Beim Konflikt Russlands mit den Westmächten spielt der Status der Ukraine eine zentrale Rolle. Auch vor den (heutigen) Verhandlungen in Istanbul ging es immer wieder um einen neutralen Status der Ukraine. Wäre eine Neutralität der Ukraine – also ihre „Finnlandisierung“ – eine sinnvolle Option für mehr Stabilität?
JA
Trotz russischen Säbelrasselns ist es notwendig, im Konflikt um die Ukraine Realpolitik zu betreiben. Falls die Krise nicht ohne russische Aggression ausgehen würde, müsste die NATO ihre Präsenz in Osteuropa massiv erhöhen, um Angriffe auf das Bündnisgebiet abzuschrecken. Ergebnis wäre ein neuer Kalter Krieg mit hohen Kosten für alle. Zugleich würde der Westen keinen militärischen Beistand leisten und nur sehr begrenzten Einfluss auf eine sich dann im direkten russischen Einflussbereich befindliche, instabile Ukraine haben. Es wäre klüger, eine solche Lage dadurch zu vermeiden, dass wir eine gesicherte Neutralität der Ukraine als Eintrittskarte in Verhandlungen mit Russland über die Neuordnung der europäischen Sicherheitsarchitektur betrachten – und dies auch der Ukraine vermitteln.
Johannes Varwick
Professor für Politikwissenschaft an der Universität Halle-Wittenberg
NEIN
Die Ukraine will keine Neutralität, und der Westen kann sie ihr nicht aufzwingen, ohne ihre Souveränität zu beschädigen. Vor allem aber: Neutralität würde nichts nützen. Es geht Putin nicht um die Sicherheit Russlands, sondern um ein revisionistisches Projekt – er will Nachbarländer dominieren, wobei die Ukraine und Belarus höchste Priorität haben – beide sieht er nicht als eigenständige Länder. Der Kreml würde sich nicht mit einem neutralen Status der Ukraine zufriedengeben; 2014 griff er die Ukraine an, weil sie sich enger an die EU binden wollte. Neben die Hoffnung auf ein neues Imperium tritt die Angst vor Demokratisierung. Eine erfolgreiche demokratische Ukraine würde die autokratische Herrschaft der Putin-
Elite bedrohen. Es geht um weit mehr als den außenpolitischen Status der Ukraine.
Ulrich Speck
Verfasser des Briefings „Morgenlage Außenpolitik“ – Senior Visiting Fellow beim GMF Berlin
Hinweis: Beide Standpunkte wurden vor dem völkerrechtswidrigen Angriff Russlands auf die Ukraine verfasst.