Derzeit baut Russland eine Streitmacht an der Grenze zur Ukraine auf, die offenbar eine militärische Invasion des Landes zum Ziel hat. Gleichzeitig wird der NATO ein kurzfristig gültiges Verhandlungsangebot vorgelegt, welches anzunehmen einer politischen Kapitulation gleichkäme. Es geht dem Kreml hinter seiner Rhetorik von angeblichen „unverzichtbaren Garantien für seine nationale Sicherheit“ um nichts weniger als eine politische Neuordnung des europäischen Kontinents, bei der sich die USA aus Europa verabschieden und Russland Sonderrechte eingeräumt werden sollen, die die außenpolitische (und absehbar auch die innenpolitische) Souveränität der Staaten Mitteleuropas, Nordeuropas und Osteuropas einschränken. Dieses käme einer Neuauflage der berüchtigten Breschnew-Doktrin der eingeschränkten Souveränität der sozialistischen Länder gleich. Das „Verhandlungsangebot“ wird untermauert mit unverhohlenen Drohungen vor einem militärischen Einsatz gegen die Ukraine. Rein „zufällig“ sind die von russischen Firmen in Deutschland unterhaltenen Erdgasspeicher im Sommer nicht aufgefüllt worden und ebenso „zufällig“ nimmt der Transfer russischen Erdgases durch die Jamal-Pipeline deutlich ab.
Gewarnt
Was wir derzeit erleben ist das, wovor Experten für Russland und für internationale Sicherheit – und vermutlich auch der Bundesnachrichtendienst – seit über einem Jahrzehnt warnen. Spätestens seit der Rede des russischen Präsidenten Wladimir vor der Münchener Sicherheitskonferenz im Februar 2007 ist klar, dass Russland die Konfrontation mit dem Westen sucht und einen revisionistischen Kurs eingeschlagen hat. Der russische Revisionismus zielt auf die Umkehrung jener politischen und militärstrategischen Veränderungen ab, die in den Jahren zwischen 1990 und 1992 zu einem deutlichen Verlust des imperialen Besitzstands Russlands geführt hatten.
Die hauptsächlichen Instrumente dieser Politik sind der Aufbau einer – auch nuklearen – militärischen Drohkulisse, die politische Kriegführung (bis hin zur Manipulation von Wahlen und der Aufhetzung von Impfgegnern im Westen) und der Einsatz von Energieträgern zur politischen Erpressung. Russland-Kenner haben wiederholt auch davor gewarnt, dass die Risikobereitschaft des Kremls in dem Maße wachsen wird, wie seine militärische Kraft (und diejenige Chinas) größer wird und die westliche Staatengemeinschaft nicht entsprechend darauf mit eigenen militärischen Maßnahmen reagiert.
Ignorant
All diese Warnungen wurden von der deutschen Regierung konsequent ignoriert. Die Folge ist, dass wir heute mit einer Situation konfrontiert sind, die jener der Sudetenkrise von 1938 ähnelt. Damals stellte Adolf Hitler die Existenzberechtigung der Tschechoslowakei in gleicher Weise in Frage wie die heutige russische Führung die der Ukraine. Putin ist zwar nicht Hitler, das hält ihn aber nicht davon ab, dieselben perfiden Erpressungsversuche gegen die westliche Staatengemeinschaft zu unternehmen, die glaubt, alle Probleme mit Diplomatie, Rüstungskontrolle und gutem Willen lösen zu können. Hitler hat die Tschechoslowakei zur Geisel genommen, Putin die Ukraine.
Die frühere Bundeskanzlerin Angela Merkel und ihre Koalitionspartner von SPD und FDP haben sich über ein Jahrzehnt lang über diese Bedenken hinweggesetzt. Diese Bedenken wurden auch immer wieder von Politikern verbündeter Staaten an sie herangetragen und sind in NATO-Kommuniqués festgehalten, die auch die Unterschrift der früheren deutschen Bundeskanzlerin tragen. Die Bundesregierung hat – im Einklang mit Paris – dennoch stur an ihrer auf „Dialog“ und „Partnerschaft“ setzenden Russlandpolitik festgehalten. Dies war bequem, entsprach dem Harmoniebedürfnis vieler Deutschen und fand den Zuspruch von einem relativ kleinen, aber politisch aktiven Teil der Wirtschaft. Im Wesentlichen bestand diese Politik aus dem Bemühen, Eskalationen zu vermeiden – auch wenn gar kein realer Anlass dazu gegeben war. Der politische Dialog sollte den Kreml davon überzeugen, dass Partnerschaft besser sei als Gegnerschaft. Gemeinsame Wirtschaftsprojekte wie Nord Stream 1 und 2 sollten den Frieden durch wirtschaftliche Verflechtung stabilisieren. Die Gefahr einer russischen Erpressung wurde stets abgestritten. Diese Politik ist heute nicht nur gescheitert, sie hat zudem ganz wesentlich zur derzeitigen Eskalation beigetragen.
Untätig
Die deutsche Politik trägt dafür Mitverantwortung, weil die Bundesregierung den militärischen Aufbau der russischen Streitkräfte während der vergangenen 15 Jahre schlichtweg nicht wahrnehmen und darauf mit militärischen Gegenmaßnahmen reagieren wollte. Die richtige Antwort wäre ein entschiedener Beitrag der Bundeswehr zu einer verbesserten militärischen Abschreckungsfähigkeit der NATO in Ostmitteleuropa gewesen und eine realistische Debatte über nukleare Abschreckung. Zwar hat die Bundesregierung der NATO 2014 Zusagen über die Stärkung der Kampfkraft der Bundeswehr gegeben, aber deren konsequente Umsetzung wurde von der Koalitionspartei SPD (auch vom damaligen Finanzminister Scholz) ausgebremst. Die frühere Bundeskanzlerin Merkel schien der Angelegenheit auch keine große Priorität zuzumessen.
Zudem hat sich die Bundesregierung geweigert, der Ukraine Waffen zur Verteidigung zu liefern – angeblich, weil es schon zu viele Waffen in der Region gäbe und um Putin keinen Anlass zur Eskalation zu geben. Das zweite Abkommen von Minsk im sogenannten Normandie-Format sollte den Weg zu einer politischen Lösung eröffnen. Das Gegenteil ist jedoch eingetreten: die entscheidenden Formulierungen des Minsk-Abkommens sind derart vage und vieldeutig, dass daraus kein politischer Prozess entstehen konnte. Und gerade die Vieldeutigkeit der deutschen und auch der französischen Ukraine-Politik sowie die deutsche Zauderei bei der Aufrüstung der Bundeswehr haben Putin Anlass gegeben, seine Ziele immer höher zu schrauben und einseitig die militärische Eskalation zu suchen. Die derzeitige Erpressungspolitik wäre ohne die deutsche Politik der vergangenen zehn Jahre nicht eingetreten, denn Deutschland hat nichts unternommen, um das Risikokalkül Russlands zu erschweren.
Strategielos
Die deutsche Russlandpolitik implodiert geradezu in diesen Tagen. Die Tragik ist dabei, dass weder der deutsche Bundeskanzler noch die Partei- und Fraktionsführung der SPD dieser Tatsache ins Auge blicken wollen. Stattdessen wird an der bisherigen Politik der Besänftigung Russlands festgehalten. Nord Stream 2 gilt weiterhin als „rein wirtschaftliches“ Projekt. Rüstungskontrolle gilt als Allheilmittel, um militärischen Bedrohungen entgegenzuwirken. Gleichzeitig wird beklagt, dass die US-Regierung bilateral mit dem Kreml verhandelt und „die Europäer“ nicht mit dabei sind. Tatsache ist: das einzig Positive, was den Unterschied zu 1938 ausmacht, ist, dass dieses Mal die USA die führende westliche Macht sind und dass nicht zaudernde und militärisch schwache europäische Staatsmänner mit dem Herausforderer der internationalen Ordnung verhandeln.
Bundeskanzler Scholz will mit Putin selber reden und beruft sich gerne auf sein Vorbild Helmut Schmidt. Von dem könnte er tatsächlich einiges lernen. Schmidt nämlich hatte sich im Gegensatz zu Scholz schon lange vor seiner Kanzlerschaft mit Strategiefragen und Abschreckungspolitik befasst. Aus Anlass der sowjetischen Nuklearrüstung in den 1970er-Jahren initiierte er eine Politik, die neue Rüstungsanstrengungen mit Verhandlungsangeboten kombinierte. Vergleichbares ist von der SPD-geführten heutigen Bundesregierung offenkundig nicht zu erwarten. Auch die Grünen sind nicht für mehr Rüstung. Sie kritisieren zwar Nord Stream 2 und die Politik des Kremls in starken Worten. Aber letztlich wollen sie lieber dem Vertrag über das Verbot von Kernwaffen beitreten als über die Anpassung der nuklearen Abschreckung an die heutige Bedrohungslage zu diskutieren. Und aus der FDP hört man wenig zur derzeitigen Krise.
Prof. Dr. Joachim Krause ist Direktor des Instituts für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel und Herausgeber der Zeitschrift für strategische Analysen SIRIUS.