Die neue Speerspitze der NATO
Angesichts der Bedrohung durch Russland hat sich die NATO eine neue Speerspitze gegeben. Die frühere NATO Response Force in Brigadestärke mit ihrer Schnellen Eingreiftruppe VJTF (Very High Joint Task Force) ist Geschichte. Jetzt gilt das NATO Force Model, auch New Force Model genannt. Für die Bundeswehr bedeutet das: größeres Engagement.
Die VJTF als Kern der NATO Response Force wurde erstmals 2015 nach der Annexion der Krim durch Russland aufgestellt. Ein multinationales Landstreitkräftekontingent mit einer Stärke von rund 5.000 Soldaten wurde durch Komponenten der Luft- und Seestreitkräfte sowie Spezialeinheiten ergänzt – alles in allem rund 20.000 Soldaten. Die Führung der VJTF wechselte jährlich. Deutschland stellte 2015 mit dem Panzergrenadierbataillon 371 den ersten Leitverband und war noch einmal 2019 (Panzerlehrbrigade 9) und 2023 (Panzergrenadierbrigade 37) Leitnation. Die letzte VJTF 2024 wurde von Großbritannien mit seiner 7th Light Mechanised Brigade angeführt. Im Falle eines Angriffs hätte eine Vorhut dieser Schnellen Eingreiftruppe innerhalb von zwei bis drei Tagen nach einer Alarmierung verfügbar sein müssen, die Hauptkräfte innerhalb von fünf bis sieben Tagen.
Die NATO musste nach der Invasion Russlands in der Ukraine vor drei Jahren erkennen, dass die bisherigen Anstrengungen für eine rasche Reaktion und ausreichende Stärke auf einen Angriff auf Bündnisgebiet nicht ausreichen würden. Sie beschloss deshalb ein neues Format: das NATO Force Model (NFM), das nun das alte System von NRF und VJTF abgelöst hat.
Bundeswehr geht „all in“
Für die Bundeswehr bedeutet dies ein größeres Engagement. Waren in der bisherigen NATO Response Force insgesamt gut 14.000 deutsche Soldaten verplant, so werden es im New Force Model mehr als doppelt so viele sein: rund 35.000 von insgesamt NATO-weit 100.000. Laut Verteidigungsministerium geht die Bundeswehr damit „all in“. Die Aufmarschzeit soll nicht mehr als zehn Tage betragen. Sollten diese 100.000 Mann nicht ausreichen, um einen Angreifer abzuschrecken, müssten weitere Kräfte herangeführt werden. Die NATO plant in der letzten Ausbaustufe des NFM mit 500.000 Mann, die in einem Zeitraum von 30 bis 180 Tagen gefechtsbereit sein müssen. Für Deutschland heißt das, dass nahezu die gesamten deutschen Streitkräfte hierfür vorgesehen sind, so hört man aus dem Ministerium. Hinzu kommt noch, dass im Falle eines russischen Angriffs Deutschland Drehscheibe für den NATO-Aufmarsch wäre und auch hier im Host Nation Support deutlich stärker gefordert sein würde als in früheren Planungen.
Auch im NATO Force Model gibt es eine schnelle Eingreiftruppe, quasi die Nachfolgeformation der VJTF. Sie heißt Allied Reaction Force (ARF) und ist mit 40.000 Soldaten deutlich größer als die VJTF. Auch ist die ARF im Gegensatz zur VJTF ein Verband, der in allen militärischen Dimensionen agieren kann, auch in den Dimensionen Cyberraum und Weltraum, was die VJTF nicht konnte. Die ARF soll innerhalb von zehn Tagen einsatzbereit sein. Geführt wird sie zunächst drei Jahre lang vom NATO Rapid Deployable Corps mit seinem Hauptquartier in Solbiate Olona nördlich von Mailand. Die ARF wurde Mitte 2024 unter Führung der Briten aufgestellt und NATO-zertifiziert. Beteiligt sind am ersten Kontingent auch spanische und italienische Verbände. Die ARF absolvierte im vergangenen Herbst eine erste Übung auf dem Westbalkan. Während die Einsatzbereitschaft der VJTF von Januar bis Dezember eines Jahres lief, ist für die ARF ein Zeitraum jeweils von Juni bis Juli vorgesehen. Dieser Rhythmus passt besser zu den Ausbildungsprogrammen und dem Manöverkalender der NATO.
Teil einer Gesamtstrategie
Mit dem NATO Force Model passt die NATO ihre Planungen bei Abschreckung und Verteidigung den geänderten Herausforderungen in Europa durch die russische Bedrohung an. Das NFM ist Teil einer Gesamtstrategie, zu der unter anderem auch die Aufstockung der multinationalen Battlegroups an der Ostflanke zu Kampfverbänden in Brigadestärke mit jeweils 5.000 Soldaten gehören und in der zusätzliche Gefechtsverbände in Bulgarien, Ungarn, Rumänien und der Slowakei stationiert werden sollen.