Gefährliche Lücke
Die mobile Flugabwehr im Nahbereich war einst eine Paradedisziplin der Bundeswehr. Heute tut sich hier eine massive Fähigkeitslücke auf. Insbesondere beim Schutz vor Drohnen hapert es. Doch der Aufbau einer militärisch wirksamen Lösung für die Streitkräfte wird schwierig.
Kampfhubschrauber jagen im Tiefflug über ein Waldgebiet im Norden Litauens. Im Visier haben sie eine Fahrzeug-Kolonne mit NATO-Truppen – ein Übungsszenario bei „Tobruq Legacy“, der wichtigsten Flugabwehrübung der Militärallianz, die jährlich im Herbst stattfindet. Nicht dabei ist in diesem Jahr die Bundeswehr. Laut einem Luftwaffensprecher gegenüber loyal, weil aufgrund der Corona-Pandemie ausgefallene Übungen des Frühjahres in den Herbst verlegt wurden. Dabei wird bei „Tobruq Legacy“ das trainiert, was eine besondere Schwäche der Bundeswehr ist: der begleitende Schutz eigener Einheiten gegen Attacken aus der Luft, wenn Panzer und Co. in Bewegung sind. Diese mobile Flugabwehr im Nah- und Nächstbereich – so die Fachbezeichnung – existiert in Deutschlands Streitkräften nur noch als Restwert: bei der Flugabwehrraketengruppe 61 mit 19 Raketensystemen „Ozelot“. Das sind kleine Kettenfahrzeuge vom Typ Wiesel, bewaffnet mit Stinger-Raketen. Damit können sie tieffliegende Hubschrauber und Kampfflugzeuge abwehren, aber nicht die neue Gefahr auf dem Gefechtsfeld, Mini-Drohnen. Auch für die Rückkehr des intensiven Gefechts mit Panzern und Artillerie durch den NATO-Russland-Konflikt ist der leicht gepanzerte Ozelot nicht geeignet.
Im Kalten Krieg war die mobile Flugabwehr der Bundeswehr ein Glanzstück innerhalb der NATO. Optimiert für ihren Hauptauftrag – Verzögerung eines Großangriff der Sowjets – war die Bundeswehr vor allem eine Panzerarmee. Für deren Schutz gegen Luftangriffe wurde eine leistungsstarke Flugabwehr der Bodentruppen mit mehr als 14 Regimentern aufgebaut. Ausgerüstet waren diese Einheiten mit dem „Gepard“-Flugabwehrkanonenpanzer und mit dem Raketensystem „Roland“. Doch das ist lange her. Die Bundeswehr baute diese Flugabwehr für die große Panzerschlacht in der Norddeutschen Tiefebene ab den 1990er Jahren radikal ab. Die Truppengattung Heeresflugabwehr wurde 2012 sogar ganz aufgelöst. Seitdem kümmert sich die Luftwaffe um die Flugabwehr des Heeres. Die damalige Überlegung: In den Auslandseinsätzen treten keine Gegner mit Luftwaffen auf. Größere Operationen von Bodentruppen samt gepanzerter Einheiten spielen dort kaum eine Rolle. Deshalb reichte es, ein paar „Ozelot“-Systeme bei der Luftwaffe zentral vorzuhalten und bei Bedarf in die Einsätze abzugeben, was den Unterhalt günstiger macht. Doch dieses Konzept wurde von der Entwicklung des Krieges rasant überholt.
Aserbaidschans Drohnen kriegensentscheidend
Die immer intensivere Nutzung von Drohnentechnologie ist eine Herausforderung für die Flugabwehr. Jüngst war die Drohnen-Luftwaffe Aserbaidschans der kriegensentscheidende Faktor gegen Armenien beim Kampf um Berg-Karabach. Mit von der Türkei gelieferten Kampdrohnen und so genannten „Kamikazedrohnen“ israelischer Produktion zerstörte Aserbaidschan effizient das gegnerisches Kriegsgerät am Boden. Ohne mobile Flugabwehr waren Armenies Truppenverstärkungen hilflos den Drohnen-Attacken ausgeliefert.
Auch asymmetrische Gegner nutzen Drohnen als Angriffswaffen. Im Irak setzte der IS kommerzielle Mini-Drohnen ein, um 40mm-Granaten über gegnerischen Einheiten abzuwerfen. Für konventionelle Armeen besonders gefährlich: Drohnen als Mittel der feindlichen Aufklärung. Kleine, schwer aufzuspürende Spähdrohnen können schnell und präzise Artillerie- und Raketenfeuer lenken. So vernichteten Donezk-Separatisten in wenigen Minuten ganze Kompanien der ukrainischen Armee. Als State-of-the-Art-Kriegstaktik der nahen Zukunft gilt den Militärplanern weltweit das Ausschalten von Waffensystemen wie Panzern, indem deren Sensoren durch Drohnen-Schwärme übersättigt werden.
Projekt „Qualifizierte Fliegerabwehr“
Der Auftakt zu einer zeitgemäßen mobilen Flugabwehr der Bundeswehr soll das Projekt „Qualifizierte Fliegerabwehr“ sein. Hinter dieser Bezeichnung verbirgt sich die Bekämpfung von kleinen Drohnen. Die erste Grundlage dazu wird gerade im fränkischen Hammelburg gelegt. Am dortigen Ausbildungszentrum Infanterie lernen Soldaten der 4. Kompanie des Jägerbataillons 292 das gepanzerte Radfahrzeug Boxer zu beherrschen. Parallel schult die Luftwaffe Soldaten der Einheit zu Fliegerabwehrausbildern und Beratern. Wenn der NATO-Eingreifverband VJTF 2023 das nächste Mal von der Bundeswehr geführt wird, soll die Jäger-Kompanie zehn Boxer zum Einsatz bringen, ausgerüstet mit Granatmaschinenwaffen 40mm. Ziel ist es, damit Drohnen der Klasse 1 (bis zu 150 kg) abzuwehren.
Ob dieser Ansatz überzeugen wird, ist fraglich. Das dazugehörige Radar hat nur einen 120-Grad-Radius, nicht die erforderlichen 360 Grad, und dürfte es schwer haben, agile Mini-Drohnen zu erfassen. Dazu kommt die träge Geschossgeschwindigkeit bei Granatwaffen im Vergleich zu Maschinenkanonen. Beides macht eine effiziente Bekämpfung solcher Drohnen wohl nur möglich, wenn sie auf wenige hundert Meter nah herangekommen sind. Der so genannte „Zug qualifizierte Fliegerabwehr“ mit 70 Soldaten ist bis jetzt nur ein Auftrag bis 2025, so der Presseoffizier des Jägerbataillons 292 zu loyal. Ob das Vorhaben gelingt, ist auch wegen des straffen Zeitplans unsicher. Bis Ende des Jahres läuft noch eine Studie zur Integration der neuen Waffenstation in den Boxer – mit einem Jahr Verzögerung. Um für die VJTF 2023 einsatzbereit zu sein, müssen die zehn Waffensysteme ab Mitte 2021 kontinuierlich der 4. Kompanie zulaufen. Inzwischen gab der Inspekteur des Heeres, Generalleutnant Alfons Mais, bekannt, dass die qualifizierte Fliegerabwehr im besten Fall in „abgestufter Qualität“ für die VJTF verfügbar sein wird.
Auslandseinsätze vs. Bündnisverteidigung
Den weiteren Aufbau der mobilen Flugabwehr im Nah- und Nächstbereich wollen die Militärplaner der Luftwaffe in zwei Teilprojekten bis 2032 bewerkstelligen, parallel zum Ausbau des Heeres zur „Rahmennationenarmee“ auf acht bis zehn Brigaden. Das erste Vorhaben sind vier Feuereinheiten mit 900 Soldaten bis 2026, ausgestattet mit „Lenkflugkörpern unterschiedlicher Reichweite auf geschützten Fahrzeugen“, so eine Sprecherin des Verteidigungsministeriums gegenüber loyal. „Geschützt“ heißt: Es geht hier um leichte Fahrzeuge wie Eagle oder Dingo, nicht um gepanzerte Boxer. Ob das für das Heer eine zufriedenstellende Lösung ist, darf bezweifelt werden. Wie das Waffensystem „Ozelot“ sind die geschützten Fahrzeuge der Bundeswehr für Auslandseinsätze ausgelegt. Das neue Hauptvorhaben der Landstreitkräfte ist aber die Bündnisverteidigung an der NATO-Ostflanke, wo Gefechte schwerer Waffensysteme erwartet werden.
Allerdings würde Teilprojekt Nr. 1 über leichte Fahrzeuge günstiger als über den Boxer. In der Wehrindustrie wird die Summe von 600 Millionen Euro für vier Feuereinheiten auf leichten Fahrzeugen genannt. Die Branche rechnet mit einer nationalen Ausschreibung. Die Rüstungsfirmen Diehl, Rheinmetall und Hensoldt sondieren dafür eine Arbeitsgemeinschaft, um bei beiden Teilprojekten der mobilen Flugabwehr zum Zug zu kommen. Auf das erste Vorhaben ist vor allem Diehl erpicht: Produzent des Lenkflugkörpers IRIS-T, der bei der Bundeswehr als Luftkampfvariante für Kampfjets eingeführt ist.
„Qualifizierte Fliegerabwehr“ nur ein Notbehelf
Über Teilprojekt Nr. 2 sollen dann bis Anfang der nächsten Dekade zehn weitere Feuereinheiten aufgestellt werden. Die Auswahl von Fahrzeugen und Bewaffnung steht noch aus. Klar ist, dass die „qualifizierte Fliegerabwehr“ nur ein Notbehelf gegen einzelne Drohnen kleineren Typs ist. Das erste Teilprojekt über Lenkflugkörper zielt auf Einzelziele wie Kampfjets, Hubschrauber und größere Drohnen. Somit besteht weiter eine Lücke bei der Abwehr von Massen an Drohnen sowie Raketen, Artillerie und Mörsergeschossen.
Hier hofft Rheinmetall sein Waffensystem „Skyranger“ unterzubringen, das es seit Jahren intensiv als Teil einer erneuerten mobilen Bundeswehr-Flugabwehr bewirbt. Dabei handelt es sich um den Geschützturm „Mantis“, platziert auf dem Boxer. Der „Skyranger“ kann mit seiner 35 mm-Maschinenkanone Splittermunition in hoher Kadenz circa fünf Kilometer weit in die Luft pumpen und somit auch Massen kleinerer Zielen bekämpfen. Allerdings wurde „Mantis“ für den Schutz von Militärbasen entwickelt. Das System wurde konzipiert, um in Beton gesockelt zu werden. Es ist nicht für die Begleitung von Truppen ausgelegt. Somit ist die „Skyranger“-Lösung zuvorderst eine Schutzkuppel, die mit den Truppen verschoben wird. Mobiler Konvoischutz, also aus der Fahrt heraus Artillerie- und Mörserbeschuss zu bekämpfen, würde schwierig. Auf dem Radfahrzeug Boxer ist die Steifigkeit gering. Der „Skyranger“ müsste wohl anhalten und mit Stempeln stabilisiert werden. Das wurde bei einer Pressevorstellung durch Rheinmetall deutlich, an der loyal teilnahm.
Technische Herausforderung: Radartechnik zur Zielerfassung
Eine generelle technische Herausforderung für die neue mobile Flugabwehr wird die Radartechnik zur Zielerfassung sein. Denn von Kampfjets bis Mini-Drohnen müssen zahllose Zielklassen erfasst werden, die zudem extrem schnell sind und sich in niedriger Flughöhe nähern. Vor allem kleine Drohnen haben nur eine geringe Radarsignatur, außerdem sorgt die Umgebung mit Wald oder Gebäuden für Störsignale, die sich nur schwer herausfiltern lassen. „Dann braucht es noch eine extrem starke Softwareunterstützung, um einmal erfasste Ziele laufend zu tracken, ohne dass die Zielerfassung kollabiert“, so Knud Michelson von Rheinmetall Electronics zu loyal.
Unklar ist, wie überhaupt die kommende mobile Flugabwehr der Bundeswehr aufgestellt wird. In der Luftwaffe gibt es dazu noch keinen Plan. Ein Luftwaffensprecher zu loyal: „Zur Stationierung und Aufstellung der Organisationselemente sind noch keine abschließenden Entscheidungen getroffen.“ Das massive Problem: 14 Feuereinheiten gehen in Richtung des Personalbedarfs einer Brigade von bis zu 5.000 Mann. Doch Dienstposten bei Heer und Luftwaffe sind Mangelware. Die anvisierte Rekrutierung von 200.000 Soldaten für die Bundeswehr gelingt bis dato nicht; stattdessen stagniert die Truppenstärke bestenfalls. Deshalb fordern die Militärplaner von der Industrie personalsparende Lösungen für die kommende mobile Flugabwehr.
Was an Soldaten eingespart wird, muss durch Technik ersetzt werden. Die bereits hohen Anforderungen an diese, wie leistungsstarke Radare, erhöht das nochmals. Ein unguter Ausblick, wenn es darum geht, die kommenden Systeme einsatzreif zu bekommen. Dass die Einsatzerfahrung mit der mobilen Flugabwehr im Heer erfolgt, die Luftwaffe aber bei Material, Einsatzdoktrin und Ausbildung die Führung inne hat, dürfte ebenfalls zum Problem werden. Auch konkurriert die mobile Flugabwehr im Nah- und Nächstbereich mit weiteren Vorhaben auf der üppigen Bundeswehr-Rüstungsagenda für die 2030er Jahre um die Finanzierung. Somit droht die Gefahr, dass die Truppe am Ende eine militärisch unbefriedigende Kompromisslösung erhält.
Weg zur neuen mobilen Flugabwehr ohne den engsten Partner
Bemerkenswert ist zudem, dass der Weg zur neuen mobilen Flugabwehr ohne den engsten Partner in diesem Bereich angegangen wird, den Niederländern. So steht die Flugabwehrraketengruppe 61 unter niederländischem Kommando. Beide Armeen bereiten für die VJTF 2023 eine Taskforce zur mobilen Flugabwehr vor. Auch die niederländischen Streitkräfte erneuern ihre mobile Flugabwehr. Neue Radartechnik ist bereits in der Beschaffung, der Radspähpanzer Fennek mit „Stinger“-Raketen soll ab 2028 modernisiert oder ersetzt werden. Doch mit der Bundeswehr gibt es keine Planung oder zumindest Sondierung zu einer gemeinsamen Rüstung. „Wir sind offen für einen Dialog“, so ein Sprecher des Luftverteidigungskommandos der niederländischen Streitkräfte gegenüber loyal.
Über gemeinsame Beschaffung Waffensysteme in der NATO zu vereinheitlichen und so günstiger einzukaufen, gehört zu den Kernzielen des Konzepts „Rahmennationenarmee Bundeswehr 2032“. Bei der mobilen Flugabwehr wird dieser Anspruch nicht erfüllt. Dabei wäre diese ein ideales Feld dafür gewesen. Denn alle europäischen NATO-Armeen müssen ihre mobile Flugabwehr im Nahbereich erneuern. Als Abwehr-Fähigkeit passt sie bestens zur defensiven Einsatzdoktrin der Bundeswehr. Mit dem Anspruch, als Rahmennationenarmee kleinere NATO-Streitkräfte anzudocken, um europäische Großverbände zu bilden, wäre eine über die Bundeswehr abgestimmte Rüstung ein echter Fortschritt für Europas Verteidigungsfähigkeit.