Eigentlich wäre jetzt Olympia…
Die Sportsoldaten der Bundeswehr haben jahrelang trainiert und auf die Spiele von Tokio hingelebt. Doch dann kam Corona. Olympia wurde um ein Jahr verschoben. Nun heißt es für die Athleten: durchhalten. loyal hat zwei von ihnen besucht. Und Menschen kennengelernt, für die Aufgeben keine Option ist.
Den Gedanken daran, dass die Olympischen Spiele von Tokio auch 2021 nicht ausgetragen werden könnten, lässt Gesa Felicitas Krause nicht zu. Schwer genug ist es für die 27-Jährige zu verkraften, dass das große Ziel, für das sie in den vergangenen eineinhalb Jahren so sorgfältig ihre Form aufgebaut hat, nicht wie geplant in diesem Sommer stattfinden wird. Am 23. Juli hätte das Großereignis eröffnet werden sollen. Wegen der Coronakrise wurde es um zwölf Monate verschoben.
Gesa Krause ist Hindernisläuferin. Eine der besten auf dem Globus. Als zweimalige Europameisterin dominiert sie seit 2016 den Kontinent auf der 3000 Meter langen Strecke, die auf jeder vollen Stadionrunde über vier 76,2 Zentimeter hohe Querbalken und durch einen Wassergraben mit Hürde davor führt. Bei Welttitelkämpfen gewann die Hessin 2015 und 2019 zweimal Bronze. In die Herzen der Zuschauer lief sie im Medaillenrennen dazwischen, als sie 2017 in London, von einer vor ihr gestürzten Konkurrentin zu Fall gebracht und dabei vom Knie einer anderen am Kopf getroffen, sich leicht benommen wieder aufrappelte und tapfer kämpfend den Wettbewerb als Neunte beendete.
Die Zähne zusammenbeißen und durchhalten, das gehört für die deutsche Meisterin und Rekordhalterin zum Alltag. 15 Trainingseinheiten pro Woche absolviert sie, um auf internationaler Bühne nicht nur mitzumischen, sondern sich endlich auch den Traum von olympischem Edelmetall zu erfüllen. Regelmäßig legt die zierliche Athletin schon vor dem Frühstück, quasi zum Aufwärmen, sechs Kilometer in zügigem Trab zurück. Physiotherapie, Dehnung, Kraft- und Stabilisationsübungen füllen die Lücken zwischen weiteren, anspruchsvolleren Laufaufgaben, die Trainer Wolfgang Heinig seiner Sportlerin stellt.
Professionalität ist Voraussetzung, wenn ein Talent zur Topathletin reifen will. Doch was Gesa Krause in ihren Sport investiert, gilt selbst in der eigenen nationalen Leichtathletikszene als extrem. Zwischen Oktober 2019 und der Absage vorerst aller Wettkämpfe wegen des grassierenden Erregers der Lungenkrankheit COVID-19 im März hatte sie bereits vier drei- bis vierwöchige Trainingslager in den USA und in Kenia hinter sich gebracht. Als sich das Internationale Olympische Komitee endlich dazu durchrang, den Saisonhöhepunkt in Japan zu verlegen, übte sie gerade im amerikanischen Boulder.
Die Ketten an Höhentrainingslagern sind einerseits dazu da, die trüben und kalten Tage in der Heimat zu umgehen. Der geringere Sauerstoffgehalt in der Luft regt zudem den Organismus an, mehr rote Blutkörperchen zu produzieren. Zurück im Tal ist er dann leistungsfähiger.
Umfeld macht sie auf die Bundeswehr aufmerksam
Ein solches Leben als Vollprofi muss man sich in zeitlicher, aber auch in finanzieller Hinsicht leisten können. Zu Beginn ihrer Karriere, direkt nach dem Abitur und ihrem Olympia-Debüt 2012 in London, hatte Krause es noch auf andere Art versucht, die Elite zu ärgern. Ein erstes Studium brach sie ab, weil es sich nicht mit dem Laufen auf dem angestrebten Niveau vereinbaren ließ. „Ich hatte damals noch keine Vorstellung davon, was richtiger Leistungssport bedeutet“, sagt sie heute. Ihr Umfeld brachte die Sportfördergruppe der Bundeswehr ins Spiel. „Damit hatte ich mich bis dahin nie auseinandergesetzt“, gibt Krause zu. Sie sah sich nicht als Soldatin, und ein anderes Bild der Bundeswehr existierte damals für sie nicht. „Aber ich wurde eines Besseren belehrt.“
Sieben Jahre nach ihrer verkürzten Grundausbildung ist die Sportsoldatin des Jahres 2019 dankbar für diesen Schritt. Aktuell durch Corona mit zahlreichen Unsicherheiten konfrontiert, sei ein verlässlicher Arbeitgeber „ein großes Gut und Gold wert“. Doch die Stabsunteroffizierin sieht auch sonst keine andere Möglichkeit, sich derart abgesichert allein auf Training und Wettkampf konzentrieren zu können. In Abstimmung mit den Verantwortlichen der Mainzer Sportfördergruppe, zu der die Dillenburgerin zählt, schmieden sie und ihr Coach gemeinsam mit dem Bundestrainer die Jahrespläne. Vor jedem Monatsbeginn muss sie einen Trainingsplan vorlegen. Das ebenfalls alle vier Wochen vorgesehene Personalgespräch lässt sich gegebenenfalls aus der Ferne erledigen. Dazu kommen ab und an Präsenzpflichten bei ausgewählten Terminen. Die vierwöchigen Lehrgänge, die dem Vorankommen im System Bundeswehr dienen, können die Sportler im nach-olympischen Jahr oder anderen weniger wichtigen Phasen absolvieren. Ihr Auftrag ist es, Deutschland zu repräsentieren und Medaillen für ihr Land zu gewinnen. Entsprechend hat der Sport Priorität.
Jeder dritte DOSB-Sportler war ein Sportsoldat
Die Erfolgsbilanz kann sich sehen lassen. Bei den Olympischen Sommerspielen 2016 in Rio stellten Bundeswehrangehörige ein Drittel der aus 423 Teilnehmern bestehenden Delegation des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB). Mit sechsmal Gold, fünfmal Silber und achtmal Bronze gewannen sie 45 Prozent der 42 deutschen Medaillen.
Die erste Sportfördergruppe wurde 1970 gegründet. Damals mit Blick auf die Olympischen Spiele in München. Seitdem ist die Zahl der zur Verfügung stehenden Plätze rasant angewachsen. Erst im vergangenen April wurde sie von 744 auf 850 angehoben.
„Die Sportförderung der Bundeswehr gehört zu den tragenden Säulen unseres Spitzensportsystems“, sagt Bahnrad-Olympiasieger Robert Bartko, der beim DOSB, der Dachorganisation des deutschen Sports, für diesen Bereich zuständig ist. Ein Nachteil im Vergleich zu ähnlich entgegenkommenden Arbeitgebern wie den Landespolizeien oder der Bundespolizei, die ebenfalls Sportfördergruppen anbieten, bestehe zwar darin, dass sich die Berufsausbildung erst an die sportliche Karriere anschließt und nicht parallel dazu verläuft. Dafür können Sportsoldaten flexibler agieren und sich mithilfe des Berufsförderungsdienstes und der Möglichkeiten, die dieser anbietet, später in die verschiedensten Richtungen orientieren.
Zugehörigkeit wird jährlich überprüft
Die Zugehörigkeit zur Sportfördergruppe wird anhand der Ergebnisse und Perspektiven jährlich überprüft. Obwohl sich nicht jeder Kadersportler und potenzieller Kandidat für den Dienst an der Waffe begeistern kann, reichen die zur Verfügung stehenden Plätze laut Andreas Hahn, dem Referatsleiter Spitzensport im Kommando Streitkräftebasis in Bonn, nicht aus, um den bestehenden Bedarf zu decken. Die Verlegung der Spiele sorgt für zusätzliche Probleme: Etwa 40 bis 50 Athleten hätten nach Erlöschen der Flamme Platz machen sollen für den Nachwuchs Richtung Paris 2024. An einer Lösung wird gearbeitet. Hahn erwägt unter anderem Reservedienstleistungstage zur temporären Unterstützung betroffener Sportler.
Um attraktiv zu bleiben, aber auch, um nach der Karriere die als leistungswillig geltenden Sportler im eigenen System zu halten, hat die Bundeswehr in der jüngeren Vergangenheit an sich gearbeitet. Ein eigener Studiengang Sportwissenschaften wurde in München eingerichtet und die Offizierslaufbahn für die in militärischer Hinsicht nur unzureichend ausgebildeten Topathleten geöffnet, um mit den neuen Kräften die Sportausbildung und das Gesundheitsmanagement der Truppe zu verbessern. Defizite im Schießen oder anderen soldatischen Herausforderungen, die aus den für Sportler auf vier Wochen verkürzten Grundausbildungen und Lehrgängen resultieren, werden mit besonderen Maßnahmen behoben.
Auch für potenzielle Paralympics-Teilnehmer gibt es bei der Bundeswehr Platz, „da sind wir ebenfalls der größte Förderer“, sagt Hahn – obwohl die körperlich eingeschränkten Athleten die Tauglichkeitskriterien nicht erfüllten. Sie könnten ihre Kenntnisse aber in der Öffentlichkeitsarbeit, der Sporttherapie oder bei Vorträgen einbringen.
„Es ist, wie es ist“
Tim Focken war schon ganz nah dran an seinem Debüt bei den Spielen für behinderte Spitzensportler, bevor diese wie die olympischen um ein Jahr in den Sommer 2021 verschoben wurden. Bei den Weltmeisterschaften im Oktober 2019 in Sydney hatte der 35 Jahre alte Luft- und Kleinkalibergewehrschütze als Vierter einen Quotenplatz für Deutschland gesichert und beste Aussichten darauf, diesen selbst wahrnehmen zu dürfen. Corona hat das Roulette um die nationale Qualifikation wieder angeworfen. „Es ist, wie es ist“, sagt Focken. Das Schicksal hat ihn auf harte Art und Weise gelehrt, sich keine Gedanken über Dinge zu machen, die er nicht ändern kann.
Bis vor wenigen Jahren hätte sich der Familienvater ein Leben, wie jenes, das er als Leistungssportler jetzt führt, nicht vorstellen können. Zwar war er als Junge schon ehrgeizig und talentiert, ließ als Zweitklässler bei den Bundesjugendspielen alle anderen Kinder in der eigenen Altersklasse an seiner Grundschule hinter sich. Doch in den Verein zog es ihn nie. Nach Abschluss seiner Lehre als Zimmermann trat Focken seinen Wehrdienst an. Weil die Aussichten im Baugewerbe sowieso schlecht waren, verpflichtete er sich gleich für acht Jahre. Bei den Fallschirmjägern, bei denen Focken schließlich landete, pushten er und ein Stubenkamerad sich zu immer mehr Sporteinheiten und größtmöglicher Fitness.
2010 musste er nach Afghanistan. Dort, bei einem Einsatz am 17. Oktober, riss ihn das Projektil einer Scharfschützenwaffe aus allen damaligen Plänen heraus. Den linken Arm kann Focken seitdem nicht mehr aktiv heben. Zwei Muskelgruppen darin lassen sich nicht mehr ansteuern, ein knöcherner Schaden verhindert die Rotation im Schultergelenk, das Platten und Schrauben zusammenhalten.
Sport gibt Focken eine neue Perspektive
Während der Therapie eröffnete dem weiterhin vor Bewegungsdrang strotzenden jungen Mann ein Pilotprojekt eine neue Perspektive. Nach dem Vorbild anderer Staaten wie den USA sollten auch bei der Bundeswehr einsatzgeschädigte Soldaten nicht mehr nur austherapiert und dann verabschiedet oder in ein Büro gesetzt werden. Ihre Motivation und Möglichkeiten wollte man nun weiter für die Truppe nutzen. Focken schaffte es zu den Warrior Games in Colorado Springs, einem Mehrkampf aus mehreren militärnahen Disziplinen, wo er den Gesamtsieg errang. Danach spezialisierte er sich aufs Schießen. Die Bundeswehr übernimmt die Kosten dafür. Die Waffe ist geliehen, die Munition gestellt, und für seinen neuen Auftrag wird der Oberfeldwebel genauso wie seine Kameraden entlohnt.
Der Sport hat Focken nicht nur ein neues Ziel gegeben. Seine Augen leuchten vor Begeisterung und Glück, wenn er davon spricht, wie er sich schon zwei bis drei Stunden vor einem Wettkampf oder Test auf die Herausforderung einstellt. Wie er gelernt hat, sich in eine Phantasiewelt zu verabschieden, um sich von negativen Einflüssen abzulenken. Und welche Chancen das Sportschießen nicht nur ihm, sondern auch seiner Familie, zu der neben seiner Frau Sabrina der elfjährige Sohn Maxim und die dreijährige Tochter Zoey zählen, durch die vielen neuen Kontakte bietet.
Im nächsten Jahr könnte das Mitglied des SV Etzhorn der erste Deutsche sein, der es als einsatzgeschädigter Sportsoldat zu den Paralympics schafft. Vorausgesetzt, die Spiele werden nicht abgesagt.