Eine Bundeswehr, aber keine Streitkräfte
Frieden, Freiheit und Wohlstand der Deutschen hängen von der derzeitigen Weltordnung ab. Nur sehen das Politik und Gesellschaft offenkundig anders.
Wozu eigentlich Streitkräfte? Es ist symptomatisch für die sicherheitspolitische Kultur Deutschlands, dass diese Frage überhaupt gestellt werden muss. Was anderswo eine Frage des „Wie“ ist, ist in Deutschland eine Frage des „Warum“. Was überall sonst in den Bereich der Anwendung fällt, gehört hierzulande ins Feld der Grundlagenforschung.
Natürlich hat das sein Gutes. Eine Vergewisserung auch über Selbstverständliches kann eine Tugend sein, und in Deutschland, für das das historische Trauma des Zweiten Weltkriegs identitätsstiftend ist, muss es das vielleicht sogar. Aber wenn die Antwort auf die Frage so ausfällt, wie es sich im Jahr 2018 darstellt, dann kann etwas nicht stimmen. Man kann das nämlich so sehen: Das vereinigte Deutschland hat seine Streitkräfte, die Bundeswehr, mehr als 25 Jahre lang reformiert, mit dem Ergebnis, dass sie nicht mehr einsetzbar sind. Wenn die Absicht bestand, die „deutsche Kriegsmaschinerie“ auf staatstragende Weise zu zerstören, dann ist das Manöver erfolgreich zum Abschluss gebracht worden.
Die Armee, die die Deutschen haben wollen
Die wirklich großen Zyniker gehen sogar noch einen Schritt weiter. Für sie waren es nicht Inkompetenz, Ideologie, strategisches Unverständnis und allgemeine Geringschätzung, die zur gegenwärtigen Malaise der Bundeswehr geführt haben. Für sie ist, unterbewusst, der Volkswille getreulich umgesetzt worden. Die Deutschen haben jetzt genau die Armee, die sie seit 1945 immer schon wollten, nämlich eine, die man nicht einsetzen kann. Auf eine Weise, dass es kaum jemand mitgekriegt hat, hat sich erfüllt, was politisch gewünscht war: Ein Land, das seinen eigenen guten Absichten nicht vertrauen mag, muss sich jetzt wenigstens keine Sorgen mehr darüber machen, dass es mit seinen Soldaten größeren Schaden anrichtet. Um ganz sicher zu gehen, müsste der nächste Schritt die Abschaffung der Rüstungsindustrie sein. Und auch da sind die Weichen ja gestellt.
Wer seinen Zynismus aber trotz der von der Politik herbeigeführten desaströsen Lage der Bundeswehr noch kontrollieren kann, der muss die Frage nach dem „Warum“ von Streitkräften wieder und wieder stellen und beantworten. Warum unterhalten Staaten Armeen? Warum tut es Deutschland, und warum ist das auch richtig so? In der Beantwortung der Frage liegt der Schlüssel zur Veränderung des Bewusstseins über die eigene Lage und die gestellte Aufgabe. Und damit zur Veränderung der Politik.
Das physische Überleben hat Vorrang vor allem
Oberflächlich betrachtet ist die Antwort einfach. Kernaufgabe eines Staatswesens ist die Gewährleistung der Sicherheit seiner Bürger. Seitdem sich Menschen in sozialen Gebilden organisieren, ist einer der Hauptgründe dafür, dass das Überleben so besser gewährleistet ist. Was in archaischen Strukturen von Familie, Clan und Stamm Aufgabe aller war, wo also jeder Bauer, jeder Jäger und jeder Handwerker auch gleichzeitig Krieger sein musste, wird im modernen Staat arbeitsteilig organisiert. Eigene Berufsgruppen für die Wahrung der Sicherheit entstehen. Im Inneren die Polizei und die Justiz, für den Schutz nach Außen die Streitkräfte. Sie zu unterhalten, auszustatten und die Qualität ihrer Aufgabenerfüllung zu sichern, ist absolute Kernaufgabe staatlichen Handelns, historisch aufgrund der unmittelbaren Dringlichkeit des physischen Überlebens sogar noch vor anderen Staatsaufgaben wie Bildung, Gesundheit und Alterssicherung angesiedelt. Nicht umsonst ist bedrohlichstes Merkmal jedes Staatsversagens der Zusammenbruch des Sicherheitsapparates.
Nun kann eingewandt werden, dass wir in so archaischen Zeiten nicht mehr leben, und dass Sicherheit heute nicht mehr die Frage des unmittelbaren Überlebens in der Auseinandersetzung mit einem tödlich verfeindeten Gegenüber ist. Das ist zum Teil richtig. Aber erstens ist dies historisch eher die Ausnahme denn die Regel, und zweitens ist dieser Zustand ja eben auch gerade Ergebnis kluger Sicherheitspolitik, die durch die Demonstration von Wehrhaftigkeit und Stärke die gewaltsame Auseinandersetzung gar nicht erst zulässt. Aber zugegeben, in Deutschland, wo man Frieden eher für das Ergebnis von Friedenswillen denn als Ergebnis funktionierender Abschreckung hält, hat diese Argumentation nicht viele Freunde. Dass das Auswirkungen auf den Zustand der Streitkräfte hat, kann nicht überraschen.
Aber Streitkräfte sind nicht nur Hauptinstrument staatlicher Daseinsvorsorge. Sie sind auch politisches Instrument der Staatsführung. Für Deutschland im 21. Jahrhundert ist diese politische Funktion enorm vielfältig. Auf der politischen Symbolebene sind Streitkräfte ein Ausweis staatlicher Souveränität, also des Selbstbehauptungswillens. Wie subtil diese Botschaft ist, lässt sich beim wichtigsten Symbolakt des Militärs beobachten, der Ehrenformation beim Empfang eines ausländischen Staatsgastes.
Mit militärischen Ehren
Der Empfang mit militärischen Ehren übermittelt dem Angekommenen drei Botschaften. Erstens: Du bist uns wichtig genug, um dich mit einer Abordnung unserer Streitmacht zu empfangen, und nicht bloß mit dem Protokollchef des Begrüßungskomitees. Das Zeremoniell wertet den Gast auf. Zweitens: Du befindest dich jetzt in unserem Schutzbereich, wir übernehmen Verantwortung für dich und du kannst dich sicher fühlen, solange du bei uns bist. Und drittens: Sieh‘ her, wir zeigen dir gleich beim Empfang offen unsere Waffen (von denen du ja ohnehin weißt, dass wir sie haben), damit du siehst, dass wir nichts Böses im Schilde führen! Wer, ganz wörtlich, sein „Gewehr präsentiert“, der will Vertrauen schaffen, denn er versteckt es nicht. Der Empfang mit militärischen Ehren ist gleichsam das Händeschütteln unter Staaten. Auch das Sich-die-Hand-Geben zwischen zwei Personen hat ja seinen Ursprung als Geste der Deeskalation: Hier, nimm meine Hand, sie verbirgt nichts, sie will dir nichts Böses.
Nur wer versteht, dass Überlebenswille und Schutzinstinkt tief in das Bewusstsein des Menschen eingeprägt sind, der kann auch verstehen, dass Streitkräfte diesem Zweck dienen. Verdächtig ist nicht derjenige, der sichtbar zur Verteidigung fähig ist. Verdächtig ist jener, der so tut, als ginge ihn das nichts an. Denn man glaubt ihm nicht.
Ein Angebot an die Verbündeten
Aber die politische Funktion von Streitkräften geht weit über diese Symbolebene hinaus. Für ein Land, das seine Sicherheit nicht selbstständig gewährleisten kann und deshalb auf Allianzen und Bündnisse angewiesen ist, sind Streitkräfte ein Angebot an die Verbündeten. Seht her, das ist es, was ich einbringen kann, dies ist mein Beitrag! Dies wird auch für dich da sein, so wie das, was du hast, für mich da sein wird. In Bündnissen sind Streitkräfte also nicht nur Zeichen der Wehrhaftigkeit, sondern auch Zeichen des Kooperationswillens. Und sie sind Nachweis darüber, dass man es mit seiner Verpflichtung in der Allianz ernst meint, statt einseitig auf Kosten anderer in den Genuss garantierter Sicherheit kommen zu wollen.
Aus diesem Grund ist die Debatte in der Nato über Verteidigungsausgaben in Höhe von zwei Prozent der Wirtschaftsleistung trotz aller berechtigter Kritik an dieser Kenngröße nicht leicht abzutun. Nicht nur will die Hauptschutzmacht, die USA, sehen, dass die Beschützten ihren Beitrag leisten. Sie will auch sehen, dass die Beschützten ihren eigenen Schutz selbst ernst nehmen. Denn warum sollte die Schutzmacht ihn ernst nehmen, wenn es der zu Schützende selbst nicht tut?
Hinzu kommt, dass nicht nur die Schutzmacht mit Unverständnis reagiert, wenn man seinen Teil nicht beiträgt. Alle anderen Alliierten, oft sind es Nachbarländer, die sich auf ihren Partner verlassen können wollen und müssen, fragen sich auch, ob man es noch mit einem zuverlässigen Partner zu tun hat. Der Erhalt von Streitkräften auf hohem Niveau bei jedem einzelnen Partner ist für den Zusammenhalt eines Bündnisses mindestens ebenso wichtig wie eine gemeinsame Bedrohungsanalyse.
„Pooling und Sharing“
Gerade für ein Land wie Deutschland, das die multilaterale Einbindung seiner Selbst zur Staatsräson gemacht hat, sind einsatzfähige Streitkräfte kein Mittel der Abgrenzung, sondern ein Weg, mit anderen Ländern, die kooperieren, die integrieren, die „Pooling und Sharing“ wollen, ins selbe Boot zu steigen. Starke Streitkräfte machen anschlussfähig, um einen Begriff aus der Soziologie zu benutzen, in einer Welt, in der Kooperation und Anschlussfähigkeit zu den staatspolitischen Grundfertigkeiten und Grundvoraussetzungen für den Erfolg gehören.
Die wichtigste politische Funktion von Streitkräften aber ist, dass sie Instrument zur Erlangung und zum Schutz des Ordnungsmodells sind, dem sich ein Land verpflichtet fühlt. Wer in einer Friedensordnung leben will, in der die offene Gesellschaft, Rechtsstaatlichkeit, politische Partizipation, Minderheitenschutz, Menschenrechte, offene Märkte, Freizügigkeit und Eigentumsrechte die Norm sind – kurzum, wer in Freiheit leben will, der wird dieser Ordnung nach innen und nach außen Geltung verschaffen müssen. Freiheit ohne Wehrhaftigkeit ist entweder geborgte Freiheit oder eine Illusion.
In einer globalisierten Welt haben diese Erkenntnisse extrem unbequeme Implikationen. Denn die Verteidigung der Freiheit (und ihres Zwillings, des Friedens) kann sich dann für ein Land wie Deutschland nicht mehr nur auf den Schutz des Geltungsbereichs des Grundgesetzes erstrecken. Und nicht einmal der europäische Rahmen, von dem Deutschland abhängig ist und dem es sich verpflichtet hat, reicht ganz hin. Das Ordnungsmodell, für das Deutschland einstehen und für das es im Notfall militärische Gewalt einsetzen muss, ist das, was man die liberale Weltordnung nennt, also das bisher im Wesentlichen von den USA (und gerade nicht von den Vereinten Nationen!) garantierte System regelbasierter Konfliktlösung, offener Marktzugänge, freier Seewege, regionaler Konflikteindämmung und Sanktionen bei Fehlverhalten.
Garant für Wohlstand, Freiheit und Frieden
Deutschland ist als eines der globalisiertesten Länder der Welt, dessen Wohlstand sehr einseitig von Rohstoffimport und Warenexport abhängig ist, auf das Funktionieren dieser Weltordnung existenziell angewiesen. Dies ist das Ordnungsmodell, dem es sich – und damit seine Streitkräfte – in den Dienst stellen muss. Auch das ist eine Frage, vielleicht sogar die Frage, um die es geht, wenn wir über „mehr Geld für Verteidigung“ sprechen. Wir sprechen dann in Wirklichkeit darüber, ob wir stärker zum Garanten für eine Ordnung werden müssen, von der unser Wohlstand, unsere Freiheit, unser Frieden und der unserer europäischen Nachbarn und Partner abhängt.
Die Streitkräfte werden damit zu einem politischen Instrument, dessen Größe, Ausstattung und Fertigkeiten sich am Ordnungsmodell orientieren müssen, das sie schützen sollen. Dies gilt umso mehr, wenn der bisherige Hauptbeschützer dieser Ordnung sich selbst wenigstens teilweise von seiner Aufgabe entbindet, die Ordnung plötzlich eher geringschätzt und wenig Vertrauen in die eigene Berechenbarkeit vermittelt. Doch nicht nur durch die Amtsführung Donald Trumps, sondern bereits davor durch den langfristig beobachtbaren Trend einer relativen Schwächung Amerikas in der globalen Ordnung und durch sein seit den 1990er Jahren stetig wachsendes Desinteresse an Europa wird die Ordnungsfrage umso zentraler für die deutsche Politik. Wie soll die Ordnung, von der wir leben, gesichert werden, wenn ihr zentraler Baustein mürbe wird und vielleicht wegbricht? Dies ist nicht nur, aber auch eine Frage, die die Streitkräfte berührt.
Man muss befürchten, dass eine ernsthafte, realistische Antwort auf diese Frage uns Deutschen derzeit mental nicht möglich ist. Wer bei der Diskussion über das Zwei-Prozent-Ziel bei den Verteidigungsausgaben schon einen kollektiven Nervenzusammenbruch erleidet, so wie wir das im vergangenen Bundestagswahlkampf erlebt haben, der wird kaum kühlen Kopf bewahren, wenn er begreifen muss, was Europas Sicherheit und der Schutz einer auch nur halbwegs liberalen Weltordnung ohne Amerikas massive Subvention das eigene Land kosten würde. Mit zwei Prozent wäre man nicht einmal annähernd in realistischen Sphären unterwegs.
Eine Kultur strategischer Kindlichkeit
Und damit kommen wir zum eigentlichen Kernproblem bei der Suche nach der Antwort auf die Frage „Wozu Streitkräfte?“. Wer angesichts der traditionellen, der archaischen, der modernen und der politischen Aufgaben von Streitkräften, wer im Lichte einer sich dramatisch verändernden strategischen Lage in Europa und der Welt, in der Ordnung in Gefahr gerät – wer also weder das historische noch das staatspolitische noch das strategische Gespür für die Notwendigkeit starker Streitkräfte hat – wie soll der die Ausgangsfrage anders als unseriös beantworten können? Wie soll er in der Lage sein, eine Armee zu unterhalten, die auch einsatzfähig ist? Wie soll er Streitkräfte konzeptionell denken können, die nicht ausschließlich dem eigenen Wunsch nach dem eigenen sicherheitspolitischen Verschwinden dienen sollen?
In Deutschland herrscht eine Kultur strategischer Kindlichkeit. Richtig erkannt wird, dass ein Krieg, wie man ihn aus den Filmen über den Zweiten Weltkrieg kennt, gerade nicht vor der Tür steht. Aber bei dieser Erkenntnis bleibt die strategische Analyse in Deutschland stehen. Weder wird erkannt, dass der westlich abgesicherte Ordnungsrahmen, in dem wir unseren Nachkriegswohlstand aufbauen und ausweiten konnten, akut in Gefahr ist. Noch wird erkannt, dass die Europäer nicht in der Lage sind, auch nur in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft zur Schaffung und Durchsetzung von Ordnung beizutragen. Die Lage in der Ukraine, auf dem Balkan, im Nahen Osten und in Nordafrika beweist das eindrucksvoll.
Wir wollen die Absicht hinter Russlands systematischer Schwächung europäischer Ordnungsstrukturen nicht erkennen. Es will die EU auseinanderdividieren und die Nato spalten. Wir haben weder eine Antwort auf die chinesische Seidenstraßen-Großstrategie, deren Ziel es ist, Europa zum tributspflichtigen westlichen Anhängsel der eurasischen Landmasse zu machen, um chinesische Macht und Geltung zu befördern. Noch wissen wir auch nur annähernd, wie wir ein Vakuum füllen wollten, das entstünde, wenn die Schutzmacht Amerika sich ganz von Europa abwendet. Denn auch unsere Bestrebungen, auf europäischer Ebene auf relevante Weise militärisch zusammenzuarbeiten, sind bislang eher kläglich. Deutschland will europäische Verteidigungspolitik nur zum Zweck der Integration, nicht aber zum Zweck der Verteidigung. So sieht es jedenfalls die französische Regierung in Paris.
Ohne eine viel breitere Einsicht in dringliche strategische Notwendigkeiten wird die Antwort auf die Frage „Wozu Streitkräfte?“ weiter so gegeben werden wie im vergangenen Vierteljahrhundert. Diese Antwort hat dazu geführt, dass Deutschland zwar eine Bundeswehr hat, aber keine Streitkräfte. Der Punkt, an dem für diese Antwort ein sehr hoher Preis zu entrichten sein wird, rückt näher.
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Der Autor Jan Techau, geboren 1972 in Lübeck, ist Politikwissenschaftler und Leiter des Europaprogramms beim German Marshall Fund of the United States in Berlin. Er kommentiert regelmäßig für deutsche und internationale Medien Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik.