1870 reloaded
Abschreckung statt Stabilisierungseinsätze: Frankreich muss angesichts der veränderten sicherheitspolitischen Lage in Europa seine Landstreitkräfte umbauen. Die Militärplaner sehen das Heer in einer Situation, die jener am Vorabend des Krieges gegen Preußen ähnelt.
Russlands Invasionskrieg gegen die Ukraine fordert auch die Landstreitkräfte der NATO und EU-Europas. Über drei Jahrzehnte legte man sie auf Stabilisierungsoperationen aus und damit auf leichte Infanterie. Nun müssen kampfstarke Feldheere entstehen. Gerade für Frankreichs Heer ist der Umbau herausfordernd. Kein anderes Heer Kontinentaleuropas wurde so konsequent auf Eingreifoperationen mit leichten und Mittleren Kräften optimiert – vornehmlich an Europas Südflanke. Nun muss die Armée de Terre mechanisierte Großverbände für die Ostflanke aufbauen.
„Was den strategischen Bruch betrifft, durchlaufen die französischen Streitkräfte eine Phase, die der zum Ende des 19. Jahrhunderts ähnelt“, sagte Oberst Frédéric Jordan, Generalsekretär des Doktrin-Zentrums der Landstreitkräfte, bei einer Parlamentsbefragung. „Damals war die Armee in Expeditionsmissionen wie in Mexiko und Italien eingebunden, ohne dass sich unser Land der wachsenden Bedrohungen bewusst wurde, die zum Krieg von 1870 und zum Ersten Weltkrieg führten.“ So versäumten es Frankreichs damalige Militärplaner, die Lehren aus dem Russisch-Japanischen Krieg von 1904/1905 zu ziehen, was den Einsatz von Maschinengewehren, Artillerie und den Grabenkrieg anging.
Als Reaktion auf Russlands Aggression wollen die Franzosen ihr Konzept einer reaktionsschnellen Expeditionsarmee nicht aufgeben, wohl aber anpassen. Für Frankreich bleibt es wichtig, seine weltweiten Besitzungen und Interessengebiete sichern zu können. Von besonderer Bedeutung sind hier die französischen Territorien im Indopazifik. Zudem will Paris Ressourcen für die strategische Ebene erhalten, also die atomare Bewaffnung, die als Kraftverstärker der konventionellen Kräfte verstanden wird. So soll die Heeresstärke von 77.000 Soldaten gleichbleiben, während bei der Bundeswehr eine Heeresverstärkung Fixpunkt aller Planungen ist.
Mit dem Aufbau der Panzerbrigade 45 in Litauen folgt Deutschland dem Ansatz einer gestärkten Vorneverteidigung. Frankreich ist neben einem kleineren Engagement in Estland nun auch Rahmennation einer NATO-Kampfgruppe in Rumänien. Doch die Vornepräsenz in Größe eines verstärkten Bataillons soll nicht ausgebaut werden. Der bisherige Vorsitzende des Verteidigungsausschusses im Parlament, Thomas Gassilloud, beschreibt die französische Logik so: „Es ist besser, 1.000 Soldaten mit nuklearer Abschreckung in Rumänien zu haben als 5.000 Soldaten ohne Abschreckung.“
Frankreichs Heer will für das New Force Model der NATO eine kampfstarke Division an der Südostflanke der Allianz zum Einsatz bringen können. In drei Jahren soll eine „Division 2027“ mit 19.000 Soldaten verfügbar sein, die sich in 30 Tagen an die Ostflanke verlegen lässt. Deren volle Einsatzfähigkeit ist bis 2030 vorgesehen. Für den Aufwuchs soll die Anzahl der Reservisten in den Verbänden von 24.000 auf 48.000 verdoppelt werden.
Europa- und Welt-Division
Frankreichs Heer bleibt in der Größe von zwei Divisionen – die 1. und die 3. Division – bestehen. Ein Sprecher des Verteidigungsministeriums in Paris gegenüber loyal: „Künftig wird es eine Regionalisierung der Divisionen geben. Ziel ist es, die 1. Division auf unsere Einsätze in Europa und im Nahen Osten auszurichten. Die 3. Division übernimmt Afrika und den Indopazifik.“ Die „Europa-Division“ soll sich auf die Abschreckung Russlands fokussieren. Die „Welt-Division“ bildet dafür eine Reserve und stellt die Kräfte zum Schutz der überseeischen Besitzungen. Zudem ist diese Heeresdivision zuständig für Operationen „der Prävention und des Einflusses“, wie es im Heereskonzept heißt. Darunter fallen Entsendungen zu Manövern, um zum Beispiel im Indopazifik Flagge zu zeigen, oder auch die Ertüchtigung von Partnerstreitkräften.
Letzteres soll zum neuen Schwerpunkt in Afrika werden. Der dortige Interventionsansatz war ressourcenintensiv und kollabierte in den vergangenen Jahren. Das lag daran, dass Frankreich von Russland aus hergebrachten Sicherheitspartnerschaften wie mit Mali und dem Niger verdrängt wurde. Moskau ist im Zuge des Ukrainekrieges verstärkt bereit, sich als militärischer Partner afrikanischer Länder zu engagieren, um diese als Verbündete gegen den Westen zu gewinnen. Frankreich versucht nun, seine angegriffene Position in Afrika zu konsolidieren. Am strategischen Hub Dschibuti am Horn von Afrika bleibt das 1.500 Mann starke Kontingent erhalten. Doch in Westafrika wird die Präsenz in Senegal, Gabun und der Elfenbeinküste massiv verringert: von 2.300 auf 600 Soldaten. Über kleine Kontingente soll Frankreich als Partner für Ausbildung und Training langsam wieder französischen Einfluss aufbauen. Bisher sieht es nicht so aus, als ob dieser Ansatz greifen könnte. Vor Kurzem beendete mit dem Tschad ein weiteres afrikanisches Land seine Sicherheitskooperation mit Frankreich.
Rahmennation Frankreich
Um die „Europa-Division“ verlege- und kampffähig für die Ostflanke zu machen, werden unter vier sogenannten „Alpha-Kommandos“ Brigaden und Regimenter zu Divisionstruppen gebündelt: Aufklärung, weitreichendes Feuer, Logistik, Spezialkräfte sowie Cyber. Eine Besonderheit im Vergleich zur Bundeswehr ist das „Commandement des actions dans la profondeur et du renseignement“ (CAPR) – zu Deutsch „Kommando für Schläge in die Tiefe und zur Aufklärung.“ Das CAPR vereinigt je eine Brigade Aufklärung, Artillerie und Kampfhubschrauber. Dieser Verbund soll rasch und bis in mehrere hundert Kilometern Tiefe entscheidende Ziele eines Angreifers aufklären und Kommandoposten oder Logistikknotenpunkte vernichten, um dessen Angriffsschwung früh zu brechen.
Eine deutsch-französische Gemeinsamkeit ist der Ansatz, als Rahmenarmee kleinere Partnerstreitkräfte in die eigenen Großverbände zu integrieren. Neben einer schweren und einer mittleren französischen Kampfbrigade soll eine multinationale Brigade an die „Europa-Division“ andocken. Erster Partner dafür ist das belgische Heer. Während das deutsche Heer die Landstreitkräfte der Niederlande integriert, gibt es seit 2019 eine französisch-belgische Heereskooperation zur Interoperabilität. Die Belgier wurden in Frankreichs Skorpion-Programm zur Erneuerung der mechanisierten Kräfte einbezogen. Sie rüsten sich mit dem Spähpanzer Jaguar, dem Truppentransporter Griffon sowie dem französischen Battlemanagement-System. Zudem beschafft Belgiens Heer die Radhaubitze Caesar, die Standardwaffe der französischen Artillerie.
Herausforderung Logistik
Zur Verlegung der „Europa-Division“ auf dem Kontinent hat das Heer seit Oktober 2024 ein neues Einsatzführungskommando – das Commandement Terre Europe mit Sitz in Lille. Dessen Generalprobe wird in diesem Frühjahr die Verlegeübung „Dacian Spring 25“. Dabei soll eine Kampfbrigade in zehn Tagen nach Rumänien verbracht werden. Noch vor zwei Jahren gab es für die Franzosen eine Ernüchterung. Eine von Präsident Macron gewünschte Ad-hoc-Verlegung von Leclerc-Kampfpanzern nach Rumänien via Schwerlasttransporter scheiterte an deutschen Auflagen. Die Panzer wurden dann verzögert mit der Bahn transportiert. Dies ist ein Beleg dafür, dass es die NATO- und EU-Europäer bis jetzt nicht geschafft haben, einheitliche und praxisnahe Regeln für ihre Aufmarschlogistik festzulegen. Ein bereits 2018 gestartetes PESCO-Vorhaben unter Führung der Niederlande, an dem auch Frankreich beteiligt ist, soll 2026 Lösungen liefern. Die Niederlande, Deutschland und Polen erklärten zu Beginn vergangenen Jahres, einen „Musterkorridor“ für Ostflanken-Verlegungen gestalten zu wollen – Ergebnisse gibt es bis jetzt noch keine.
Da Frankreichs Heer seine Kräfte aus dem Herzen Westeuropas über 2.000 Kilometer nach Rumänien heranführen muss, arbeitet es daran, seine Transport- und Anmarschwege zu diversifizieren. So entsteht eine Logistikbasis in Rumänien, um Material vorne zu positionieren. Frankreich darf inzwischen den Flughafen Brasov in den Karpaten für seine militärische Lufttransportflotte nutzen. Mit Griechenland wurden Verträge geschlossen, um Hafenkapazitäten nutzen zu können. Das dort via Schiff angelandete Material soll dann auf der Schiene über Bulgarien nach Cincu, dem Hauptstützpunkt der französisch geführten NATO-Kampfgruppe, gelangen.
Ziel der Heeresadaption Frankreichs ist es, bis 2030 über die „Europa-Division“ und eine „multinationale Division“ ein Korps für die NATO aufzubauen, das in 120 Tagen zum Einsatz gebracht werden kann. Das ist ein ambitionierter Zeitplan, denn wie diese multinationale Division zusammenkommen soll, ist bislang unklar. Zumal bekannt ist, dass die NATO für ihr New Force Model ein Korps mit drei Divisionen hinterlegt haben möchte. Ein Sprecher des französischen Verteidigungsministeriums: „Es geht darum, über einen Rahmen für ein Strategic Reserve Corps oder über ein Land Component Command einer Koalition zum Nutzen der NATO zu verfügen. Frankreich biete hier das Rapid Reaction Corps France auf. Mit diesem können multinationale NATO-Truppen in der Stärke von zwei bis fünf Divisionen geführt werden.“