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Die NATO am Scheideweg

Am 4. April vor 75 Jahren wurde die NATO gegründet. Heute steht sie vor neuen Herausforderungen, für die sie keine überzeugenden Antworten hat. Und dann tritt auch noch der Generalsekretär ab.

NATO-Truppen überqueren die Weichsel im Norden Polens beim Großmanöver "Steadfast Defender 2" Anfang März dieses Jahres.

Foto: picture alliance / NurPhoto

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Der Brite Lord Hastings Lionel Ismay war für manchen lockeren Spruch bekannt. Den vielleicht lockersten formulierte er als erster Generalsekretär der NATO, als er sich über den Sinn und Zweck des Militärbündnisses ausließ: „To keep the Soviet Union out, the Americans in and the Germans down“ – die Russen außen vorlassen, die Amerikaner drinnen halten und die Deutschen unten. Dieses Bonmot ist als geflügeltes Wort in die Geschichte eingegangen und wird von jeder Generation Verteidigungspolitiker der westlichen Welt weitergetragen.

Ismay war NATO-Generalsekretär, als die noch junge Bundesrepublik 1955 Mitglied des Bündnisses wurde. Zehn Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg brachten die ehemaligen Kriegsgegner im Westen dem erst sechs Jahre zuvor gegründeten deutschen Rumpfstaat ein Maximum an Misstrauen entgegen – und setzten zugleich auf die Bonner Republik. Wie gefestigt die junge Demokratie war, ließ sich 1955 noch nicht absehen. In jedem Fall schätzten Amerikaner, Briten und Franzosen Westdeutschland als stark ein – und damit als potenziell gefährlich. US-Dokumente von 1965 und 1966, die vor fünf Jahren wiederentdeckt wurden, zeigen jedenfalls, dass die Allianz „Westdeutschlands Stärke und Vorherrschaft auf dem Kontinent eindämmen“ sollte. Der Begriff „Eindämmung“ (containment) ist dabei verräterisch. Er wurde ansonsten in der US-Politik nur gegenüber der Sowjetunion, also dem eigentlichen Gegner, verwendet.

Bundesrepublik erweist sich als verlässlicher Partner

Doch die Bundesrepublik erwies sich schon bald als treuer Verbündeter. Ihre im Jahr des NATO-Beitritts aufgestellten Streitkräfte, die Bundeswehr, wurden von Anfang an voll in die NATO integriert. Es gab keinen westdeutschen Generalstab oder Vergleichbares, was eine eigenständige Führung der Truppe außerhalb der NATO-Strukturen erlaubt hätte. Die Bundesrepublik hätte ihre Soldaten sogar an eine gemeinsame europäische Armee abgegeben, wenn die Franzosen vor dieser Idee nicht in letzter Sekunde zurückgeschreckt wären. In einer historisch beispiellosen Anstrengung erwarb sich die Bundesrepublik bei ihren Partnern über die Jahre enormes Vertrauen. In den 1970er-Jahren wurde die Bundeswehr gar zur stärksten konventionellen Streitmacht innerhalb NATO-Europas; sogar die atomare Teilhabe trauten die Amerikaner dem neuen, dem demokratischen Deutschland zu. Im Sinne von Lord Ismay wurde (West-)Deutschland nicht „unten gehalten“, sondern es stieg bald zu einem beflissenen, verlässlichen und geschätzten Partner im Bündnis auf.

4. April 1949, der Geburtstag der NATO: Der amerikanische Verteidigungsminister Dean Acheson unterzeichnet den NATO-Vertrag. US-Präsident Harry S. Truman und sein Vize Alban W. Barkley (links) schauen zu. (Foto: picture alliance / AP)

Neben der Integration der Bundesrepublik in den Westen, die über NATO und Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) erfolgte, wurde das andere Postulat Lord Ismays, die Sowjets draußenzuhalten, immer wichtiger. In Zeiten der nuklearen Hochrüstung, als sich die beiden Blöcke NATO und Warschauer Pakt gegenüberstanden, jeder mit dem Finger am atomaren Abzug, war es das Gebot der Stunde, schlagkräftige Armeen in ständiger Bereitschaft zu halten, denn mit einem Angriff der Sowjets auf NATO-Gebiet wurde praktisch jederzeit gerechnet. Immer wieder wurden die strategischen Konzepte den veränderten Rahmenbedingungen angepasst: Abwehr eines Angriffs orientiert an Kapazitäten, Vorneverteidigung, Massive Vergeltung, Flexible Antwort, so hießen die Stichworte. Während des Kalten Kriegs galt permanent höchste Wachsamkeit.

Neuausrichtung nach 1989

Mit Glasnost und Perestroika in Moskau, dem Fall der Berliner Mauer und dem Zusammenbruch des Warschauer Pakts und der Sowjetunion 1989 und den Folgejahren musste sich der Westen, musste sich auch die NATO komplett neu erfinden. Ihr war der Gegner abhandengekommen. Von nun an hieß es: Stabilität durch Partnerschaft, Öffnung für neue Mitglieder, Bereitschaft zur Übernahme globaler Verantwortung, Terrorbekämpfung, Friedensmissionen, State Building. Das Ganze begleitet von einer bis dahin nie gesehenen Abrüstung.

Die Vernachlässigung militärischer Fähigkeiten und die Abgabe von Waffen, Material und Liegenschaften in den vergangenen 30 Jahren stellt sich inzwischen als schwere Bürde heraus – denn zum Erstaunen etlicher Politiker war die Geschichte mit dem Fall der Mauer doch nicht zu Ende. Aus der zeitweisen Partnerschaft zwischen dem Westen und Russland wurde wieder Feindschaft. Insbesondere in der SPD, aber auch in der damaligen Merkel-CDU sahen sich viele in ihrer Einschätzung Russlands plötzlich in einem kolossalen Irrtum. Der Friede währte dann doch nicht, wie erhofft, ewiglich. Aber der Westen war inzwischen militärisch blank, der französische Präsident Emmanuel Macron erklärte die NATO sogar für „hirntot“.

Umdenken ab 2014

Spätestens mit der Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim durch ein wieder imperialistisch auftretendes Russland 2014 musste die NATO erkennen, dass sich der Wind gedreht hatte. Mit der breit angelegten russischen Invasion der Ukraine am 24. Februar 2022 wurde auch dem letzten Friedensbewegten klar, dass sich hier vor den Augen der Weltöffentlichkeit ein internationales Verbrechen abspielte, das nach einer Reaktion schrie. Doch wie sollte die aussehen?

Die Bundesrepublik kam 1955 ins Bündnis. Sie baute über die Jahre eine leistungsfähige Wehrpflichtarmee mit einer starken Reserve auf. (Foto: picture-alliance / Klaus Rose)

Die Antwort lag in einer Unterstützung der Ukraine durch den Westen unterhalb der Schwelle des direkten Eingreifens und im Wiederhochfahren militärischer Strukturen in den NATO-Ländern. Dies geschieht aktuell zäh, weil die seit Jahrzehnten friedensverwöhnten und saturierten Gesellschaften im Westen Begriffe wie „Verteidigungswillen“, „Kriegstüchtigkeit“ und „Aufrüstung“ erst einmal neu buchstabieren lernen müssen. In den direkt von Russland bedrohten Ländern wie Finnland, Estland oder Polen geht dies schneller, in Deutschland langsam.

Ist die NATO robust genug?

Die Frage, die sich heute stellt, lautet: Sind die NATO-Mitglieder, ist die NATO selbst für eine robuste Aufrüstungs- und Verteidigungspolitik bereit, wie sie jetzt erforderlich ist? 75 Jahre lang konnte das Bündnis den Frieden für ihre Mitglieder garantieren. Ob das auch künftig gelten wird, ist nicht mehr sicher. Zumal die weltpolitische Lage komplizierter ist denn je. Der alte Gegner Russland ist mit aller Vehemenz zurückgekehrt, und er hat nun einen starken Unterstützer: China. Was in Bezug auf China auf die NATO zukommt, ist gänzlich ungeklärt.

Auch wenn Bundeskanzler Olaf Scholz mantraartig wiederholt, dass man angesichts der russischen Bedrohung jeden Quadratzentimeter NATO-Territoriums verteidigen werde, bleiben Zweifel. Wie würde die NATO reagieren, wenn Putin seine Truppen die Grenzen zu Estland, Lettland oder Litauen überschreiten lässt? Die baltischen Staaten gelten aufgrund ihrer exponierten Lage als eines der ersten Ziele, sollte der russische Diktator es wirklich drauf ankommen lassen. Oder würde die NATO Soldaten nach Spitzbergen hoch oben in der Arktis schicken, wenn Russland an diesem abgelegenen Außenposten des Bündnisses die Entschlossenheit des Westens testete?

Sterben fürs Baltikum?

„Mourir pour Dantzig“ (Sterben für Danzig?) lautete 1939 der Titel eines Leitartikels des französischen Sozialisten und späteren Kollaborateurs im Vichy-Regime, Marcel Déat, in der Zeitung L’Œuvre. Er wurde zu dem pazifistischen Slogan in Frankreich kurz vor dem Zweiten Weltkrieg. Sterben für Danzig? Hinter dieser rhetorischen Frage versteckte sich die Auffassung, dass die Freiheit der Stadt Danzig nicht einen einzigen Knochen eines französischen Soldaten wert sei, sollte Hitler Danzig seinem Dritten Reich einverleiben. Die Geschichte hat gezeigt: Hitler tat es und verleibte sich bald auch halb Frankreich ein. Das damalige Appeasement war ein historischer Fehler.

Der Krieg Russlands gegen die Ukraine ist das alles beherrschende Thema innerhalb der NATO. US-Präsident Joe Biden (rechts) steht hinter dem ukrainischen Staatschef Wolodimir Selenskyji. Doch der US-Kongress verhindert Militärhilfe für die Ukraine. (Foto: picture alliance / AP)

Auch heute gibt es angesichts der russischen Aggression vergleichbare pazifistische Einstellungen im Westen. Modern ausgedrückt ließen sie sich formulieren: Sterben für Tallinn? Für Riga? Für Vilnius? Die Zweifel am Wehrwillen der NATO werden immer noch von verbreitetem Pazifismus, von Bequemlichkeit und von Realitätsverweigerung genährt – und nicht zuletzt auch durch einen schwankenden Verbündeten USA. Die Vereinigten Staaten sind seit 75 Jahren der Pfeiler der NATO, auf dem auch die Sicherheit der europäischen NATO-Mitglieder ruht. Doch dieser Pfeiler bröckelt.

Was hat Trump vor?

US-Präsident Donald Trump hat aus seiner Verachtung für die NATO in seiner Amtszeit zwischen 2017 und 2021 keinen Hehl gemacht. Als republikanischer Kandidat für die US-Präsidentschaftswahl im kommenden November lässt er schon jetzt das Blut in den Adern jedes Transatlantikers gefrieren, wenn er im Wahlkampf Sprüche klopft, wie den kürzlich in South Carolina, dass die USA unter seiner neuerlichen Führung NATO-Mitglieder Russland zum Fraß vorwerfen würden, wenn diese nicht ihre Verpflichtungen erfüllten. Das wäre das Ende der NATO, deren Kern der Artikel V ihres Vertrags ist, wonach ein Angriff auf ein Mitglied als Angriff auf alle angesehen wird.

Sollte Donald Trump im Herbst erneut US-Präsident werden, könnte die Zeit für die NATO ablaufen. Trump macht aus seiner Verachtung für gegenseitigen Beistand keinen Hehl. (Foto: picture alliance / AP Photo)

Schon jetzt blockieren Trumps Republikaner im US-Kongress die dringend benötigten militärischen Hilfen für die Ukraine; es geht um 60 Milliarden Dollar. Experten sagen, dass Trump in einer möglichen neuen Präsidentschaft noch unberechenbarer, skrupelloser und irrationaler agieren könnte, weil er sich frei von jeglichen Fesseln sieht. Wohin steuert also die NATO in ihrem 75. Gründungsjahr?

„Hinter dem Zaun eingegraben“

Stefanie Babst, von 2006 bis 2020 stellvertretende beigeordnete Generalsekretärin der NATO sowie Leiterin des strategischen Vorschauteams des NATO-Generalsekretärs und heute Politikberaterin und Buchautorin, macht im Gespräch mit loyal aus ihrer Kritik am Zustand der Allianz keinen Hehl. „Die NATO hat sich angesichts des Überfalls Russlands auf die Ukraine zu früh festgelegt, was sie nicht tun will: Sie will partout nicht Kriegspartei werden, und hat sie sich hinter ihrem NATO-Zaun eingegraben. Das gibt dem Aggressor Putin militärische Handlungsfreiheit, er behält die Eskalationsinitiative.“

Der französische Präsident Macron an Bord des Atom-U-Boots „Suffren“. (Foto: picture alliance / abaca)

Babst findet die rein reaktive Haltung der Organisation auch deshalb falsch, weil sich das Bündnis früher selbst anders gesehen hat. Sie erinnert im Gespräch mit loyal an den früheren US-Präsidenten George Bush senior, für den nach dem Ende des Kalten Kriegs die NATO ein Akteur mit hohem gestalterischem Anspruch war. „Die Aufnahme neuer Mitglieder hat gezeigt, welche Rolle die Allianz einmal gespielt hat. Die NATO hat Sicherheit in Europa aktiv mitgestaltet. Millionen von Menschen haben davon profitiert“.

Mit dem Budapester NATO-Gipfel 2008 fand das ein Ende; dort hat die NATO de facto das Veto Russlands akzeptiert, vor allem auch, weil die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel weiter auf die strategische Partnerschaft mit Moskau setzte, das sich bereits in eine Diktatur mit expansionistischen Gelüsten verwandelt hatte, sagt Babst.

Auf jenem Gipfeltreffen wurden der Ukraine und Georgien zwar Mitgliedsversprechen gegeben, aber ohne konkretes Zeitfenster. Wladimir Putin interpretierte diesen Beschluss als Schwäche der NATO und ging gegen beide Länder vor. Georgien überzog er noch im selben Jahr mit Krieg, die Ukraine dann seit 2014. Stefanie Babst spricht in diesem Zusammenhang von einem „fatalen Fehler“ der Allianz, weil damit eine sicherheitspolitische Grauzone in Europa geschaffen wurde.

Die NATO, so betont die Expertin, sei im Kalten Krieg erfolgreich gewesen, weil die Abschreckung funktioniert habe und alle bereit gewesen seien, in militärische Verteidigung zu investieren. An ihrem festen Willen, sich im Ernstfall verteidigen zu wollen, ließen die Bündnispartner nicht den leisesten Zweifel aufkommen. „Heute zerfasern wir unsere Abschreckungsfähigkeit, indem Politiker aller Couleur und Experten in Talkshows ständig darlegen, was wir militärisch alles nicht können oder nicht wollen“, sagt sie. Die Bundesregierung verspreche zwar, die Ukraine so lange wie nötig zu unterstützen, verweigert ihr aber wichtige Waffensysteme. Und von einer gezielten Eindämmungsstrategie gegenüber Moskau sei weit und breit nichts zu sehen. „Das alles ist nicht gerade Ausdruck von Strategiefähigkeit“, kritisiert Babst. Und fügt hinzu: „Die Russen und ihre Freunde in China und im Iran verfolgen die Diskussionen in Deutschland sehr genau. Ein solches Kleinreden unseres Abschreckungswillens gegenüber einem aggressiven Gegner wie Russland wäre im Kalten Krieg undenkbar gewesen.“

NATO muss sich wieder konsolidieren

Der türkische Präsident Recep Tayyib Erdoğan (links) und der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán. (Foto: picture alliance / AP)

Babsts Einschätzungen zeigen: Die NATO muss sich wieder konsolidieren, um für die neue Weltunordnung gewappnet zu sein. Die Nuklearstrategie der Allianz stammt noch von 2012 und sieht keine kurzen Reaktionszeiten vor, wie sie heute nötig wären, um hoch aggressive Akteure wie Russland abzuschrecken. Auch muss das Bündnis sein globales Netzwerk an Partnerschaften neu fokussieren. Frankreich verhinderte beim letzten Gipfel ein NATO-Verbindungsbüro in Japan. Dabei sind die asiatischen Partner inzwischen essenziell, wie der Rüstungsbeistand Südkoreas gegen die russische Aggression zeigt. Die NATO unterhält ein Gestrüpp aus Konzilen, Dialogformaten und Friedenspartnerschaften aus der Epoche der Stabilisierungsoperationen, das dringend gestrafft werden muss. Ob die NATO-Staaten eine neue, überzeugende Allianzstrategie entwickeln und vor allem umsetzen, ist offen. Auf den neuen Generalsekretär kommt viel Arbeit zu. Schon hier drohen Querelen.

Eigentlich sollte bis zum Jubiläumsgipfel in Washington im Juli feststehen, wer auf Jens Stoltenberg folgt. Dessen Amtszeit wurde bereits zweimal bis Oktober dieses Jahres verlängert. Mark Rutte – kommissarischer Ministerpräsident der Niederlande – hatte seine Ambition erklärt. Er galt bis vor Kurzem fast schon als gesetzt. Die großen NATO-Staaten USA, Großbritannien, Frankreich und Deutschland hatten sich öffentlich für ihn ausgesprochen. Nun hat auch der scheidende Präsident Rumäniens Klaus Johannis seinen Hut in den Ring geworfen. Offensichtlich setzt er darauf, sich als Kandidat der NATO-Ostflanken-Staaten positionieren zu können. Aus dieser Region der NATO kam noch nie ein Generalsekretär.

Von den beiden notorischen Störenfrieden der Allianz, Türkei und Ungarn, hat Ungarn bereits Front gegen Rutte bezogen. Die Eindämmung der internen Blockaden wäre wichtig für die NATO. Doch gerade hier zeigt sich, wie endlich ihre Reformfähigkeit ist. Erst vor drei Jahren setzte die NATO eine Reflexionsgruppe ein, um ihre Strukturen zukunftsfähig zu machen. Deren Co-Leiter, Ex-Verteidigungsminister Thomas de Maizière, versprach sich viel davon, dass Vetos nur noch von Ministern und nicht von Beamten eingelegt werden dürfen (siehe loyal 3/2021). Doch der Vorschlag ging den Mitgliedsstaaten zu weit.

New Force Model

Der NATO-Korrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Thomas Gutschker, zeigt sich gegenüber loyal skeptisch, was die momentane Krise der Allianz angeht. Für eine klare Perspektive zugunsten der Ukraine sei die Zeit nicht reif. Präsident Selenskyj habe beim NATO-Gipfel in Vilnius versucht, eine Entscheidung zu forcieren, und sei damit gegen die Wand gelaufen. „Solange der Krieg in der Ukraine läuft, kann die Allianz keine klare Antwort geben, auch wenn sich Putin dadurch in seiner Aggression bestärkt fühlt.“ Immerhin ist die NATO dabei, stärkere konventionelle Kräfte für die Abwehr eines Gegners wie Russland neu aufzustellen.

Bislang gibt es die NATO Response Force. Nach ihrem Konzept sollen innerhalb von 45 Tagen bis zu 45.000 Soldaten an den Rändern des Allianzgebiets eingesetzt werden können. Das sogenannte New Force Model sieht nun eine Truppenstärke von 100.000 Mann in zehn Tagen vor, in der letzten Mobilisierungsstufe sogar 800.000. Doch die multinationalen Großverbände der NATO-Europäer müssen erst aufgebaut werden. „Es braucht solche klaren Zeichen gegenüber Putin“, so Gutschker, „das ist die einzige Sprache, die er versteht.“

„Deutschland muss mehr investieren“

Dafür wird die Anzahl der bisher zehn NATO-Korps erhöht. Alle Korps sollen mit drei Divisionen hinterlegt werden. Die Korps werden auf die geplanten NATO-Regionen Nord, Zentrum und Süd verteilt. Jedes Korps steht unter der Leitung einer Rahmennation wie Deutschland. Angus Lapsley, stellvertretender NATO-Generalsekretär für Verteidigungspolitik und -planung, zu loyal: „Um diese Streitkräfte zu befähigen, brauchen wir unter anderem mehr Kampfunterstützung und Logistik auf Korps- und Divisionsebene. Verbündete wie Deutschland müssen hier mehr investieren.“

Soldaten des Jägerbataillons 413 auf dem Truppenübungsplatz Pabradė in Litauen im Frühjahr 2023. Für Europas Wirtschaftsmacht Nr. 1 Deutschland ist es bereits ein Kraftakt, eine Heeresbrigade im Baltikum zu stationieren. (Foto: Stephan Pramme)

Die Bundeswehr wird ihre erste Division für dieses sogenannte New Force Model 2025 nur mit Einschränkungen aufstellen können, das zeigen die Wehrplanungen. Der Großverband muss aus dem gesamten Heer alimentiert werden. Die im Aufbau befindlichen neuen Mittleren Kräfte erreichen erst Mitte der nächsten Dekade ihre volle Einsatzfähigkeit. Auch bei weiteren zentralen NATO-Armeen sieht es dürftig aus. Der Verteidigungsausschuss des britischen Unterhauses stellte vor Kurzem fest, dass Großbritanniens Beitrag für das neue NATO-Streitkräftemodell – ein britisch geführtes NATO-Korps mit Kampftruppen in Divisionsstärke – frühestens 2035 kommen kann.

In Deutschland ist noch völlig unklar, ob eine nachhaltige Finanzierung der Bundeswehrertüchtigung gelingt. Das Sondervermögen wird spätestens 2028 aufgebraucht sein. Laut dem entsprechenden Gesetz sollen die Mittel für die Streitkräfte danach aus dem regulären Haushalt kommen. Dafür müssten aber andere Posten – etwa im Sozialbereich – massiv gekürzt oder die Schuldenbremse gelockert werden. Bis jetzt hat keine Partei ein Konzept, wie sie das umsetzen will.

„Keep the Americans in“

Sollte Donald Trump der nächste US-Präsident werden, könnten die europäischen NATO-Mitglieder ganz schnell vor der Frage stehen, wie sie mit weniger Beistand aus den USA auskommen wollen, wenn nicht gar ganz ohne. Das betrifft das konventionelle Engagement der USA in Europa, insbesondere aber auch den amerikanischen Nuklearschirm. So kommt am Ende dem dritten Postulat des ersten NATO-Generalsekretärs Lord Ismay womöglich die künftig entscheidende Bedeutung zu: „To keep the Americans in“ – die Amerikaner drinnen zu halten in der NATO. Die westliche Welt hätte sich in düstersten Träumen nicht vorstellen können, dass es um diese Frage tatsächlich einmal ganz konkret gehen könnte.

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