Die „Documents Women“ vom Bund
Auch in den Bundeswehrbibliotheken gibt es Raubgut: Bücher, die einst Juden, Gewerkschaften oder Kirchen gehörten und die zwischen 1933 und 1945 unrechtmäßig in Besitz des NS-Regimes kamen. In der Nachkriegszeit gelangten sie an die Bundeswehr. Eine Gruppe von Bibliothekarinnen spürt diese Bücher und ihre ursprünglichen Besitzer auf. Ein Besuch bei den „Documents Women“ vom Bund in Bonn.
Raoul Fernand Jellinek-Mercedes war ein österreichischer Schriftsteller. Im Ersten Weltkrieg diente er als Leutnant. Als feinsinniger Intellektueller und Musikliebhaber unterstützte er den Wiener Musikverein. Er lebte in Baden bei Wien und besaß neben einer stattlichen Musikaliensammlung auch wertvolle Gemälde und eine große Bibliothek. Dieser Besitz weckte nach dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich die Begierde der neuen nationalsozialistischen Herrscher. Im Juli 1938 wurde Jellinek-Mercedes – wie so viele Leidensgenossen – von den Nationalsozialisten aufgefordert, seine Vermögensverhältnisse offenzulegen. Sein Besitz wurde als jüdisches Vermögen deklariert, obwohl sein Geburtsnachweis aus dem Jahr 1888 gar keine Religionsangabe enthielt und er beteuerte, nur zweiten Grades jüdischer Abstimmung laut den Nürnberger Rassegesetzen zu sein.
Jellinek-Mercedes rang mit den nationalsozialistischen Behörden, um nicht als Jude im Sinne der rassistischen „Verordnung über die Anmeldung des Vermögens von Juden“ eingestuft zu werden. Es half nichts, die neuen Herrscher in Österreich blieben hart. Im Februar 1939 erschoss sich der 51-Jährige; er konnte dem Druck der Gestapo und der „Vermögensverkehrsstelle“ in Baden nicht länger standhalten. Seine Witwe Leopoldine war gezwungen, Wertsachen und Immobilien unter Wert zu verkaufen, um die geforderte „Judenvermögensabgabe“ in Höhe von 32.000 Reichsmark zu entrichten.
So wurde die umfangreiche und wertvolle Privatbibliothek des Schriftstellers in alle Winde zerstreut. Einige seiner Bücher befinden sich heute auch in Bibliotheken der Bundeswehr. Ein solches Exemplar hält Birgit A. Schulte in den Händen. Es ist ein militärgeschichtlicher Titel: „Die Operazionen der verbündeten Heere gegen Paris im März 1814“ – Operationen tatsächlich mit z geschrieben – eines gewissen Johann-Baptist Schels, ein österreichischer Offizier. Das Buch ist 1841 in Wien erschienen. Es ist eine bibliophile Kostbarkeit, die aus dem Besitz von Raoul Fernand Jellinek-Mercedes unrechtmäßig vermutlich zunächst in ein Antiquariat und von dort über verschiedene Zwischenbesitzer in eine Bibliothek der Nationalen Volksarmee und nach 1990 schließlich in eine Fachbibliothek der Bundeswehr gelangte.
„Raubgutgruppe“
Schulte ist Leiterin des Fachinformationszentrums der Bundeswehr beim Bundesamt für Infrastruktur, Umweltschutz und Dienstleistungen in Bonn. Der Leitenden Bibliotheksdirektorin untersteht ein sechsköpfiges Team, das in den Bibliotheken der Bundeswehr nach genau solchen Büchern fahndet. Diese „Raubgutgruppe“, wie das entsprechende Sachgebiet inoffiziell genannt wird, besteht neben Bibliothekarinnen auch aus einer Kunsthistorikerin und einer Literaturwissenschaftlerin. Sie alle haben ein Ziel: Die aus der Zeit des nationalsozialistischen Terrors unrechtmäßig in den Besitz der späteren Bundeswehr gelangten Bücher den Erben der einstigen Eigentümer zurückzugeben – oder sie rechtmäßig anzukaufen. Es sind die „Documents Women“ der Bundeswehr.
Schulte spielt mit dieser Bezeichnung auf den Kinofilm „Monuments Men – ungewöhnliche Helden“ von 2014 mit George Clooney in der Hauptrolle an. Darin geht es um eine Gruppe amerikanischer Kunsthistoriker, die nach der Landung der Alliierten in der Normandie 1944 den Auftrag haben, von den Nationalsozialisten gestohlene Kunstwerke ausfindig zu machen und ihren rechtmäßigen Besitzern zurückzugeben. Der Film beruht auf einer wahren Geschichte.
„Der Vergleich zwischen uns und den ‚Monuments Men’ im Film hinkt natürlich“, räumt Schulte ein. „Wir sind nicht im Krieg, wir tragen keine Uniform, und wir forschen auch nicht nach Werken der bildenden Kunst, sondern suchen nach Büchern.“ Aber sie bekennt, dass ihr Team durchaus von Außenstehenden ein bisschen so angesehen wird, wie die US-Kollegen im Zweiten Weltkrieg, die Kunstwerke vor der Barbarei retten sollten. Und sie spielt augenzwinkernd mit dieser Zuschreibung.
Eine reisende Task-Force
Die Aufgabe, vor der ihr Team steht, ist nicht minder herausfordernd wie das, was die unter anderem von George Clooney, Matt Damon, Bill Murray und John Goodman im Film verkörperten Kunsthistoriker leisten mussten. In den 60 Bundeswehrbibliotheken schlummern rund eine halbe Million Bände, die vor 1945 erschienen sind. „Die schauen wir uns nun genauer an“, sagt Schulte. 200.000 haben sie schon überprüft. Und weil das nur an Ort und Stelle geht, bezeichnet sie ihr Team als eine „reisende Task-Force“.
Bibliothek für Bibliothek, Magazin für Magazin nehmen sich die Provenienz-Expertinnen vor und versuchen, die Herkunft der Bücher zu ermitteln. „Autopsie“ nennt man diese Sichtung in der Fachsprache. Dafür nehmen die Wissenschaftlerinnen die in Frage kommenden Bücher direkt am Regal in die Hand, suchen nach Spuren von Vorbesitzern wie Stempeln und Einträgen, studieren die Eingangsvermerke in den Zugangsverzeichnissen der Bibliothek, begeben sich im Nachgang in Archive, werten weitere Quellen aus und versuchen so, der „Biografie“ des jeweiligen Buchs auf die Schliche zu kommen.
2019 begann die Bundeswehr mit diesem Projekt. Ausgangspunkt war eine Stichprobe 2016 und 2017 in den Altbeständen der Bundeswehrbibliotheken. Diese hatte ergeben, dass sich offensichtlich etliche Bücher unklarer Herkunft in den Beständen befinden. Durch eine Weisung des damaligen Staatssekretärs Gerd Hoofe wurde dann das Fachinformationszentrum der Bundeswehr beauftragt, sämtliche Altbestände der Bibliotheken im Geschäftsbereich des Verteidigungsministeriums systematisch auf ihre Provenienz zu untersuchen. Mit diesem Auftrag löst das Wehrressort eine Selbstverpflichtung von Bund, Ländern und kommunalen Spitzenverbänden zur historischen Aufklärung der Herkunft von Kulturgut ein – und bekennt sich somit zur historischen Verantwortung.
Projekt endet 2028
Zunächst waren zwei Mitarbeiterinnen damit befasst, Bücher aus der NS-Zeit zu identifizieren, deren Herkunft unklar ist. Nach und nach wuchs das Team. Die heute sechs Mitarbeiterinnen haben noch bis 2028 Zeit, sich durch die Büchereien der Bundeswehr zu arbeiten, dann endet das Projekt.
Das Buch aus dem Besitz des österreichischen Schriftstellers Raoul Fernand Jellinek-Mercedes war leicht zu identifizieren. Es enthielt auf der ersten Seite ein Exlibris, also einen eingeklebten Zettel als Besitzvermerk. Solche Exlibris können selbst kleine Kunstwerke sein, sind sie doch oft reich gestaltet und auf jeden Fall individueller Ausdruck des Besitzers. Ein rundes Dutzend Bücher aus der Sammlung des Österreichers haben die Expertinnen ausfindig machen können. Sie stehen in den Bibliotheken des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr in Potsdam und im Zentrum Informationsarbeit in Strausberg.
Neben Exlibris führen oft auch Autogramme und Widmungen auf die Spur des früheren Besitzers eines Buchs. Doch nicht immer ist es so einfach. Bei Tilgungen und Tekturen wird es schon schwieriger. Schulte: „Tilgungen sind entfernte Besitzvermerke wie ausgerissene oder ausgeschnittene Exlibris oder Etiketten, die auf eine Provenienz hindeuten. Tekturen sind Schwärzungen oder Überklebungen von Namenszügen.“ Manchmal geben auch Stempel, Signaturen, handschriftliche Vermerke, etwa auf dem Vorsatzblatt, eine Adresse oder ein Kaufpreisvermerk einen Hinweis.
Rund 350 Bücher als Raubgut identifiziert
Ist in diesem ersten Schritt der frühere Besitzer ermittelt, geht es zum zweiten Arbeitsschritt, und der ist oft sehr kompliziert: die Suche nach dem ursprünglichen Besitzer oder – schwieriger noch – seinen Erben beziehungsweise Rechtsnachfolgern. Hier helfen spezialisierte Datenbanken. Der Deutsche Bibliotheksverband hat Empfehlungen zur Provenienzverzeichnung erarbeitet, so dass online nach einheitlichen Standards gesucht werden kann, was die Trefferquote erhöht. Weil viele Bibliotheken in öffentlichen Einrichtungen am Problem ungeklärter Provenienzen arbeiten, gibt es inzwischen eine intensive Vernetzung in der Szene. Man tauscht sich aus und berät sich gegenseitig. Gefragt ist bei der Recherche aber in jedem Fall Ausdauer, Kombinationsvermögen, Denken über den Tellerrand hinaus und das in den vergangenen Jahren akkumulierte Erfahrungswissen bei den Expertinnen, das Querverweise und kreative Frageformulierungen ermöglicht.
Bis dato sind die Amtsbibliothek des BMVg, die Bibliotheken der Führungsakademie, der Sanitätsakademie, der Offiziersschule des Heeres, Teile der Zentralen Archiv- und Speicherbibliothek der Bundeswehr in Strausberg und weitere Bibliotheken geprüft worden – insgesamt rund 40. Dabei haben die „Documents Women“ von der Hardthöhe etwa 350 Bücher zweifelsfrei als NS-Raub- oder Beutegut identifiziert. Die früheren Besitzer waren jüdische Privatleute und jüdische Gemeinden, aber auch zwangsaufgelöste Arbeitervereinigungen, Freimaurerlogen oder Klöster. Die Rückgabe läuft jetzt an. Zudem sind Recherchen zu 300 weiteren Verdachtsfällen anhängig. Auch die Erben des genannten Buchs von Jellinek-Mercedes konnten ermittelt werden; es wird eine Rückgabe mit anschließendem Rückkauf geben.
Und wenn die Provenienzforschung für die Zeit des Dritten Reichs abgeschlossen ist? Schulte vermutet, dass die Arbeit weitergeht: Denn bei ihrer Sichtung der Altbestände ist den Provenienzforscherinnen aufgefallen, dass es in Bundeswehrbibliotheken auch Bücher gibt, die offensichtlich im Zuge der Bodenreform in der Sowjetischen Besatzungszone und der späteren DDR enteignet und in Staatsbesitz überführt wurden, und die teilweise auf verschlungenen Pfaden nach der Wiedervereinigung dann in die heutigen Bibliotheken der Bundeswehr gelangten. „Die Wege dieser Bände nachzuzeichen, das wäre ein weiterer großer Auftrag“, sagt Schulte.
Provenienzforschung
Die Provenienzforschung widmet sich der Geschichte der Herkunft (Provenienz) von Kulturgütern. Es ist ein junger Zweig der Geschichtswissenschaft und der Kunstgeschichte. Ziel ist es, die früheren Besitzverhältnisse eines Kunstwerks oder Buchs offenzulegen, um herauszufiden, ob es rechtmäßig in den Besitz eines Museums oder einer Bibliothek gelangt ist. Ist das nicht der Fall, versuchen Provenienzforscher die ursprünglichen Eigentümer oder deren Erben ausfindig zu machen, damit das Kunstwerk entweder zurückgegeben oder nachträglich angekauft werden kann. In Deutschland steht die Provenienzforschung durch den massenhaften Kunstraub der Nationalsozialisten zwischen 1933 und 1945 vor besonderen Herausforderungen. Beutekunst oder Raubkunst gibt es aber auch in anderen Zusammenhängen, etwa in der Kolonialgeschichte.
Rose Valland
Im Film „Monuments Men – ungewöhnliche Helden“ gibt es eine Frau, die neben den amerikanischen Kunsthistorikern eine bedeutende Rolle spielt: Rose Valland (1898-1980). Erst Jahrzehnte später ist die französische Kunsthistorikerin von ihren Landsleuten als Heldin entdeckt worden. Sie war es, die die im Pariser Museum Jeu de Paume von den Nationalsozialisten zwischengelagerten gestohlenen Kunstwerke heimlich registrierte und auch vermerkte, wohin Rosenberg, Göring und Konsorten sie verbrachten. Dadurch konnten später viele Gemälde und Skulpturen ausfindig gemacht und zurückgeführt werden. Im Film wird Rose Valland, die dort den Namen Claire Simone trägt, von Cate Blanchett gespielt.
Jetzt ist die erste Biografie über Rose Valland erschienen. Das Buch gibt ihr ihren Platz als furchtlose Frau im Kampf gegen die NS-Barbarei in der Geschichte zurück.
Buchtipp
Jennifer Lesieur: Rose Valland und die Liebe zur Kunst. Die Frau, die 60.000 Kunstwerke rettete
Elisabeth Sandmann Verlag
207 Seiten
25 Euro