battlegroup in Litauen einen polnischen Zug Leopard II – also fünf Panzer – integriert zu haben, heißt es aus der Panzergrenadierbrigade 41.
Die Übungen haben indes gezeigt, dass sich die deutschen und polnischen Einsatzgrundsätze stärker unterscheiden als angenommen – trotz des gemeinsamen Panzertyps. Bei Verzögerungsgefechten beispielsweise setzen sich Polen und Deutsche unterschiedlich schnell vom Gegner ab und eröffnen auf verschiedene Entfernungen das Feuer. Das Soldatenhandwerk anzugleichen ist zeitaufwändiger als gedacht. Der Ansatz der Bundeswehr, um die Integration voranzubringen: Die Partnerbataillone sollen zunehmend eigenständig Übungsformate vereinbaren und ihr Zusammengehen selbst gestalten. Um das zu fördern, wurde eine Patenschaft zwischen den beiden Dach-Brigaden vereinbart. Das konsequente Abarbeiten von Meilensteinen der Roadmap ist einer Arbeitsmethode der kleinen Schritte gewichen. Der wichtigste in diesem Jahr soll die Einbindung polnischer Leopard-Panzer in die digitale Gefechtssimulation der Bundeswehr auf dem Truppenübungsplatz Munster sein.
Und es gibt weitere Verzögerungen bei der deutsch-polnischen Panzerintegration. Polen änderte 2016 seine Verteidigungsstrategie. Als Teil davon wurden die modernsten Leopard II vom Typ A5 weiter nach Osten verlegt. Der damalige Affiliationsverband der Bundeswehr verlor deswegen seine Leopard-Panzer, was die Zusammenarbeit verlangsamte. Als neuer Partnerverband wurde 2018 die 10. Panzer-Kavalleriebrigade benannt, die aber mit dem veralteten Typ A4 ausgerüstet ist. Dessen Modernisierung, auf einen von Polen selbst konfigurierten Standard, ist angelaufen, kämpft aber mit Querelen zwischen den deutschen und polnischen Industriepartnern. Nach jetzigem Stand sollen die ersten Leopard II PL ab 2023 zulaufen.
Problem Auslandsmissionen
Ein Hemmnis sind auch die Auslandsmissionen. Bei der Bundeswehr sind zahlreiche Soldaten der Partner-Bataillone den Einsatzkontingenten zugeteilt, was das gemeinsame Üben oder gar die Ausbildung für die Affiliation schwierig macht. Ein kommendes Problem bei deren Ausbau zu Großverbänden: Befähigte Offiziere – wie die dringend benötigten Verbindungsoffiziere als Bindeglied jeder Affiliation – werden immer mehr zur knappen Ressource. In einer Zeit immer neuer Kooperationsprojekte bei Nato und EU müssen Einheiten und neue Stäbe mit Fachpersonal versorgt werden. Bei der Bundeswehr ist der Mangel an Stabsoffizieren ein offenes Geheimnis. Polen, das sich zur militärischen Lead-Nation Osteuropas aufbauen möchte, betreibt aufwändige Projekte wie die Litauisch-Polnisch-Ukrainische Brigade. Dafür unterhält es den Brigade-Stab von 100 Mann in Lublin.
Eine Gefahr für das Vorhaben Rahmennationen-Armee Bundeswehr ist auch die Corona-Pandemie. Um deren Kosten in Europa zu bewältigen, werden wohl die Verteidigungsbudgets leiden müssen. Als die letztmalig umfassend gekürzt wurden, geschah das nach der Finanzkrise 2008. Damals senkten die Europäer ad hoc, massiv und unkoordiniert ihre Wehrausgaben. Das Rahmennationenkonzept war ursprünglich auch die Antwort deutscher Militärplaner auf diese Auszehrung der europäischen Armeen. Über eine intensivere Kooperation sollten Fähigkeitslücken geschlossen werden. Die ersten Ansätze dieser Konzeption könnten am Finanzschock der Pandemie scheitern, wenn nun wieder Etats gekürzt werden müssten.