„Europa hat nichts gelernt aus Srebrenica“
Das Massaker von Srebrenica war das größte Kriegsverbrechen in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. Echte Versöhnung zwischen Serben, Kroaten und Bosniaken ist nicht in Sicht. Im Gegenteil. Eine nicht aufgearbeitete Vergangenheit stößt auf eine ungewisse Zukunft.
Das Dorf Nova Kasaba liegt im Osten Bosnien-Herzegowinas fernab von allem. Ein vernachlässigter Fußballplatz mit stoppeligem Rasen und von Rost angefressenen Toren ist das einzige Vergnügen. Der verwaiste Sportplatz war Ort eines Menschheitsverbrechens. 1995 trieben bosnische Serben hier tausend Bosniaken zusammen. Am 13. Juli 1995, einem Donnerstag, entdeckten niederländische Soldaten des zur UN-Truppe in Bosnien gehörenden Dutchbats die auf dem Rasen kauernden Jungen und Männer. Es war die größte Gruppe von Gefangenen, die die Niederländer je gesehen hatten, seit sie die von bosnischen Serben zusammengestellten Deportationskonvois im Osten Bosniens eskortierten. Das war das einzige Zugeständnis, das der bosnisch-serbische Oberbefehlshaber General Ratko Mladić dem niederländischen Bataillonskommandeur Oberstleutnant Thomas Karremans gemacht hatte: Die Holländer durften zuschauen, wie die Serben Moslems, die hier Bosniaken genannt werden, selektierten und fortschafften.
Am Abend des 13. Juli 1995 zwangen bosnische Serben eine Gruppe niederländischer Soldaten, in Nova Kasaba zu übernachten. Zwischen halb drei und halb vier in der Frühe hörten die UN-Soldaten Salven aus Handfeuerwaffen aus Richtung des Sportplatzes. Am nächsten Tag sahen sie dort 500 bis 700 Leichen. Ein US-Spionageflugzeug, das wenige Tage später Nova Kasaba überflog, fotografierte auf einem Acker in der Nachbarschaft frisch ausgehobene Erde. Es waren Massengräber. Als im August 1995 der amerikanische Journalist David Rohde in die Gegend kam, entdeckte auch er frische Grabungsspuren, ein in Verwesung übergegangenes menschliches Bein, das aus der umgegrabenen Erde ragte, sowie Ausweispapiere, muslimische Glasperlen und leere Munitionskisten.
Der Sportplatz von Nova Kasaba war Teil des Genozids, das als das Massaker von Srebrenica in die Geschichte eingegangen ist. Bosnische Serben unter dem Kommando von Ratko Mladić töteten innerhalb weniger Tage 8.000 männliche bosnische Moslems, die sie zuvor unter den Augen der niederländischen Blauhelme von ihren Frauen, Müttern und Schwestern getrennt hatten. Srebrenica wurde zum furchtbaren Symbol für den Bosnienkrieg Mitte der 1990er-Jahre: der größte Massenmord in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. Der Kriegsverbrecher Ratko Mladić konnte erst 2011 in Serbien festgenommen und vor den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag gestellt werden. Er bekam für seine Taten lebenslänglich.
Nach Nova Kasaba, wo vor dem Genozid 814 Bosniaken lebten (damals 78 Prozent der Dorfbevölkerung), sind nur gut 50 zurückgekehrt. Die meisten Einwohner sind nunmehr Serben. Die Gegend gehört zur Republika Srpska, einer der autonomen Regionen Bosniens, mehrheitlich von Serben bewohnt.
Das Tal von Srebrenica ist heute ein riesiger Friedhof. Hier wurden die 8.000 Jungen und Männer bestattet, deren verscharrte Gebeine man in den Wäldern und Äckern in der Umgebung, so wie in Nova Kasaba, gefunden hat. Auf der Straße gegenüber stehen die leeren Hallen einer jugoslawischen Batteriefabrik, in der sich zuletzt die niederländischen Blauhelmsoldaten der UN-Schutzzone Srebrenica vor den heranrückenden Serben verschanzt hatten. Die Schutzzone hätte eigentlich ein sicherer Hafen für die Bosniaken sein sollen. Auf dem Industriegelände fanden nach der Einnahme durch Mladićs Truppen die Selektionen statt. Frauen und Mädchen wurden vergewaltigt und dann von den Serben in bosniakisch kontrolliertes Gebiet gebracht. Die Jungen und Männer wurden erschossen. Ihre sterblichen Überreste ruhen jetzt diesseits der Straße auf dem Friedhof.
„Sie sind am Leben, aber ihr wisst es nicht“
Wer an seinem Ende steht und das Areal überblickt, schaut auf unendliche Reihen weißer muslimischer Grabstelen. Sie alle tragen neben Namen und Geburtsdatum des jeweiligen Toten denselben Text aus der Koransure Al Baqara, Vers 154: „Und sage nicht von denen, die auf dem Weg Gottes getötet wurden, dass sie tot sind. Nein, sie sind am Leben, aber ihr wisst es nicht.“ Es ist ein Text, der den Überlebenden Trost schenken soll. Die Ermordeten von damals sind im Herzen der Hinterbliebenen.
An diesem Morgen ist Camil Bajrektarević einer der wenigen Besucher auf dem Friedhof. Der 65-Jährige aus dem zehn Kilometer entfernten Bratunac hatte damals Glück. Er diente als Koch in der bosnischen Armee und geriet in serbische Kriegsgefangenschaft, wurde dann aber ausgetauscht. Heute steht er vor der Grabstele seines ermordeten Bruders und betet. loyal spricht ihn an und fragt, was er an diesem Ort empfindet. „Nun, ich habe so viele Freunde und Verwandte beim Massaker von Srebrenica verloren, nicht nur meinen Bruder, sondern auch Cousins und so viele andere. Insgesamt 20. Ich bin erst vor zehn Jahren wieder nach Bratunac zurückgekehrt.“ Hat er den Tätern von damals verziehen, den Serben, die heute seine Nachbarn in Bratunac sind? „Ich habe verziehen“, sagt Bajrektarević. „Aber ich werde nicht vergessen.“
Einen Steinwurf neben der ehemaligen Batteriefabrik hat der Verein der „Mütter von Srebrenica“ seinen Sitz. Die Vorsitzende des Vereins, der seit zwei Jahrzehnten für Wahrheit und Gerechtigkeit kämpft, Munira Subasić, verabschiedet gerade hohen Besuch: Serge Brammertz, seit 2008 Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien. Brammertz kommt mehrmals im Jahr vorbei, um sich nach der Arbeit des Vereins zu erkundigen. Die Arbeit des Tribunals selbst ist hingegen praktisch beendet. 161 Verfahren wurden gegen Kriegsverbrecher eröffnet, die Mehrzahl gegen Serben, die meisten wurden zu Haftstrafen verurteilt. In Sarajevo sind noch mehrere Hundert Verfahren vor bosnischen Gerichten anhängig – mit mehr als 3.000 möglichen Straftätern, wie Brammertz im Gespräch mit loyal sagt. „Das wird noch viele Jahre dauern“, meint der belgische Topjurist. Was die Lehren der internationalen Gemeinschaft aus der juristischen Verfolgung der Täter in Bosnien angeht, ist Brammertz eher pessimistisch: „Wenn man sich die Konflikte in der Welt der letzten Jahre anschaut – Syrien, Jemen, Myanmar, Äthiopien, jetzt die Ukraine – muss man leider feststellen, dass Strafverfolgung eher die Ausnahme und Straffreiheit eher die Regel ist.“
„Srebrenica bleibt ein ewiges Mahnmal“
Brammertz sagt, er sei jedes Mal beeindruckt von der Chefin des Vereins der „Mütter von Srebrenica“. „Munira Subasić ist eine herausragende Persönlichkeit, die sich für die Opfer einsetzt und auch Verständnis zeigt für die Opfer der anderen Kriegsparteien.“ In der Tat, die alte Dame, die loyal direkt im Anschluss an den Besuch des Chefanklägers empfängt, ist von einer bemerkenswerten Klarheit und Resolutheit. „Srebrenica bleibt ein ewiges Mahnmal für das Versagen der internationalen Gemeinschaft in einem Krieg, in dem Mörder und Opfer klar zu erkennen sind“, sagt sie. Dass sich genau solche Massaker nun in der Ukraine wiederholen und die internationale Gemeinschaft wieder zu wenig tut, treffe sie ins Herz. „Europa hat nichts gelernt aus Srebrenica“, schimpft Munira Subasić. Sie hat 1995 aus ihrer Familie 20 Angehörige durch serbische Hand verloren. Von ihrem jüngsten Sohn fand man nur noch zwei Knochen, die Munira Subasić auf dem Friedhof von Srebrenica bestatten konnte. loyal fragt auch sie, ob sie den Tätern verziehen habe. Munira Subasić antwortet: „Es ist noch niemand vorbeigekommen, der um Vergebung gebeten hätte.“
Die Frage, warum von den Tätern, den Serben, niemand die Moslems um Vergebung für die Verbrechen der 1990er-Jahre gebeten hat, hätte loyal gerne dem Führer der bosnischen Serben, Milorad Dodik, gestellt. Doch trotz wochenlanger Bemühungen um einen Gesprächstermin bei dem Ultranationalisten war Dodik nicht bereit, loyal ein Interview zu geben. Zuletzt war der Serbe im vergangenen Jahr mit der absurden Behauptung aufgefallen, es habe in Srebrenica gar keinen Völkermord gegeben, und die Gräber dort seien leer.
Immerhin empfängt uns der Chef der wichtigsten Oppositionspartei in der Republika Srpska, Branislav Borenović. Wir treffen ihn in seinem Büro in Banja Luka, der Hauptstadt der bosnischen Serbenrepublik. Borenovićs Partei für Demokratischen Fortschritt (PDP) arbeitet sich seit 15 Jahren an der Selbstherrlichkeit und den Zumutungen Dodiks ab, beklagt die Korruption im Land, fordert eine Stärkung der Justiz und ein striktes Vorgehen gegen die Vetternwirtschaft. Wenn es aber auf das Thema Versöhnung kommt, wird auch Borenović schmallippig. Auf das Jahrhundertverbrechen von Srebrenica angesprochen, antwortete der PDP-Politiker: „Wissen Sie, ich habe 1992 in der Armee der bosnischen Serben gekämpft. Wir waren sieben Freunde, die in den Krieg gezogen sind. Fünf von ihnen sind gefallen.“ Auf die Nachfrage, was er damit sagen wolle, erwidert Borenović: „Jedes Verbrechen, egal wie schmerzhaft, muss sanktioniert werden. Dazu haben die Gerichte das letzte Wort. Deren Urteile möchte ich nicht kommentieren.“ Er räumt ein, dass das ganze Thema „empfindlich“ sei. „Wir dürfen die Opfer nicht trennen.“
Die „Mutter von Srebrenica“, Munira Subasić, wünscht sich einen „serbischen Willy Brandt“, der auf die Knie fällt und um Vergebung bittet. Borenović meint dazu, wenn, dann müsste es auch einen bosnischen und kroatischen Willy Brandt geben, der dasselbe tue. Auch Serben seien Opfer gewesen. Dass die bosnischen Serben inzwischen in aller Welt als „bad guys“, als die „Bösen“, dastehen, habe ihnen einzig und allein Milorad Dodik und seine polternde Art eingebrockt.
Das Hauptproblem Bosnien-Herzegowinas ist, dass keine der drei Volksgruppen – Serben, Kroaten, Bosniaken – einen Schritt auf die andere zumacht. Der Vertrag von Dayton, der im November 1995 den Bosnien-Krieg nach dreieinhalb Jahren beendete, hat ein einsturzgefährdetes Staatsgebilde geschaffen und einen fragilen Frieden gebracht, der jederzeit in Krieg umschlagen kann. Die drei Volksgruppen leben in zwei „Entitäten“ genannten autonomen Regionen: zum einen in der Republika Srpska (49 Prozent des Territoriums), zum anderen in der etwas größeren, 51 Prozent des Landes umfassenden, bosnisch-kroatischen Föderation. Darüber gibt es den relativ schwachen Gesamtstaat, der für Außenpolitik, Zoll und seit 2005 auch für die Verteidigungspolitik zuständig ist. Ein in dieser Form international einmaliges Amt, das des Hohen Repräsentanten der internationalen Staatengemeinschaft, soll das ganze Gebilde zusammenhalten und in Streitfragen letztgültige Entscheidungen treffen (siehe dazu auch: Interview mit dem Hohen Repräsentanten Christian Schmidt, ab Seite 20 der loyal 07-08/2022 – als Mitglied online lesen).
Die Spaltung des Landes konnte der Dayton-Vertrag nicht überwinden. Zu groß sind die gegenseitigen Abneigungen. Kritiker sehen in dem Staat ein internationales Protektorat mit einem hochkomplexen, kaum zu durchschauenden politischen System. Am 2. Oktober stehen Wahlen an, zu denen eine abstimmungsmüde, von Korruption, ständigen Blockaden und gegenseitigen Anschuldigungen erschöpfte Bevölkerung aufgerufen ist. Diese Erschöpfung sei paradoxerweise die einzige Hoffnung, dass es keinen neuen Krieg geben wird, meinen Beobachter: Die Bosnier sind der ewigen Konflikte und erst recht des Kämpfens müde.
Der Großkonflikt in diesem merkwürdigen Staatsgebilde kann so beschrieben werden: Serben gegen Kroaten und Bosniaken. Der Politikwissenschaftler Adnan Kapo vom renommierten Forschungsinstitut IGES (Institute for Geopolitics, Economy and Security) in Sarajevo nennt im Gespräch mit loyal die bosnischen Serben „die kleinen Russen“. Sie seien es, die – von Belgrad und letztlich von Moskau gesteuert – immer wieder Zwietracht säten. Dabei sei nicht klar, was sie eigentlich wollten. Mal gehe es ihnen um eine unabhängige Republika Srpska, mal um den Anschluss an Serbien. In jedem Fall würde es die Zerstörung des jetzigen Staates Bosnien-Herzegowina bedeuten. Die Schwierigkeiten, die die Serben immer wieder machten, seien auch ein Haupthindernis beim Wunsch Bosniens, der NATO beizutreten. Der serbische Präsident und Populist Aleksandar Vučić hat kurz nach seiner Wiederwahl im April dieses Jahres einen NATO-Beitritt für sein Land ausgeschlossen. Damit dürfte das Thema auch für Bosnien vom Tisch sein, denn die bosnischen Serben würden sich nie gegen ihren putintreuen Herrn in Belgrad stellen, lautet die überwiegende Meinung unter Bosniaken und Kroaten. Und das, obwohl 70 Prozent der Bosnier für den NATO-Beitritt sind, wie Adnan Kapo sagt. „Aber wir schaffen es leider nicht, die Hindernisse für den Beitritt zu beseitigen.“
Nicht einmal die gemeinsame bosnische Armee dient als Klammer. Die Dienstposten der theoretisch 10.000 Mann starken Truppe sind zu 50 Prozent Bosniaken vorbehalten, zu 30 Prozent Serben und zu 20 Prozent Kroaten. 48 Prozent der Soldaten gehen bis 2024 in den Ruhestand. Die Serben wollen die Truppe am liebsten um ein Drittel reduzieren. Seit drei Jahren gibt es keinen regulären Verteidigungsetat mehr; die Regierung arbeitet mit kurzfristigen Verpflichtungsermächtigungen. Seit fünf Jahren wurden die Gehälter nicht mehr angepasst. Vor allem bosnische Kroaten haben kein Interesse am Dienst in der Armee. Sie besitzen einen Pass der Republik Kroatien und sind damit auch EU-Bürger. In der EU verdienen sie selbst als Hilfsarbeiter mehr als ein Unteroffizier in der bosnischen Armee.
Doch durch Bosnien zieht sich nicht nur eine Konfliktlinie zwischen bosnischen Serben einerseits und Kroaten und Moslems andererseits. Auch Kroaten und Moslems untereinander sind sich nicht immer grün. Wer mit dem Auto einmal quer durch die bosnisch-kroatische Föderation fährt, kommt im traumhaft schönen Dinarischen Gebirge, das eine touristische Perle sein könnte, durch Dörfer, die streng nach Volksgruppen getrennt sind. Ein kroatisches Dorf folgt auf ein moslemisches, dann wieder ein kroatisches und so weiter. Die Spaltung zwischen Kroaten und Moslems findet in der Stadt Mostar im Süden ihren bizarren Höhepunkt.
Dort leben die Moslems auf der linken Seite der Neretva, die Kroaten auf der rechten. Es gibt alles doppelt in dieser Stadt: zwei Stadtverwaltungen, zwei Müllabfuhren, zwei Theater, sogar zwei Busbahnhöfe. Kroaten und Bosniaken haben sich nicht viel zu sagen. Im Krieg haben Kroaten die historische, aus osmanischer Zeit stammende Fußgängerbrücke über die Neretva in der Altstadt zerbombt. Sie wurde mit internationaler Hilfe wieder aufgebaut und 2004 eröffnet. Doch heute gehen praktisch nur Touristen von einem Ufer zum anderen. Kroaten und Bosniaken wenden einander in einem kalten kommunalen Krieg den Rücken zu. Nicht einmal die Kinder beider Seiten treffen sich zum Spielen; die Schulen beiderseits der Neretva haben unterschiedliche Schul- und Pausenzeiten.
„Ethno-Kartelle verbreiten Angst und Hass“
Einer der wenigen Kroaten, die im moslemischen Teil der Stadt leben, ist die Journalistin Stefica Galić. Die für ihre kritische Arbeit international ausgezeichnete Publizistin berichtet über die politisch gewollte Trennung der Volksgruppen, und hat es deswegen nicht leicht in der Stadt. „Der Krieg wird auch fast 30 Jahre nach dem Krieg weitergeführt“, klagt Galić. Die Anführer der drei Volksgruppen in Bosnien bezeichnet sie als „Ethno-Kartelle“, die den öffentlichen Raum mit Angst und Hass füllten. Sie bei den Wahlen im Oktober abzulösen werde nicht gelingen, weil die Korruption allgegenwärtig ist. Galić beschreibt im Gespräch mit loyal das System so: „Du bekommst keinen Job ohne Parteizugehörigkeit. Dadurch werden Abhängigkeiten geschaffen, die jeglichen Einsatz für das Gemeinwesen konterkarieren. So kommt es auch, dass jede Seite ihre Kriegsverbrecher als Helden feiert.“ Galić ist sich sicher, dass Bosnien niemals Mitglied der Europäischen Union wird – jedenfalls solange es „von Kriminellen geführt“ werde. Auch ist sie überzeugt: „Wenn wir nur zehn Prozent ehrliche Staatsanwälte hätten, bräuchten wir keine Hilfe aus dem Ausland.“
Hilfe aus dem Ausland – das ist neben zahlreichen NGOs vor allem die EUFOR-Althea-Mission der Europäischen Union. Sie hat 2004 die Nachfolge der SFOR-Mission der NATO angetreten und soll auf Grundlage des Dayton-Abkommens ein sicheres Umfeld in Bosnien schaffen. Soldaten aus 19 Nationen sind dazu im Land. Sie werden in der Fläche in 17 sogenannten LOT-Häusern als Liason and Observation Teams eingesetzt und sollen Stimmungen aufnehmen, um Konflikte frühzeitig erkennen zu können.
In der Praxis sind die LOT-Häuser oftmals versteckt. Der Truppe fehlt das Gerät, um zu einer effizienten Show of Force fähig zu sein, sollte es zu Gewalt zwischen den Volksgruppen kommen. Lediglich die Rumänen sind mit einigen Radpanzern vom Schweizer Typ Piranha 3 vertreten. Doch selbst die bräuchten Tage, um in dem gebirgigen Land dorthin zu gelangen, wo sie benötigt werden. EUFOR-Althea fehlt es an Luftbeweglichkeit und MedEvac-Kapazitäten. Die Menschen schätzen die Präsenz von EUFOR, sagen hinter vorgehaltener Hand aber auch, dass sie die beteiligten Nationen für zu schwach halten, um robust auftreten und auf „dicke Hose“ machen zu können – das Einzige, was auf dem Balkan Respekt verschafft. Am liebsten hätten sie die Amerikaner zurück oder wenigstens die Briten. Wenn die Deutschen wiederkämen, wie Berlin plant, wäre das immerhin schon etwas.
Seit Januar ist der österreichische Generalmajor Anton Wessely Kommandeur der EUFOR-Truppe. Die normalerweise 600 Mann starke Mission hat Wessely in Folge des Ukraine-Kriegs vorsichtshalber um 500 Soldaten aus der 3.500-Mann-Reserve verstärkt. Althea ist in der griechischen Mythologie die Göttin der Wahrheit – und womöglich kommt mit den Wahlen im Oktober auch der Tag der Wahrheit auf Wesselys Soldaten zu. Der General sieht sich darauf vorbereitet. „Wir spielen laufend Trainingsszenarien durch“, sagt er loyal. „Im zeitlichen Umfeld der Wahlen werden wir uns zeigen, aber wir werden uns nicht in den Wahlkampf hineinziehen lassen. Unser Motto lautet: Stay away from politics.“ Diese Zurückhaltung aber könnte genau das Problem der internationalen Gemeinschaft in Bosnien sein.
Hintergrund: Europäischer Islam
Bosnien ist das einzige europäische Land mit einer autochthonen moslemischen Bevölkerung. Die Moslems in allen anderen Ländern Europas sind zugewandert. Der Islam in Bosnien geht auf das 14. bis 16. Jahrhundert zurück, als die einheimische Bevölkerung unter der Türkenherrschaft zum Islam konvertierte. Heute stellen die Moslems als Bosniaken die absolute Mehrheit der bosnischen Bevölkerung. Die orthodoxen Serben sind die zweitgrößte religiöse Gruppe, die katholischen Kroaten die dritte. Daneben gibt es eine jüdische Minderheit.
Razim Čolić (Bild) ist nach dem Großmufti die Nummer 2 der islamischen Gemeinschaft in Bosnien und für auswärtige Beziehungen zuständig. Im Gespräch mit loyal in Sarajevo sagt er, dass die Religionen immer wieder für politische Zwecke instrumentalisiert worden seien – bis in jüngste Zeit, als Serbenführer Milorad Dodik Sarajevo abschätzig mit Teheran im fundamentalistischen Iran verglich. „Bosnien hat weltweit die größte demokratische islamische Gemeinschaft. Wir wählen alle vier Jahre unsere Gremien, in denen Frauen gleichberechtigt sind“, sagt Čolić. „Der bosnische Islam will einen säkularen Staat, der allen Religionen ihre Rechte garantiert. Vor uns braucht niemand in Europa Angst zu haben.“
Er verweist darauf, dass im Krieg in der 1990er Jahren 600 Moscheen zerstört wurden. Čolić: „Es sind europäische Moscheen, die von Europäern – Kroaten und Serben – zerstört wurden. Wir hätten uns gewünscht, dass Europa wenigstens eine Moschee als Symbol der Versöhnung wiederaufgebaut hätte.“ Čolić lässt sich nicht beirren: „Trotz allem sehen wir in unserer Art, den Islam zu leben, ein Vorbild für ganz Europa.“
Besonders Sarajevo als multireligiöse Stadt könnte hier Maßstäbe setzen. Mehr als die Hälfte der Einwohner sind Moslems. Mit der 31 Jahre alten Benjamina Karić werden sie und die anderen Bewohner seit 2021 erstmals von einer Bürgermeisterin regiert, die sich zu keiner der drei Nationalitäten in Bosnien zählt, sondern zu den „Übrigen“ – Ausdruck der Toleranz in dieser Stadt mit ihrer bunten Bevölkerung, die auch das „Jerusalem Europas“ genannt wird. Als erste Amtshandlung schaffte Karić’ die zuvor widerrechtlich erworbene Dienstlimousine ab. „Wir werden uns ohnehin alle auf der Straße sehen“, sagte sie.