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Flaschenpost im Fluss der Zeit

2010: Kein Jahr des deutschen Afghanistan-Einsatzes war so verlustreich, keines so dramatisch. Als Gruppenführer in einer Kampfkompanie war Hauptfeldwebel Markus Götz in Kunduz stationiert. Das, was er dort erlebt und gesehen hat, hat er aufgeschrieben: Tag für Tag, oft nur wenige Minuten nach einem Gefecht. Aus seinem Kriegstagebuch ist ein minutiöses und authentisches Protokoll geworden, dessen Sog sich der Leser kaum entziehen kann. Historiker Dr. Christian Hartmann hat es mustergültig erschlossen und aufbereitet – eine Flaschenpost im Fluss der Zeit, deren Botschaft auch künftige Generationen verstehen sollen.

Hauptfeldwebel Götz als Führer einer Kampfgruppe in Afghanistan 2010.

(Foto: privat)

Afghanistaneinsatz

„Wir rollen zuerst Richtung Meldepunkt Donau und führen mehrmals einen Beobachtungshalt durch. Als wir durch die Schranke am Ortsausgang Kunduz wieder Richtung Chahar Dara fahren, lässt Oberleutnant Mike plötzlich halten. Er springt mit Oberstabsgefreitem Lenny und Stabsgefreitem Sido aus seinem Dingo und kassiert wieder ein Handy ein. Während wir warten, sichern und beobachten, hören wir zwei dumpfe Detonationen aus dem Bereich Südwesten. Ich melde, und Mike gibt die Info an Hauptmann Barbarossa weiter, während wir weiterrollen. Beim Meldepunkt Rhein machen wir erneut einen Beobachtungshalt. Wir hören drei weitere Detonationen aus dem Bereich bei Isa Khel – irgendetwas ist da schon wieder im Busch! (…) Als nächstes sehe ich eine Person in einem der Läden nach der Brücke und dass alle anderen Läden dicht sind. Ich gebe das noch über Bordverständigung an meine Männer mit der Bemerkung ‚Augen auf, hier ist was faul!‘ weiter, dann fahren wir bereits den Lift zum Meldepunkt 92 hoch. Auf dem halben Weg sehe ich plötzlich einen Explosionsblitz. Verdammt! IED! Wir wurden angesprengt. Ich sag Wolle, er soll weiterfahren. Durchstoßen! Ich sehe den Dingo von Mike aus der Staubwolke hinter meinem Transportpanzer kommen – Gott sei Dank! Dann den Störer – Scheiße, hat es Pit erwischt? Auch Pits Dingo taucht aus dem Staub auf. Wir sind inzwischen beim Meldepunkt 92 und gehen in Stellung. Es hat Obis Transportpanzer erwischt!“

Hauptfeldwebel Markus Götz hört an diesem 13. Juni 2010, einem Sonntag, in Afghanistan noch weitere Explosionen. Es ist 9:45 Uhr. Die Sonne steht schon hoch am Himmel, es ist unerträglich heiß. Zwei seiner Kameraden, Obi und Uli, werden bei diesem Anschlag auf die Bundeswehr-Patrouille verwundet, der eine leicht, der andere schwer. Hauptmann Barbarossa und Oberstabsärztin Sandy im Beweglichen Arzttrupp stoßen durch – ohne Rücksicht auf die Krater in der Straße und in Erwartung weiterer Sprengfallen, den gefürchteten IEDs. Im Süden ist Mörserdonner zu hören. Black Hawks werden startklar gemacht, heißt es im Funk. Götz lässt Rauch zur Markierung der Landezone aufsteigen. Später, in der relativen Sicherheit eines Polizeihauptquartiers, sieht er, wie Oberleutnant Mike Tränen übers Gesicht laufen. Im Innenraum des Transportpanzers, unter dem der Sprengsatz explodiert ist, wurde die Bodenpanzerung gut zehn Zentimeter nach oben gedrückt. Es sieht aus „wie nach einem Bombenangriff“. Götz notiert: „Alles kreuz und quer. Überall Teile einer zertrümmerten Holzkiste. MG-Munition hat umgesetzt. Obis MPi 7 und die Magazine sind Schrott. Ein MG-Kasten aus Metall ist total verformt.“

Markus Götz im Herbst 2021 im „Wald der Erinnerung“ in Potsdam. (Foto: Stephan Pramme)

Normalerweise hätte hier Stabsgefreiter Dimitrij gesessen, der aber wegen einer kurzfristig angesetzten Videokonferenz im Lager geblieben war. Er wäre jetzt vermutlich tot.
Es sind Schilderungen wie diese, die das Tagebuch des Hauptfeldwebels Markus Götz so einzigartig machen. Da ist ein deutscher Soldat das zweite Mal im Afghanistan-Einsatz und erlebt 2010 die schlimmsten Gefechte, in die die Bundeswehr seit ihrer Gründung jemals verwickelt wurde. Er schreibt alles detailliert auf. Oft unmittelbar nach einem Kampfeinsatz, nach einem IED-Anschlag, nach einer Patrouillenfahrt. Frische Eindrücke des Soldaten einer Kampfeinheit, der das, was er sieht, hört, spürt, fühlt ohne Zeitverzug und ungefiltert zu Papier bringt – mit allen Emotionen und Kraftausdrücken, die in einem Menschen in solchen Ausnahmesituationen mit höchstem Adrenalinpegel, Blutdruck und trommelndem Herzen hochkommen, durchsetzt mit militärischen Fachbegriffen, Abkürzungen und Landser-Slang. Wie Blitzlichter aus einer nahen Vergangenheit leuchten diese Schilderungen auf. Sie fassen die intensiven Kämpfe in wenige packende Worte. Dann folgen wieder Reflexionen des Tagebuchschreibers, Einschätzungen und Bewertungen, zuweilen auch harte Urteile. Denn manchmal ist es einfach nur Frust, den Götz förmlich in seine Kladde kotzt.

Ein Glücksfall für folgende Generationen

Das Kriegstagebuch des Markus Götz ist in mehr als einer Hinsicht ein ungewöhnliches Dokument. Daher wurde es jetzt als Edition, aufwändig eingeleitet und kommentiert, in der Reihe „Bundeswehr im Einsatz“ vom Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr (ZMSBw) herausgegeben. Ungewöhnlich sind zum einen seine Unmittelbarkeit, seine Authentizität. Zum anderen zeichnet sich dieses Tagebuch durch die Dichte und den Reichtum an Ereignissen, Gefühlen und Gedanken aus, die Götz zu Papier bringt. In gewisser Weise schreibt hier jemand stellvertretend für ein ganzes Kontingent, das 22. deutsche Kontingent ISAF, das während seines Einsatzes von März bis Juli 2010 insgesamt sieben Soldaten verlor. Dass ein deutscher Feldwebel, solchen Belastungen zum Trotz, dennoch den Willen aufbringt, den für die Bundeswehr dramatischsten Einsatz ihrer Geschichte aus seiner Perspektive minutiös zu dokumentieren, ist nicht nur für Militärhistoriker ein Glücksfall, sondern auch für die folgenden Generationen.

Markus Götz wurde 1974 in der Oberpfalz geboren. Nach der Realschule machte er eine Schreinerlehre. Der anschließende zwölfmonatige Wehrdienst beim Panzergrenadierbataillon 122 in Oberviechtach blieb zunächst eine Episode; er kehrte in den väterlichen Betrieb zurück, machte seinen Meister als Parkettleger. 2003 bewarb sich Götz als Wiedereinsteller bei der Bundeswehr und kehrte als Feldwebelanwärter in sein altes Bataillon zurück. Bis heute tut er, inzwischen Hauptfeldwebel und Kompanietruppführer in der 5. Kompanie des Panzerbataillons 104, Dienst. Götz war dreimal im Auslandseinsatz: 2008 im 16. deutschen ISAF-Kontingent, 2010 im besagten 22. ISAF-Kontingent, in dem sein Tagebuch entstand, und dann nochmals 2017 im Kosovo. Er lebt heute mit Frau, Stieftochter und Sohn in der Oberpfalz, hat ein Haus umgebaut, einen Garten angelegt und dient nach wie vor der Bundesrepublik Deutschland.

loyal traf ihn in Potsdam und besuchte mit ihm und dem Herausgeber seines Tagesbuchs, Dr. Christian Hartmann vom ZMSBw, gemeinsam den „Wald der Erinnerung“ in der Henning-von-Tresckow-Kaserne, Sitz des Einsatzführungskommandos der Bundeswehr.

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Warum er überhaupt ein Einsatztagebuch geschrieben habe, erklärt Götz so: „Ich bin eigentlich kein Tagebuchschreiber, aber ich lese leidenschaftlich gern und viel. Auslöser für dieses Tagebuch war mein Afghanistan-Einsatz 2008. Ich habe dort so viel gesehen und erlebt, den Einsatz sogar noch verlängert. Ich wollte meine Erfahrungen in eine möglichst realistische Ausbildung meiner Soldaten zu Hause einbringen – und habe festgestellt, dass dann doch schon vieles verblasst war. Da habe ich mir gesagt: Das machst du nächstes Mal besser.“

So flog er am 4. März 2010 mit einer handelsüblichen Schreibkladde im Handgepäck und dem Vorsatz, möglichst viel aufzuschreiben, mit seinen Kameraden von Köln nach Kunduz; schon während des Fluges machte er sich erste Notizen. Was als Gedächtnisstütze für die spätere Ausbildung gedacht war, wurde zu einer selbst auferlegten Verpflichtung, wie sie wohl nur wenige unter solchen Umständen mit solcher Konsequenz nachgehen. Götz: „Vorgenommen hatte ich mir, täglich ein paar Zeilen zu schreiben. Anfangs schrieb ich nachts, kurz vor dem Einschlafen. Auch um das Erlebte zu verarbeiten.“ Schon nach wenigen Tagen kamen die Einschläge für ihn buchstäblich näher, sah er sich Gefechten, Raketenalarmen und IED-Anschlägen ausgesetzt. Götz spürte das Bedürfnis, Worte zu finden für das, was er sah und erlebte. Ob im Panzer, im Schützengraben, in Deckungen, im Zelt – stets war das Tagebuch dabei, das sich von Tag zu Tag weiter füllte. Er schrieb zwischen drei und zehn Seiten – jeden Tag. Insgesamt wurden daraus schließlich 507 Seiten.

Der damalige Hautfeldwebel schildert gegenüber loyal, wie hilflos er sich häufig fühlte: „Da ist ein Gegner, den man nicht sieht. Wenn der Feuerkampf dann beginnt, wird man gelöster. Man gibt Befehle, führt den Kampf. Der enorme Druck und die Anspannung des Wartens lösen sich. Man wartet, bis es scheppert. Es kann einen überall und jeden Moment treffen. Einen Kameraden hat es direkt hinter mir im Fahrzeug erwischt, dem hat es fast das Bein abgerissen.“ Götz verarbeitet solche Szenen, indem er sie aufschreibt. Dadurch kann er die Bilder in seinem Kopf ziehen lassen. Auch der Druck der Verantwortung als Gruppenführer entlädt sich im Schreiben. „Man ist für die Sicherheit seiner Männer verantwortlich, die denken ‚hoffentlich weiß er, was er tut‘ und vertrauen dir. Es ist brutal hart, wenn man sich vor Augen führt: Wenn ich jetzt einen Fehler mache, habe ich womöglich das Leben der Kameraden auf dem Gewissen.“

Unvergleichlich authentisch

All diese Erlebnisse, Gefühle und Gedanken finden sich in dem Tagebuch und vermitteln dem Leser einen unvergleichlich authentischen Eindruck vom Kampfgeschehen, aber auch vom Alltag im Feldlager in Afghanistan im Frühjahr 2010 – bis hin zum Karfreitagsgefecht, das Götz aus nächster Nähe erlebt hat (siehe Tagebuchauszug Seite 16). Herausgeber Hartmann vergleicht die Unmittelbarkeit von Götz‘ Aufzeichnungen mit den Tagebüchern des Schriftstellers Ernst Jünger. Dessen Aufzeichnungen aus den Schützengräben des Ersten Weltkriegs wurden zur Grundlage seiner weltbekannten Schrift „In Stahlgewittern“ – doch wurde diese immer wieder vom Autor überarbeitet und entsprechend stilisiert.

Christian Hartmann und Markus Götz vor dem Ehrenhain aus Kunduz im „Wald der Erinnerung“ in Potsdam. (Foto: Stephan Pramme)

„Das Besondere am Tagebuch von Hauptfeldwebel Götz ist dagegen die Tatsache, dass er es nach der Niederschrift nicht mehr verändert hat“, sagt Historiker Hartmann. Götz hat seine handschriftlichen Notizen aus dem Einsatz nach seiner Rückkehr, so wie sie waren, in ein Word-Dokument abgetippt, das war’s. Das macht die Authentizität dieser historischen Quelle aus.
Als er in der vom ZMSBw herausgegeben Zeitschrift „Militärgeschichte“ eine Annonce las, in der das Institut private Soldatentagebücher aus Afghanistan zur wissenschaftlichen Auswertung suchte, reagierte er. Am Ende landete das Konvolut auf dem Schreibtisch von Christian Hartmann; dessen Erfahrung mit der Herausgabe, der wissenschaftlichen Edition historischer Quellen ist groß. Seine bekannteste Arbeit war die kritische Edition von Hitlers Pamphlet „Mein Kampf“; mehr als 3500 Anmerkungen und eine umfassende Einleitung waren hierfür nötig. Für Hartmann sind Editionen die Königsdisziplin der Geschichtswissenschaft, weil sich der Historiker als Herausgeber ganz der Quelle unterwerfen und sich auch mit Details beschäftigen muss, die ihn beim Verfassen einer eigenen wissenschaftlichen Arbeit vielleicht gar nicht interessiert hätten. „Das kann sehr anstrengend sein, erweitert aber auch enorm den Horizont.“ Auf die Frage, was denn der wichtigste Unterschied zwischen der Herausgabe von „Mein Kampf“ und von Götz‘ Tagebuch war, sagt Hartmann lapidar und augenzwinkernd: „Mir ist Herr Götz als Autor bedeutend sympathischer.“

Die Quelle dauerhaft sichern

Ansonsten war es ein enormes Unterfangen, das Tagebuch des Hauptfeldwebels für ein breites Publikum zu erschließen. Hartmann arbeitet gerne nachts, und so brannte in seinem Büro im ZMSBw oft noch als letztes das Licht. Abkürzungen mussten erläutert, Hintergründe erklärt, soldatische Begriffe übersetzt, Anglizismen eingedeutscht werden. Es galt, Persönlichkeitsrechte der Beteiligten zu beachten oder Sperrvermerke auf den deutschen Akten. Vor allem aber ging es darum, das Tagebuch in seinen militärischen und politischen Kontext einzuordnen. Und es gab viele Details ganz einfach zu erklären – auch mit Blick auf die Zukunft: „Es mag vielleicht banal klingen, eine Anmerkung zu dem Begriff ‚Dixie‘ zu schreiben – aber wissen wir denn heute, ob ein Leser in 50 Jahren damit noch eine mobile Toilette verbindet?“, fragt Hartmann.

Sein Ziel war es, diese Quelle dauerhaft zu sichern, daraus eine Art Flaschenpost zu machen im Fluss der Zeit, die auch in der Zukunft noch verständlich bleibt. Das ist ihm nicht nur in 549 Fußnoten zu Götz‘ Text gelungen, sondern auch in einer umfangreichen Einleitung und einem über hundert Seiten starken Anhang. Im Grunde genommen hat Hartmann um Götz‘ Tagebuch herum die Geschichte des deutschen Afghanistan-Einsatzes geschrieben, einschließlich einer in dieser Form einmaligen Beschreibung aller in Afghanistan verwendeten Waffensystemen vom G3 bis zum CH-53, Kurzbiografien der handelnden Personen, der Geschichte Afghanistans, einer Darstellung der militärischen Kräfte im PRT Kunduz, Aufsätzen zum Luftangriff von Kunduz am 3./4. September 2009 und zum Karfreitagsgefecht am 2. April 2010.

Fast könnte man sagen, hier haben sich zwei kongeniale Schreiber gefunden – der Verfasser einer zentralen Quelle und ihr historisch versierter Bearbeiter, der diese dann mustergültig zugänglich gemacht hat – für die Wissenschaft, aber auch für jeden, der sich für dieses Thema interessiert. Dass Autor und Herausgeber sich auch noch persönlich kennen- und schätzen gelernt haben, gemeinsam am Küchentisch des Tagebuchschreibers daheim in Vohenstrauß Kaffee getrunken haben, gehört zu den vielen Details in der Geschichte dieses ungewöhnlichen Buchs.

Es folgen Auszüge aus dem Tagebuch …

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Afghanistan-Tagebuch

loyal druckt im Folgenden einige kurze Auszüge aus dem Tagebuch von Hauptfeldwebel Markus Götz ab, um einen Eindruck von der Unmittelbarkeit der Aufzeichnungen und dem Stil des Autors zu vermitteln. Der Text stammt aus der von Dr. Christian Hartmann editierten Buchausgabe und wurde an einigen Stellen für loyal redaktionell leicht bearbeitet. Der umfangreiche Anmerkungsapparat, der auch für diese wenigen Zitate in der Buchfassung zu finden ist, wurde weggelassen.

4. März 2010 – Donnerstag
Alles tut weh – Scheiß-Fliegen. Sind in einer popligen Boeing 757 – irgendwas von Uzbekistan Airways – unterwegs. Insgesamt nur sechs Sitze à zwei Reihen breit, mit engem Gang dazwischen. Beinfreiheit wie in einem Fiat 500!
1700 Uhr deutsche Zeit. Keine Ahnung, wo wir zurzeit sind. Stockmauerndunkel draußen. Hab versucht zu schlafen – war nicht wirklich erholsam. Zum Lesen hab ich auch keine Lust, also fang‘ ich mal mein Einsatztagebuch an.Sind insgesamt zu acht aus Oberviechtach. Von den Mannschaften die Oberstabsgefreiten Wolle, Schorsch, Brandy und Lenny. Außerdem noch Hauptfeldwebel Chris, Oberfeldwebel Pit, Hauptfeldwebel Obi und ich von den Dienstgraden. Sind um 0400 Uhr in der Früh mit einem großen Bus von Oberviechtach los in Richtung Köln. Ein Sprinter mit Hauptfeldwebel Höhli dabei hat uns begleitet und verabschiedet. Haben während der sechsstündigen Fahrt schon die meiste Zeit geschlafen.
(…)
2000 Uhr deutsche Zeit Termez – endlich! Der übliche Terz mit Zoll, Einteilen in Gruppen – wer fliegt morgen wohin – aussteigen – Zeug rein ins Zelt usw. Noch ein kleines Bierchen in der „Area 51“, dann ab in den Schlafsack. Inzwischen ist es halb drei Uhr morgens Ortszeit. Morgen um halb acht aufstehen, waschen, in Ruhe frühstücken. Um zehn vor neun geht’s ab zur „Trall“. Kunduz – ich komme.

5. März 2010 – Freitag
Der Vogel hebt ab und los geht’s. Nach etwa 30 Minuten landen wir auf dem Kunduz-Airfield. Über die Landebahn, an einer US-Hercules vorbei, geht’s in den Tower. Hier hat sich kaum was verändert, seit ich im Juli 2008 das letzte Mal hier war. Nach kurzer Wartezeit fahren wir in der zweiten Welle mit vier Mungos ins PRT.
(…)
Nachdem wir uns kurz orientiert haben, geht’s zum Essen, danach auf einen Kaffee ins „Lummerland“. Dort komme ich mit einem Major ins Gespräch. War mal Zugführer in Oberviechtach in der 6. Kompanie. Fliegt heute aus. War sechs Monate hier
im Stab als S3-Offizier. Operationsplanung und solche Geschichten. Gibt mir ein paar Tipps. Resümee für mich: Hier ist Krieg – wenn es kracht! – und es kracht bei jedem, der rausfährt! Vollgas, Feuerüberlegenheit mit allen schweren Waffen – Panzerfaust, MILAN und Granatmaschinenwaffe!
(…)
Um 1900 Uhr Einrücken in die „Festung“, die Betreuungseinrichtung der 1. Infanteriekompanie. Der Kompaniechef, genannt Hauptmann Barbarossa, hat Geburtstag und gibt ein Bier aus. Die ganze Führung der 3. Kompanie, Fallschirmjägerbataillon 373, plus einige Unterstützer, wie z. B. die Pioniere, sind da. Außerdem der Zugführer des Foxtrott-Zuges, Oberfeldwebel Benno, Oberfeldwebel Borsti, der Spieß – langsam krieg ich die Gesichter rein und die Namen dazu. Wir trinken etwas. Dann geh ich mit Obi zum Duschen. Noch ein bisschen mein Zeug sortieren, diese Zeilen schreiben und dann schlafen. (…) Erst heute hatte die QRF einen TIC, wobei es
den Kompaniechef gleich erwischt hat – Steckschuss Oberschenkel. Den ganzen Nachmittag bis spät abends kreisen Kampfjets über Kunduz. Wir sind da!

13. März 2010 – Samstag
Wir marschieren los. Mulmiges Gefühl. Ich bin, Gott sei Dank, mit Orientieren und Führen beschäftigt, sodass ich wenig zum Grübeln komme. Aber irgendwie rechne ich an jeder Ecke damit, dass es kracht. Dann mitten in Kunduz ein ploppendes Geräusch und seltsamer Geruch aus meinem Transportpanzer, der den Gestank der Stadt kurzzeitig übertüncht. Panisches Gequatsche mit Wolle über Bordverständigung. Es dauert, bis ich einigermaßen detaillierte Informationen von ihm kriege, was mit unserem Transportpanzer los ist und ich an Oberleutnant Mike melden kann.
Es stellt sich heraus, dass die Feuerlöschanlage mit Halon ausgelöst hat. Wir halten mitten in der Stadt an und lassen Nahsicherer absitzen. Hab keine Gelegenheit zu registrieren, wie heikel diese Situation ist und mit Wolle, der immer noch panisch rumspringt und plappert, versuche einen Sachstand zu bekommen. Dann, nach endlosen Minuten, geht’s weiter.

15. März 2010 – Montag
Lasse meine schweren Waffen auf der Höhe in Stellung gehen. Hier oben sieht es so aus wie bei Verdun 1916. Laufgräben, Hescobunker und Sandsackstellungen – wie im Film. (…) Gegen 1430 Uhr – ich hab mich endlich in den Schatten verzogen – kracht es. Danach noch zwei, drei weitere Detonationen. Ich springe in die Stellung. Heftiges MG- und Granatmaschinenwaffen-Feuer. Der Golf-Zug wird mit RPG’s angegriffen. Beide Transportpanzer getroffen. (…) Über drei Stunden
immer wieder heftige Feuergefechte. Wir sehen die Einschläge der Granatmaschinenwaffe, hören und sehen MG-Feuer, können aber keinen Feind aufklären. Alles nur etwa 1,5 Kilometer weg von uns im Bereich westlich der Ortschaft Isa Khel. Unterhalb unserer Stellungen geht der Alltag ungeachtet des Gefechts weiter. Bauern auf den Feldern – Kinder.

2. April 2010 – Karfreitag
Unruhig und nicht gerade fest geschlafen. (…) Bin mit Toni auf dem Wachturm. Gegen 1000 Uhr kommt ein afghanischer Polizist zu uns rauf. Mit Händen und Füßen hole ich mir Informationen über die Taliban im Norden von Chahar Dara. (…) Gegen 1300 Uhr Hektik auf der Zugfrequenz. Ich vermute Troops in Contact und habe Recht. (…) Compound beschossen. Plötzlich kommt ein wichtig aussehender Afghane mit Interpreter und drei afghanischen Polizisten im Schlepptau auf den Wachturm und berichtet von einem Feuergefecht. Tactical Operation Center-Information über Tetrapol: „Blitzschlag“ – ein Verwundeter.

Lasse Rille wecken und den Transportpanzer von der Mauer in die Mitte des Polizeihauptquartiers vorziehen und stelle mich darauf ein, eventuell Force Protection mit Obi für den Beweglichen Arzttrupp zu stellen. Hektik. Mehrere Verwundete. Thommy hat’s wohl erwischt. Arm- und Beintreffer.

1344 Uhr: IRF beim Meldepunkt Weser im Anmarsch. Zug Golf hat Thommy geborgen und versucht ihn zum Fahrzeug zu bringen. Barbarossa plant, die Verwundeten bei Höhe 432 mit Black Hawk holen zu lassen. 1350 Uhr: IRF passiert Polizeihauptquartier in Richtung Höhe 431. Zug Golf hat drei Verwundete – Thommy am Bein, ein weiterer am Kopf, ein weiterer ebenfalls am Bein. 1355 Uhr: Zwei Black Hawks kreisen über der Höhe 432. Pit meldet, Motor Schützenpanzer springt nicht mehr an. Zug Golf kann sich nicht lösen. Obi kommt mit Beweglichem Arzttrupp nicht ran. Zug Golf meldet Beginn Reanimation und schreit nach Beweglichem Arzttrupp. Fliegerleittrupp meldet Show-of-Force in wenigen Minuten. Funkspruch von Barbarossa – Aufgesessen! Tactical Operations Center meldet 18 weitere Insurgents von Haji Amanulla in Richtung Isa Khel. Obi ist jetzt endlich
bei Zug Golf (1407 Uhr). Geschreie im Funk. Thommy noch vorne – noch nicht stabil. Kompaniechef ruhig. Bei Zug Golf im Hintergrund MG-Feuer. Ich zittere leicht. Verdammte Scheiße. Ich kann hier nichts machen. Jungs, bringt die Verwundeten raus!
(…)
1417 Uhr Medical Evacuation landet. Zug Foxtrott bei Zug Golf. (…) Verbringen zweiten Verwundeten. IRF mit einem Fahrzeug und Beweglichem Arzttrupp zu Zug Golf – holen restliche Verwundete. (…) Zug Golf markiert und weicht unter Rauch aus. Deckungsfeuer von den Schützenpanzern. Die Black Hawks kreisen wieder. (…) 1457 Uhr Zug Golf benötigt Bergebereitschaft für Dingo. Barbarossa meldet: „IRF hat keine Bergebereitschaft.“ Dingo wird vermutlich aufgegeben.
(…)
1510 Uhr: Feuer von Westen aus dem Bereich Meldepunkt 92. Wir gehen mit
dem Transportpanzer in Stellung nach Westen. Zug Golf meldet RPG-Treffer in Dingo – rollt aber noch. 1528 meldet weiteren Schwerverletzten bei einem Compound.
1530 Uhr Ruhe im Bereich Zug Golf. Bergung von Material aus angesprengtem Dingo. Dann Knall und Rauch südlich von uns. (…) Wir können nichts aufklären. Ich lasse mit MG und Granatmaschinenwaffe entlang der Erdhügel abstreuen. Ich melde über Kompanie-Kreis, dass wir angegriffen werden. (…) Toni hämmert an der Schule vorbei. Hat dort Feind aufgeklärt. Lasse immer wieder Granatmaschinenwaffe nach Norden schießen. (…) Das Drama in Isa Khel geht weiter.

3. April 2010 – Samstag
Ab 2100 Uhr stellen wir die Totenwache. Chris und ich sind von 0030-0130 Uhr dran. Morgen ist so wohl gegen halb zehn Trauerfeier. Nachmittags Überführung der Särge nach Deutschland. Bin gespannt, was das in den Medien und der Politik noch für Wellen schlägt und wie wir hier die nächsten Monate weitermachen. Jetzt den Kopf in den Sand zu stecken, wäre bestimmt fatal. Den Erfolg und die Genugtuung sollten wir den Arschlöchern nicht geben. (…) Vor allem herrscht neben der Trauer Frustration darüber, dass wir dauernd einstecken müssen, aber nie wirklich mit aller Macht zurückschlagen dürfen und erkannte Insurgents einfach mit den Jets wegbomben können, bevor sie uns wieder Verluste zufügen. Aber im Moment ist es so schwer für mich, auch nur daran zu denken, wieder rauszufahren. Das wird die Hölle!

11. April 2010 – Sonntag
Gegen 0945 sitze ich wieder draußen. Marco ist auch da. Plötzlich hören wir es richtig nah pfeifen – Rakete. Wir springen auf, laufen in die Container und alarmieren alle. Dann geht die Sirene. Wir gehen ins Atrium. Diese dreckigen Wichser!
Geht mir langsam auf die Nerven! 1045 Uhr: Bunkeralarm aufgehoben, aber Raketenwarnung bleibt bestehen.

4. Juli 2010 – Sonntag
Endlich dann vertraute Landschaften – A93 – Weiden – B22 – Ortsschild Oberviechtach. Irgendwie ist alles anders als die letzten Monate, wie auf einem anderen Stern. (…) Hab meine Mum angerufen, um abgeholt zu werden. (…) Ich steige ins Auto – Smalltalk. Blicke wieder verträumt aus dem Fenster. Vertraute Landschaften und Orte. Es hat sich scheinbar nichts verändert – und doch hat sich so viel verändert – irgendwoanders auf dieser Welt. Ich bin wieder zu Hause!


 

„Hier ist Krieg“
Afghanistan-Tagebuch 2010
von Markus Götz, herausgegeben von Christian Hartmann.
Vandenhoek & Ruprecht, 2021
486 Seiten, 45 Euro

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