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Fragiler Frieden auf dem Balkan

Seit 25 Jahren ist die internationale KFOR-Truppe im Kosovo. Ohne sie würde der Frieden in dem 2008 von Serbien unabhängig gewordenen Land wohl zusam-menbrechen. In letzter Zeit haben die Spannungen zwischen Kosovaren und Serben wieder zugenommen. Aus dem Kosovo und aus Serbien berichten André Uzulis (Text) und Stephan Pramme (Fotos). Mitarbeit: Erdin Kadunić.

Die Brücke über den Fluss Ibar in der nord­kosovarischen Stadt Mitrovica ist zum Symbol des Konflikts geworden. Dass dort mit Cvetko und Hassan ein serbisch- und ein albanisch-stämmiger Polizist gemeinsam Dienst tun, ist eine Ausnahme. Cvetko (links) schaut auf die serbische Seite, Hassan auf die albanische.

Foto: Stephan Pramme

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Hassan und Cvetko sind Polizisten. Sie gehen in Mitrovica im Norden des Kosovo gemeinsam auf Streife. Was auf den ersten Blick völlig normal wirkt, ist im Kosovo etwas Besonderes. Denn Hassan ist ethnischer Albaner und Cvetko ethnischer Serbe. Dass sie als Kollegen Seite an Seite arbeiten, ist eine große Ausnahme in diesem Land. Die serbische Minderheit ist einem Propagandadauerfeuer aus Serbien ausgesetzt und wird aus Belgrad ständig gewarnt, sich bloß nicht für den Kosovo einzusetzen. Serbien erkennt seine ehemalige Provinz, die sich 2008 für unabhängig erklärt hat, nicht als eigenständigen Staat an. Mit der Unabhängigkeit fanden sich die Serben im Kosovo plötzlich in einem neuen Staat wieder, der den meisten von ihnen bis heute fremd geblieben ist. Sieben Prozent der Bevölkerung stellen sie. Ihr Hauptsiedlungsgebiet ist der Norden des Kosovo, es gibt aber auch einige serbische Enklaven im Rest des Landes.

Cvetko und Hassan verstehen sich gut – als Polizisten, als kosovarische Staatsbürger und über den Altersunterschied hinweg. Cvetko ist 25, Hassan 45. Zwölf Stunden dauert ihre Schicht an der Brücke über den Fluss Ibar in Mitrovica. Sie schlendern hin und her, plauschen hier und dort mit Passanten. Die Brücke ist zum Symbol einer geteilten Stadt geworden. Nördlich des Ibar leben überwiegend Serben, südlich des Flusses Albaner. Immer wieder gab es hier in der Vergangenheit Spannungen. Mal ging es um serbische Autokennzeichen, die der kosovarische Staat nicht anerkannte, mal um Angriffe auf Wahlhelfer, mal um eine von Serben boykottierte Kommunalwahl. Und kürzlich um die Abschaffung des serbischen Dinar in den serbisch geprägten Gemeinden des Nordkosovo zugunsten des Euro, der im Kosovo das offizielle Zahlungsmittel ist.

Hassan (links) und Cvetko patrouillieren auf der Brücke von Mitrovica. Im Hintergrund das serbische Viertel der zwischen Serben und Albanern geteilten Stadt. Die Brücke ist für den Autoverkehr gesperrt. (Foto: Stephan Pramme)

Immer wieder nutzt der autokratisch herrschende serbische Präsident Aleksandar Vučić solche Anlässe, um Öl ins Feuer zu gießen und die Serben im Kosovo aufzuwiegeln. Die überwiegende Zahl von ihnen folgt der serbischen Propaganda und sieht keine Veranlassung, sich in den kosovarischen Staat zu integrieren. Andererseits gibt sich auch der kosovarische Ministerpräsident Albin Kurti unversöhnlich und überrascht selbst seine westlichen Partner immer wieder mit Hauruck-Aktionen wie dem Dinar-Verbot, das mit extrem kurzer Vorlaufzeit umgesetzt werden sollte und das den Serben zunächst nicht einmal in ihrer Sprache kommuniziert wurde. Angesichts dieser Verhärtung auf beiden Seiten sind Menschen wie Hassan und Cvetko ein hoffnungsfrohes Zeichen. Sie zeigen: Es geht auch anders.

Einsatz an der „Verwaltungsgrenze“

Wenn es erneut zu Ausschreitungen an der Brücke von Mitrovica kommen würde, wären die beiden kosovarischen Polizisten aber überfordert, auch wenn sie Dienstpistolen tragen. Deshalb zeigt die internationale Kosovo-Force (KFOR) Präsenz an diesem neuralgischen Punkt. Sie ist mit italienischen Soldaten und Carabinieri am nördlichen Brückenkopf vertreten, davor befinden sich Betonsperren – in Richtung des serbischen Viertels. Für den Autoverkehr ist die Brücke gesperrt.

Dass auf der albanischen Seite von Mitrovica die Flagge Albaniens weht, ist nicht ungewöhnlich. Albaner und Kosovaren verstehen sich als eine Nation in zwei Staaten. Der serbische Teil der Stadt im Nordkosovo ist indes mit zahllosen serbischen Flaggen geschmückt. (Foto: Stephan Pramme)

Die KFOR patrouilliert auch in der Umgebung. An diesem Februartag bewegt sich eine elfköpfige Gruppe italienischer Soldaten des 8. Reggimento Genio Guastatori Paracadutisti „Folgore“ aus Legnano bei Verona in der Region. Die zehn Männer und eine Frau unter Leitung von Oberleutnant Andrea* fahren mit ihren beiden geschützten Iveco-Trucks auch in das Dorf Banjska. Der Ort hatte im vergangenen Herbst traurige Berühmtheit erlangt, weil es dort zu einem folgenschweren Zwischenfall kam.

30 schwer bewaffnete serbische Kämpfer waren am 24. September nach Banjska eingedrungen und hatten Kriegswaffen ins orthodoxe Kloster der 350-Einwohner-Gemeinde gebracht. Sie waren, wie die kosovarische Regierung in einem Untersuchungsbericht feststellte, für einen Umsturz im Kosovo gedacht. Als die kosovarische Polizei einschritt, kam es zu einem Schusswechsel. Dabei wurde ein kosovarischer Polizist getötet, ebenso drei serbische Kämpfer. Die anderen Angreifer konnten über die nahe Grenze nach Serbien entkommen, unter ihnen der Anführer der Gruppe, der Vizepräsident der Partei „Serbische Liste“, Milan Radoičić. Er wurde in Serbien verhaftet, ist aber längst wieder auf freiem Fuß, wie der kosovarische Verteidigungsminister Ejup Maqedonci loyal im Interview sagte.

Blick auf Mitrovica vom alten serbischen Friedhof aus. (Foto: Stephan Pramme)

Die Grenze zu Serbien ist hier nicht weit, das Gelände ist gebirgig und unübersichtlich – also ideale Voraussetzungen für einen Freischärlerangriff aus dem Nachbarland. Oberleutnant Andrea spricht von der „Verwaltungsgrenze“, wenn er die kosovarisch-serbische Grenze meint. Der Sprachgebrauch der KFOR spiegelt politische Korrektheit wider, denn mehrere truppenstellende KFOR-Nationen erkennen die Eigenstaatlichkeit des Kosovo nicht an. In diesem Sinne kann es für sie auch keine Staatsgrenze geben, wenn es den Staat gar nicht gibt.

Stimmung aufnehmen, Infrastruktur prüfen

Doch das sind am Ende Wortklaubereien. Die KFOR ist seit 1999 im Land, also seit nunmehr 25 Jahren, und sie ist der Garant für die De-facto-Existenz des Kosovo als Staat. Nach entsetzlichen Gewaltexzessen von serbischen Truppen an der albanischen Bevölkerung und Vertreibungen von Hunderttausenden Menschen schritt im März 1999 die NATO ein und bombardierte monatelang Serbien, ehe der damalige serbische Präsident Slobodan Milošević einlenkte. Im Juni 1999 marschierte die KFOR in den Kosovo ein und wurde von der albanischen Mehrheit als Befreier gefeiert.

Eine der wichtigsten Aufgaben einer KFOR-Patrouille ist es, mit der Bevölkerung ins Gespräch zu kommen. Es geht um Stimmung und Atmosphäre, damit frühzeitig aufziehende Konflikte erkannt werden können. Auf dem kleinen Dorfplatz von Banjska hören die italienischen KFOR-Soldaten einem älteren Serben zu. (Foto: Stephan Pramme)

Heute ist in Banjska alles ruhig. Kaum zu glauben, dass das Kloster oberhalb des Ortes noch vor ein paar Monaten als Waffenlager diente. Die Gruppe von Oberleutnant Andrea wird in der Dorfkneipe von Svetlana, der Inhaberin, freundlich empfangen. Es gibt Kaffee für alle. Die italienischen Soldaten hören sich an, was Svetlana und die wenigen Gäste in der Kneipe zu sagen haben. Es geht dabei buchstäblich um Gott und die Welt, um Politisches und Alltägliches. „Das gehört zu unseren Aufgaben“, sagt Andrea, „mit der Bevölkerung sprechen und die Stimmung aufnehmen.“

Für eine andere Aufgabe, die ebenfalls heute erledigt werden muss, sind Andreas Soldaten regelrechte Spezialisten. Denn sie sind zugleich Fallschirmjäger und Pioniere. Als Pioniere müssen sie die baufällige Brücke über den Ibar kurz vor dem Dorf in einer Schlucht in Augenschein nehmen. Die Brücke sieht aus, als würde sie jeden Moment zusammenstürzen. Dabei ist sie die einzige Verbindung von der Hauptstraße nach Banjska. Andrea lässt absitzen und seine Leute mit allerlei Messgerät ausrücken. Er deutet auf eine ausgefranste Stelle neben der Fahrbahn.

Die Soldaten des 8. Reggimento Genio Guastatori Paracadutisti aus der Nähe von Verona vermessen die marode Brücke bei Banjska. (Foto: Stephan Pramme)

Der Beton ist weggebröselt, der Stahl aus dem Innern liegt frei. „Das ist Betonkrebs“, sagt der ausgebildete Bauingenieur. Seine Soldaten vermessen Breite und Länge der Brücke, schätzen die Standfestigkeit der Brückenpfeiler und suchen den Feldweg mit Metalldetektoren nach Minen ab. „Neben der Aufnahme der Stimmung in der Bevölkerung ist unser Auftrag auch die Überprüfung der Infrastruktur. Es geht um Bewegungsfreiheit für die KFOR-Truppe, aber auch für die Zivilbevölkerung. Wir melden alles ans regionale Hauptquartier, das wiederum die zivilen Behörden über den Zustand von Straßen und Brücken informiert.“

Kontingent wird wieder aufgestockt

Das ist der Alltag von KFOR im Kosovo. Auch die Bundeswehr ist von Anfang an dabei. Sie hat im Laufe der Jahre mehr als 50.000 Soldaten ins Land geschickt. Das Feldlager Prizren, das von 1999 bis 2018 genutzt wurde, ist vielen Aktiven, Ehemaligen und Reservisten noch in bester Erinnerung. Die Bundeswehr war dort, im Südwesten des Kosovo, ein fester Bestandteil des öffentlichen Lebens, die Deutschen waren extrem beliebt. Heute ist das Feldlager ein gutes Beispiel für eine gelungene Konversion ehemaliger Liegenschaften der Bundeswehr im Ausland: Inzwischen befindet sich dort ein in Kooperation mit der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) aufgebauter Innovations- und Technologiepark, in dem sich Start-ups und Firmen der Lebensmittel- und Agrartechnologie sowie der Kreativwirtschaft angesiedelt haben.

Im kleinen Dorfcafé hat Inhaberin Svetlana Kaffee für die Soldaten gemacht und spricht mit der amerikanischen Presseoffizierin Major Marilu Torres, die die Patrouille begleitet. loyal-Mitarbeiter Erdin Kadunić übersetzt vom Serbischen ins Englische. (Foto: Stephan Pramme)

Dass die Bundeswehr zeitweise mit nicht weniger als 8.000 Soldaten gleichzeitig im Kosovo vertreten war, ist Geschichte. Aktuell sind es im inzwischen 67. Kontingent nur noch ein Prozent davon: 80, vor allem Feldnachrichtenkräfte. Auch die KFOR-Truppe insgesamt war in Spitzenzeiten sehr viel größer und umfasste bis zu 48.000 Mann; jetzt sind es nur noch knapp 4.500. Womöglich ist das angesichts der zunehmenden Spannungen zu wenig. „Wir hatten zuletzt gewalttätige Ausschreitungen erlebt wie in den vergangenen 20 Jahren nicht“, sagt der aktuelle deutsche Kontingentführer Oberst Sascha Mies im loyal-Gespräch im Camp Film City in Pristina, dem KFOR-Hauptquartier. „Im vergangenen Jahr sind dabei 90 KFOR-Soldaten zum Teil schwer verletzt worden.“ Mies spricht davon, dass der Trend zur Truppenreduzierung bei KFOR zumindest vorerst gebrochen sei. „Man ist als Militär immer gut beraten, sich auf alle Szenarien vorzubereiten.“

Deshalb stößt demnächst eine verstärkte deutsche Infanteriekompanie zu KFOR. Die 90 Soldaten haben eine spezielle Befähigung, Krawalle einzudämmen, die sogenanntes Crowd and Riot Control. Sie werden ergänzt durch 65 Unterstützungskräfte und sind dem US-geführten Regionalkommando Ost im Camp Bondsteel bei Ferizaj südlich von Pristina unterstellt. Die Deutschen ersetzen teilweise eine abziehende österreichische Einheit. Das hohe Ansehen, das sich die Bundeswehr seinerzeit in Prizren erworben hat, wirkt bis heute nach. Oberst Mies ist überzeugt: „Wir leisten einen qualitativ hohen Beitrag, weil wir über gut ausgebildete Generalstabsoffiziere, Truppenoffiziere, Portepees und Mannschaften verfügen, die hier anerkannt sind. Auf dem Flur hören Sie gelegentlich Sätze wie: ‚Wenn ein deutscher Soldat diese oder jene Aufgabe übernimmt, wird es funktionieren ‘.“ Auch in der Bevölkerung seien die Deutschen beliebt: „Wenn wir rausfahren, sehen wir Menschen, die uns zuwinken“, sagt Mies.

„Russland nutzt das Zögern der EU“

Die kosovarische Außenministerin Donika Gërvalla-Schwarz würde sich mehr deutsches Personal auch in der KFOR-Führung wünschen. Die KFOR-Spitze besteht momentan aus einem türkischen Kommandeur, einem italienischen Stellvertreter und einem amerikanischen Chef des Stabes. Bei einem Treffen mit Verteidigungsminister Boris Pistorius habe sie ihm ihren Wunsch im Februar mitgeteilt, sagt Gërvalla-Schwarz im Interview mit loyal. „Er hat mit Interesse zugehört.“

Die kosovarische Außenministerin Donika Gërvalla-Schwarz ist die Tochter des Regimekritikers Jusuf Gërvalla, der 1982 in Untergruppenbach bei Heilbronn ermordet wurde. Sie ist mit einem Deutschen verheiratet. (Foto: Stephan Pramme)

Die Beziehungen des Kosovo zu Deutschland seien traditionell gut. In Deutschland leben eine halbe Million Kosovaren. Die Rücküberweisungen aller Auslands-Kosovaren beliefen sich nach Angaben der Außenministerin auf zuletzt 1,4 Milliarden Euro jährlich, ein Vielfaches von dem, was der Kosovo von der EU und anderen erhält. Bei einem Staatshaushalt mit einem Volumen von 3,4 Milliarden Euro ist das keine Kleinigkeit. Um die Menschen im Land zu halten und Investoren zu werben, lockt der Kosovo mit niedrigen Einkommens- und Unternehmenssteuern: Gerade mal zehn Prozent kassiert der Staat maximal in beiden Steuerarten. Davon kann man in Deutschland nur träumen.

Gërvalla-Schwarz sieht ihr Land in fünf Jahren als Mitglied der NATO. 90 Prozent der Kosovaren seien für einen NATO- und einen EU-Beitritt. „Unser Beitritt zuerst zur NATO ist wahrscheinlicher; die EU zeigt nicht, dass sie bereit ist, uns tatsächlich zu integrieren. Zwar wird viel geredet, aber der politische Wille fehlt spürbar; Russland nutzt dieses Zögern konsequent aus“, so die Ministerin. Es brauche deutlich mehr NATO-Präsenz in der Region, weil nur die NATO Sicherheit garantiere. „Deshalb bin ich der Meinung, dass auch Bosnien in die NATO gehört; die Bedrohung durch Russland und Serbien auch dort ist real.“

Einem Beitritt steht allerdings die Nichtanerkennung des Kosovo von den fünf NATO-Mitgliedern Spanien, Griechenland, Zypern, Rumänien und der Slowakei entgegen. In der Allianz gilt das Einstimmigkeitsprinzip, wie zuletzt die Verzögerungen des schwedischen Beitritts durch die Türkei gezeigt haben. Gërvalla-Schwarz ist sich aber sicher, dass in bilateralen Gesprächen mit den Staaten die Hindernisse ausgeräumt werden könnten. „Wir bereiten uns auf die EU und die NATO so vor, als stünde das Datum fest, um vorab möglichst alle Bedingungen zu erfüllen. Das haben wir auch beim Europarat so gemacht, dem wir 2024 beitreten wollen.“

Ethnische Serben meiden die Armee

Dass es im diplomatischen Dienst des Kosovo keinen einzigen ethnischen Serben gibt, bedauert sie: „Ein Staat wird ein Staat durch ein Außen- und ein Verteidigungsministerium. Serben im Staatsdienst müssen noch immer mit Druck rechnen, bis in die Familien. Wer als Serbe Diplomat werden will, sich damit auch international zum Kosovo bekennt, braucht noch immer etwas Mut. Das ändert sich, aber es braucht Zeit.“

Ein ähnliches Problem hat auch Gërvalla-Schwarz’ Kabinettskollege Verteidigungsminister Ejub Maqedonci. In den kosovarischen Streitkräften sind zehn Prozent der 5.000 Dienstposten für Minderheiten vorgesehen. Die ethnischen Serben bleiben der Ushtria e Kosovës, wie die Truppe auf albanisch heißt, aber fern. Und dass trotz guter Bezahlung. Ein Gefreiter verdient 600 Euro im Monat, ein Hauptmann 1.000. Im Vergleich zu den Bezügen eines Ministers im Kosovo ist das viel: Kabinettsmitglieder erhalten 1.500 Euro, der Ministerpräsident nur wenig mehr.

Der kosovarische Verteidigungsminister Ejub Maqedonci hat in seinem Dienstzimmer seine früheren Uniformen an der Wand hängen. Ganz links die der UÇK. (Foto: Stephan Pramme)

Dass die ethnischen Serben die Armee dennoch meiden, liegt eher daran, dass die Truppe ihre Wurzeln in der UÇK (Ushtria Çlirimtare e Kosovës) hat, der Befreiungsorganisation des Kosovo, die im Kosovokrieg für Verbrechen an Serben berüchtigt war. Acht ehemalige UÇK-Kämpfer hat das EU-gestützte Sondertribunal für den Kosovokrieg in Den Haag für ihre Taten verurteilt. Minister Maqedonci war selbst bei der UÇK  und hat seine alte UÇK-Uniform konservieren und einrahmen lassen. Sie hängt in seinem Dienstzimmer im Ministerium. Stolz zeigt er sie den loyal-Reportern.

Größte Gefahr durch „grüne Männchen“

Maqedonci spricht von einer „permanenten Bedrohung“ durch serbische Truppen, die zum Teil nur 300 Meter hinter der gemeinsamen Grenze lauerten und jederzeit zuschlagen könnten, so wie am 24. September in Banjska. „Wir erwarten, dass sie wiederkommen und weitere Gewalttaten verüben“, sagt der Minister. Über die Zusage der USA, dem Kosovo 246 hochwirksame Javelin-Panzerabwehrraketen zu liefern, ist Maqedonci in diesem Zusammenhang erfreut.

Wie wahrscheinlich ein Einsatz der Javelins gegen heranrückende serbische Panzer ist, sei dahingestellt. Beobachter halten es für ausgeschlossen, dass Serbien den Kosovo auf klassische Weise mit Panzern und Infanterie angreift. Das Land würde in diesem Fall sofort mit Sanktionen belegt und wäre isoliert, denn es ist mit Ausnahme von Bosnien von NATO-Staaten umgeben. Wahrscheinlicher sind Kommandoaktionen wie die vom 24. September in Banjska: durch „Grüne Männchen“, also serbische Spezialkräfte, die nach dem Vorbild Russlands in der Ukraine im Nachbarland für Unruhe sorgen und den Kosovo destabilisieren.

Miloš Vučević ist seit 2022 serbischer Verteidigungs-minister. Im vergangenen Jahr übernahm er von Präsident Aleksandar Vučić, als dessen Vertrauter er gilt, auch die Führung der Regierungspartei SNS. (Foto: Stephan Pramme)

Der serbische Verteidigungsminister Miloš Vučević  sagt im Interview mit loyal, dass Serbien nicht vorhabe, das Kosovo zurückzuerobern: „Wir bereiten keine gewaltsame Rückkehr in den Kosovo vor.“ Serbien sei vielmehr das einzige Land in der Region, das militärisch neutral sei. Die serbische Militärdoktrin sieht eine „totale Verteidigung“ vor. Die Militärausgaben stiegen von 1,6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts im Jahr 2018 auf knapp 2,3 im Jahr 2022. „Wir haben eine leistungsfähige eigene Waffenproduktion und sind in der Lage, komplexe Waffensysteme selbst herzustellen. Wir kaufen zusätzlich Waffen aus verschiedenen Ländern, zum Beispiel aus China, Frankreich und Spanien. Anfragen gingen an Südkorea und die USA. Früher haben wir auch Waffen aus Russland bezogen, aber das ist aktuell wegen der Sanktionen nicht mehr möglich“, sagt der Verteidigungsminister. Serbien versteht sich nach seinen Worten als „Panzermacht“, investiert aktuell aber vor allem in Artillerieraketen, Automation und Künstliche Intelligenz.

„Wir dienen Serbien“

In der serbischen Öffentlichkeit wird die NATO als der Feind schlechthin dargestellt. An Hauswänden in Belgrad sieht man Plakate, von denen Kinderaugen den Betrachter anschauen oder auf denen Kinderleichen zu sehen sind. Im Text heißt es: „Wir werden der NATO nie die Tötung unserer Kinder vergeben.“ Gemeint sind die zivilen Opfer des Bombardements von 1999. Vučevićs Belgrader Ministerium ist zum Teil eine Ruine; sie wurde nach der Bombardierung nicht wieder aufgebaut und dient heute als Mahnmal, darüber ist ein fußballfeldgroßes Plakat mit dem Foto martialisch auftretender Soldaten und dem Satz „Wir dienen Serbien“ gezogen.

Das Verteidigungsministerium in Belgrad ist seit dem NATO-Bombardement 1999 teilweise eine Ruine. Sie wird bedeckt von einem Riesenplakat, das Soldaten zeigt. Aufschrift: „Wir dienen Serbien“. (Foto: Stephan Pramme)

Doch was eindeutig schwarz und weiß erscheint, hat in Wahrheit viele Facetten. Offiziell prügelt die serbische Regierung gern propagandistisch auf die NATO ein, de facto arbeitet man mit ihr zusammen. Allein im vergangenen Jahr hat es nach Zählung ausländischer Experten rund 200 gemeinsame Maßnahmen zwischen der etwa 20.000 Mann starken serbischen Armee und NATO-Streitkräften gegeben, davon acht mit der Bundeswehr. Serbien ist ein verlässlicher Partner bei internationalen Einsätzen, etwa im Libanon. Serbische Sanitäter waren dem Bundeswehrkontingent in Mali zugeordnet. Alle serbischen Einheiten, die ins Ausland gehen, sind NATO-zertifiziert. Die serbische Militärdoktrin von der „totalen Verteidigung“ mit ihrer 15-minütigen Alarmbereitschaft für die Flugabwehr ist eine Obsession. In Wirklichkeit gibt es für Serbien keine militärische Bedrohung, von keiner Seite des Landes.

Dennoch inszeniert sich das Land als Opfer: der NATO, der EU, der USA. Präsident Aleksandar Vučić ist für seine Tiraden gegen den Westen berüchtigt. Besondere Beziehungen zu Russland, die im Westen gern hervorgehoben werden, sind nicht so fest, wie sie scheinen, auch wenn die serbisch-russische Freundschaft in der Propaganda und nicht zuletzt auch durch die orthodoxe Kirche immer wieder beschworen wird. Tatsächlich leben Zehntausende regierungskritische Russen im Land, die Serbien in der Regel unbehelligt lässt. Die russischen Direktinvestitionen in Serbien sind marginal; selbst die Niederlande investieren ein Vielfaches von dem  in Serbien, was Moskau investiert. Auch das ist bemerkenswert: Im Ukraine-Krieg tauchen immer wieder Granaten aus serbischer Produktion auf – abgeschossen von der ukrainischen Armee. Dass Serbien die Ukraine direkt unterstützt, bestreitet Belgrad.

„EU war, ist und bleibt strategisch wichtigster Partner Serbiens“

Der Leiter des Belgrader Büros der Konrad-Adenauer-Stiftung, Jakov Devčić, sieht gerade durch den Ukraine-Krieg eine neue Chance für Serbien auf eine EU-Mitgliedschaft. „In Brüssel und den EU-Hauptstädten wird wieder aktiv über Erweiterungspolitik gesprochen“, sagt Devčić. „Ich wünsche mir, dass Serbien diese Chance ergreift und seine Reformanstrengungen mit der neuen Regierung intensiviert, denn die EU war, ist und wird der strategisch wichtigste Partner Serbiens bleiben.“

Wenn Serben ins Ausland gehen, dann in die EU, insbesondere nach Deutschland, oder in die USA. Eine Abstimmung mit den Füßen könnte es auch geben, wenn die Regierung die Pläne von Präsident Vučić nach Wiedereinführung der 2011 abgeschafften Wehrpflicht umsetzt, die im Land vor allem  bei den älteren Menschen beliebt ist, die von der Wehrpflicht nicht betroffen wären. Das größte Problem Serbiens aber bleiben der autokratische Führungsstil, die Vetternwirtschaft, die Korruption und das Fehlen einer positiven Vision für die serbische Gesellschaft. Während im Kosovo allenthalben zupackende Aufbruchstimmung und Optimismus herrschen, ist in Serbien eine Antriebslosigkeit zu spüren, die an Depression grenzt. Das Land scheint wie unter einer Käseglocke gelähmt.

Milica Šarić, eine der wenigen investigativen Journalisten in Serbien, sagt: „Die, die sich kritisch äußern, werden als Verräter an der serbischen Sache angesehen.“ (Foto: Stephan Pramme)

Milica Šarić vom Center for Investigative Journalism of Serbica (CINS) in Belgrad ist eine der wenigen unabhängigen Journalisten im Land, in dem freie Medien praktisch inexistent sind. Sie sagt: „Unsere Nation ist eine alte Nation, weil die Jungen weggehen. Diejenigen, die bleiben und die sich kritisch äußern, werden als Verräter an der serbischen Sache angesehen. Ich glaube an Veränderung, deshalb mache ich meine Arbeit. Aber das Fenster der Veränderung wird immer kleiner – nicht, weil der Staat immer repressiver wird, sondern weil die Menschen die Kraft verlieren, Veränderungen am System vorzunehmen.“


* Die KFOR gibt nur die Vornamen ihrer Soldaten bekannt.


(Foto: Pramme)

„Ich habe keine Angst“

Zoran Vuletić (54) war schon als 20-Jähriger im politischen Kampf gegen den damaligen serbischen Präsidenten Slobodan Milošević aktiv. „Es gab in der Zeit keine Demo, an der ich nicht teilgenommen habe“, sagt der studierte Agrarwissenschaftler, Unternehmer und Oppositionspolitiker. Er ist heute einer der Hoffnungsträger der jungen Generation in Serbien. Nach Jahren in der liberaldemokratischen Partei LDP steht er inzwischen dem Bürgerlich-Demokratischen Forum vor, einer 2019 gegründeten freiheitlichen Partei.

Die regierenden serbischen Politiker hätten nicht verstanden, was der Fall der Berliner Mauer für Europa bedeutet hat, sagt Vuletić im Gespräch mit loyal. Dass Frieden und Freiheit zusammengehören, habe man in Serbien nicht verinnerlicht. „Den Serben war es immer wichtiger, wie groß der Staat ist, anstatt wie gut er funktioniert.“ Vuletić lehnt die Ideologie eines Groß-Serbiens ab, die von vielen im Land unterstützt wird – also die Vereinigung aller Serben in einem Staat. Serben leben außerhalb Serbiens nicht nur im Kosovo, sondern auch in Bosnien, Kroatien und Montenegro.

Solche Auslandsserben hatte Präsident Vučić am 17. Dezember ins Land geholt, um sie bei den Parlamentswahlen abstimmen zu lassen. „Die Wahlen waren manipuliert“, sagt Vuletić. „Wir als Opposition hatten keine Chance, in den Medien unseren Standpunkt darzustellen. Uns bleibt nur das Internet.“ Auf die Frage, wie es sich als Oppositionspolitiker in Serbien lebt und ob er um sein Leben fürchtet – immerhin wurde 2003 der damalige demokratische Ministerpräsident Zoran Đinđić auf offener Straße von einem Angehörigen einer paramilitärischen Spezialeinheit, der „Roten Barette“, ermordet – sagt Vuletić kurz und bündig: „Ich habe keine Angst.“


Buchtipps

Florian Bieber: Pulverfass Balkan – Wie Diktaturen Einfluss in Europa nehmen; Ch. Links Verlag, 248 Seiten, 20 Euro

Marie-Janine Calic: Geschichte Jugoslawiens; Verlag C.H. Beck, 416 Seiten, 24 Euro

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