Durchwachsene Bilanz
Im zweiten Halbjahr 2020 hatte Deutschland die EU-Ratspräsidentschaft inne. Schon bevor die Bundesrepublik den Vorsitz übernahm, kündigte Bundeskanzlerin Angela Merkel an, dass es eine besondere Ratspräsidentschaft sein würde – ganz im Zeichen der Corona-Pandemie. Das Virus hatte die selbst gesetzten deutschen Ziele für die sechs Monate torpediert. Auch die außen- und sicherheitspolitische Bilanz der deutschen Ratspräsidentschaft ist daher durchwachsen.
Eigentlich hätte im Mittelpunkt der deutschen EU-Ratspräsidentschaft China stehen soll. Das mit einem immer unverhohleneren Machtanspruch auftretende Reich der Mitte wird mehr und mehr zum systemischen Rivalen des Westens. Es lag daher auf der Hand, dass Deutschland einen Schwerpunkt auf den Umgang mit Peking setzen wollte. Die Beziehungen zwischen der EU und China sind einerseits von größter Bedeutung für die heimische Wirtschaft, zugleich sind sie schwierig und spannungsreich.
China setzt seine Interessen rigoros durch, sei es mit der Zerschlagung der Demokratiebewegung in Hongkong, sei es mit seiner massiven Aufrüstung oder der weltweiten Einflussnahme in vielfältigen Dimensionen. In Europa ist es vor allem der Balkan, auf dem Peking Fuß fassen möchte. Es wäre an der Zeit gewesen, diese Dinge zu besprechen, doch der für September in Leipzig geplante EU-China-Gipfel musste pandemiebedingt abgesagt werden. Dabei wäre gerade beim Thema Balkan und China einiges zu klären gewesen sein. Serbien und Montenegro verhandeln bereits über eine Aufnahme in die EU, Nord-Mazedonien, Bosnien-Herzegowina, Albanien und das Kosovo drängen in die Union.
Brüssel war im zweiten Halbjahr 2020 zunächst einmal in der engsten Nachbarschaft gefordert. Das bestimmende außenpolitische Thema in Brüssel während der deutschen Ratspräsidentschaft war die Umsetzung des Brexits, der buchstäblich in letzter Minute gelang. Einen ungeregelten Austritt Großbritanniens zum 31. Dezember 2020 mit unabsehbaren Folgen vor Augen, konnten die Unterhändler gerade noch eben ein Abkommen schließen. Die Wirtschaft und die Menschen auf beiden Seiten des Ärmelkanals atmeten auf.
Die EU-Überwachungsmission Irini soll das UN-Waffenembargo gegen Libyen überwachen. Darauf hatten sich die EU-Länder nach monatelangem Streit im März 2020 geeinigt. Die Durchsuchung eines türkischen Frachters durch deutsche Marinesoldaten der Fregatte „Hamburg“ im November offenbarten jedoch die Konflikte zwischen der EU und der Türkei bei dieser Mission – man kann auch sagen: zwischen NATO-Partnern. Ausgerechnet Deutschland schwächte die EU-Mission vor der libyschen Küste, weil der von deutscher Seite dafür vorgesehene Seefernaufklärer P-3C Orion defekt war. Von acht der in Nordholz stationierten Maschinen sind de facto vier ausgemustert, zwei in der Instandsetzung und eine in Inspektion. Eine Entscheidung über die Beschaffung eines Nachfolgers steht noch aus. Das Beispiel zeigt, dass Deutschland nicht immer in der Lage ist, zugesagte Kapazitäten für internationale Missionen bereitzustellen. Die EU ist zusammen mit den Vereinten Nationen auch in Mali engagiert. Dort stellt Frankreich ein Kontingent von mehr als 5000 Soldaten, Deutschland beteiligt sich mit 1000 Soldaten und Polizisten.
Eine weitere außenpolitische Herausforderung im zweiten Halbjahr 2020 war Weißrussland. Auf die andauernden Proteste der Menschen dort gegen die Wahlfälschung des amtierenden Präsidenten Lukaschenko und sein diktatorisches Regime vermochte die EU nicht angemessen reagieren. Die nötige Einstimmigkeit zur Verhängung von Sanktionen kam nicht zustande, ja das ganze Weißrussland-Thema geriet innerhalb der EU zu einer Farce. Hintergrund war der Streit Zyperns mit der Türkei um Rohstoffe im östlichen Mittelmeer. Um zu verhindern, dass die Türken weiter offensiv in der Nähe Zyperns nach Gas suchen, verlangte die kleine Inselrepublik EU-Sanktionen gegen Ankara, vorher wollte Nikosia nicht für Sanktionen gegen Weißrussland stimmen. Die Blamage für Europa hätte nicht größer sein können. Erst als der Schaden am Ansehen der EU komplett war, konnte sie sich auf Sanktionen wenigstens gegen 59 Vertreter aus Lukaschenkos Clique einigen.
Das Bundesverteidigungsministerium setzte sich während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft angesichts der Corona-Pandemie für einen Ausbau der Kooperation der Sanitätsdienste der europäischen Streitkräfte ein. Zum einen wurde ein Konzept erstellt, um die Bevorratung von Sanitätsmaterial in Pandemiezeiten zu verbessern. Zum anderen wurde die Planübung „Resilient Response 2020“ durchgeführt, um Lehren aus der aktuellen medizinischen Lage zu ziehen. Durch beide Maßnahmen dürfte die EU künftig besser vorbereitet sein auf Krisen wie die gegenwärtige.
Erfolg hatte Deutschland auch mit der Ausgestaltung des strategischen Kompasses der EU. Erstmals wurde eine gemeinsame Bedrohungsanalyse der EU erstellt. Sie wirft einen 360-Grad-Blick auf die Welt und betrachtet all jene Bedrohungen und Herausforderungen, denen die EU bereits jetzt gegenübersteht oder die in naher Zukunft als wahrscheinlich erscheinen. In einem nachrichtendienstlichen Dokument wurden die politischen, wirtschaftlichen, militärischen Bedrohungen für die EU dargestellt. Die dabei gewonnen Erkenntnisse sollen nun Grundlage des weiteren politischen Dialogs der EU-Mitgliedsstaaten sein.