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Geistige Aufrüstung

Russland hat sich lange auf den Angriffskrieg gegen die Ukraine vorbereitet. Systematische Indoktrination und Militarisierung des Alltags hat in der russischen Bevölkerung den Boden bereitet für die Akzeptanz des Überfalls auf das Nachbarland. Wladimir Putin stützt sich bei der geistigen Aufrüstung vor allem auf die russisch-orthodoxe Kirche und eine obskure Militärhistorische Gesellschaft. Grundlage der Propaganda sind ein Zerrbild des Westens und ein suggestives, gleichgeschaltetes Geschichtsbild. Besonders im Fokus: Kinder und Jugendliche.

Angetretene Kadetten der „Jugendarmee“ bei der Einweihung eines Ehrenmals für gefallene Sowjet-Soldaten bei der Ortschaft Khoroshevo in Zentralrussland 2020.

Foto: imago images/ITAR-TASS

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Der Angriffskrieg gegen die Ukraine, wird laut Meinungsumfragen von etwa 70 Prozent der russischen Bevölkerung unterstützt. Dieses schockierend hohe Maß an Rückhalt wirft die Frage auf, wie es gelungen ist, in großen Teilen der Bevölkerung die nötige Kriegsbereitschaft zu erzeugen. Als „Krieg“ darf die „militärische Sonder­operation“ in Russland nicht bezeichnet werden, aber dass russische Truppen in der Ukraine kämpfen und Russland beabsichtigt, Teile der Ukraine zu annektieren und die gesamte Ukraine unter seine Dominanz zu zwingen, wird auch in den staatlich kontrollierten Medien unverblümt ausgesprochen. Die Rückgewinnung einer imperialen Stellung kommt in der russischen Kriegspropaganda als Selbstverständlichkeit daher und stößt offenbar nur bei einer Minderheit auf Widerspruch.

Eine solche Geisteshaltung lässt sich nicht von einem Tag auf den anderen erzeugen. Sie ist das Ergebnis einer systematischen Beeinflussung, die in Russland in den vergangenen Jahren stattgefunden hat. Russland hat geistig aufgerüstet. Das war ein schleichender Prozess, der schon in der ersten Amtszeit Putins begann und sich ab 2012, dem vom damaligen Präsidenten Medwedjew ausgerufenen „Jahr der russischen Geschichte“ merklich intensivierte. In einem Erlass hatte Medwedjew im Januar 2012 das Ziel formuliert, in der Gesellschaft das Interesse für die russische Geschichte und die Rolle Russlands in der Weltgeschichte zu wecken. 2012 eignete sich mit zwei Jubiläen in besonderer Weise: 1612 hatte mit der Vertreibung der polnischen Besatzer aus Moskau die sogenannte „Zeit der Wirren“ geendet, 1812 war Napoleons Russlandfeldzug gescheitert. Die Feiern dieser beiden historischen Siege markierten den Anfang einer patriotisch-kriegerischen Aufladung des öffentlichen Raums und eines Umgangs mit der eigenen Geschichte, der sich auf die Erinnerung an Siege, Heldentaten und die vergangene Größe Russlands konzentriert.

Der Staat agiert dabei gemeinsam mit der russisch-orthodoxen Kirche und der Russischen Militärhistorischen Gesellschaft. Die russisch-orthodoxe Kirche versteht sich seit jeher als Stütze der Staatsmacht und unterstützt diese in ihrer gegen den liberalen Westen gerichteten Propaganda sowie in der patriotischen Erziehung der Bevölkerung. Sie brandmarkt den Westen als einen Hort der Sünde und des Bösen, der in Individualismus, Profitstreben, widernatürlichen sexuellen Verirrungen und sittlichem Verfall versinke, während Russland die natürliche, gottgewollte Ordnung und traditionelle Werte wie Patriotismus, Liebe zum Vaterland, Gemeinsinn und Familie verkörpere.

Geschichtspolitik

Die Russische Militärhistorische Gesellschaft, gegründet im Dezember 2012 per Präsidialerlass Putins, entfaltete eine umfassende geschichtspolitische Tätigkeit. Zu ihren Zielen gehören „die Konsolidierung der Kräfte des Staates und der Gesellschaft beim Studium der militärhistorischen Vergangenheit Russlands, die Verhinderung von Versuchen zu ihrer Verfälschung, die Popularisierung der Errungenschaften der militärhistorischen Wissenschaft, die Erziehung zu Patriotismus, die Hebung des Prestiges des Militärdienstes und die Bewahrung von Objekten des militärhistorisch-kulturellen Erbes“. Sie arbeitet eng mit dem Kultur- und dem Verteidigungsministerium zusammen, errichtet Helden- und Schlachtendenkmäler (bisher mehr als 200 an der Zahl) veranstaltet anlässlich der Jahrestage bedeutender Schlachten Reenactments und Gedenkfeiern, organisiert Ausstellungen und betreut Gedenkstätten und Museen.

Heldentum zum Anfassen

Besonderen Stellenwert hat die Kinder- und Jugendarbeit, die darauf abzielt, der jungen Generation militärisches Heldentum nahezubringen und sie zu militarisieren. An Schulgebäuden wurden mehr als 2.100 Gedenktafeln für Helden der Sowjetunion angebracht; die Gesellschaft veranstaltet sogenannte „militär-patriotische Lager“ für zwölf bis 18-Jährige mit „Kursen für junge Kämpfer“. Gekleidet in historischen Uniformen machen sich die Jugendlichen in diesen Lagern mit dem Schlachtenruhm der Vergangenheit vertraut und erhalten eine vereinfachte militärische Grundausbildung.

All das fügt sich in eine Geschichtspolitik ein, die das Ziel verfolgt, die vergangene „Größe“ Russlands in eine fortlaufende patriotische Erzählung einzubauen. Diese Erzählung wird der Bevölkerung über den öffentlichen Raum, den Schulunterricht, Publikationen, Ausstellungen und Filme eingeimpft. In diesen Kontext gehört auch der Multimedia-Geschichtspark „Russland – meine Geschichte“, der 2015 auf dem großen Ausstellungsgelände im Norden Moskaus errichtet wurde – hochmodern, mit medialen Raffinessen. Der Geschichtspark zieht bis zu 15.000 Besucher am Tag an. Seit 2017 wurden 22 Klone des Parks über das Land verstreut aufgebaut, weitere sind geplant. Die Ausstellung beinhaltet aufwendig gemachte interaktive Installationen, spricht die Besucher durch Farbenspiele und Hintergrundmusik emotional an, lässt sie an Schlachtenszenen teilhaben, deren kriegsverherrlichende Präsentation von einem ungebrochen positiven Verhältnis zur „Kriegskunst“ zeugt.

Den Besuchern wird ein suggestives Geschichtsbild vermittelt, das den Stolz auf die Größe und Macht des russischen Imperiums sowie die Rolle einer starken Staatsmacht in den Mittelpunkt stellt: Die Geschichte sei immer dann gut verlaufen, wenn das Imperium geeint und unter fester, zentralistischer Führung durch eine große Herrscherpersönlichkeit stand, und wenn Staatsmacht und Kirche eng zusammenarbeiteten. Sie habe sich krisenhaft entwickelt, wenn im Inneren eine Opposition auftrat und sich Territorien abspalteten. Die Expansion Russlands erscheint in diesem Geschichtsbild als ein natürlicher und legitimer Vorgang. Es wird suggeriert, dass sich Russland seit dem Mittelalter gegen Feinde aus dem Westen habe verteidigen müssen, die stets versucht hätten, Russland durch die Verbreitung von Lügen und die Unterstützung von oppositionellen oder gar revolutionären Kräften zu schwächen und zu zerstören. Russlands Kriege seien immer Verteidigungskriege gewesen. Russland habe sie durch das Heldentum seiner Soldaten und die Genialität seiner Feldherren gewonnen.

Böser Westen

Die eigene Vergangenheit ist in dieser Präsentation kein Gegenstand von nüchtern-distanzierter Betrachtung. Die Besucher des Geschichtsparks werden vielmehr zur patriotischen Parteinahme aufgefordert. Der Gegenwartsbezug ist ständig präsent, sei es durch Zitate von Putin, sei es durch Anspielungen auf die Gegenwart, etwa Hinweise auf den bösen Westen, die abtrünnige Ukraine oder die üble Rolle, die Oppositionelle in Russland spielen, indem sie sich stets als Handlanger der äußeren Feinde instrumentalisieren lassen.

Diese manipulative Geschichtsvermittlung fügt sich in ein Gesamtkonzept zur patriotischen Erziehung und Militarisierung der russischen Gesellschaft ein. Eine wichtige Rolle in dieser Strategie spielt auch der Geschichtsunterricht in den Schulen. 2013 beauftragte Präsident Putin das Institut für Russische Geschichte der Akademie der Wissenschaften mit der Ausarbeitung einer „Konzeption für einen neuen unterrichtsmethodischen Komplex zur vaterländischen Geschichte“. Wichtigstes Ergebnis war 2014 die Verabschiedung des „Historisch-kulturellen Standards“, der den Kanon für den Geschichtsunterricht an den Schulen definierte. Auf seiner Grundlage wurden neue Schulbücher erstellt – mit dem Effekt, dass die Vielfalt der Schulbücher, wie sie sich seit den 1990er Jahren entwickelt hatte, reduziert wurde. Der „Historisch-kulturelle Standard“ transportierte eine – aus heutiger Perspektive noch recht gemäßigte – national-imperiale Geschichtserzählung.

Wenige Tage nach Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine trat im Februar 2022 ein Expertenrat zusammen, um den künftigen Geschichtsunterricht an den Schulen und Hochschulen noch stärker auf die Erfordernisse der Politik auszurichten. „Der Geist unserer Lehrbücher muss der wichtigsten Aufgabe entsprechen, dem jungen Menschen Stolz auf unsere Geschichte, Teilhabe an einer tausendjährigen Kultur und Verinnerlichung des Erbes an Heldentaten und Errungenschaften der Vorfahren einzuimpfen“, erklärte der Minister für Bildung und Wissenschaft Waleri Falkow: „Ohne Geschichte kann man weder bei einer IT-Fachkraft noch bei einem Ingenieur ein Weltbild formieren.“ Zu diesem Zweck soll nun ein verpflichtender einheitlicher Geschichtskurs für alle Studenten an den Hochschulen eingeführt werden.

Die Tendenz all dieser Maßnahmen ist unverkennbar: Der Staat arbeitet daran, die Bevölkerung Russlands, und insbesondere die Jugend, mit einem Geschichtsbild zu indoktrinieren, das sich als Grundlage für die nationalistisch-imperiale Macht- und Kriegspolitik eignet. Zu diesem Zweck wird der Umgang mit der Vergangenheit vereinheitlicht und gleichgeschaltet. Alternative Deutungen und Wissens­produktionen werden unterdrückt. Das geschieht über ein in den vergangenen Jahren ausgebautes System von repressiven Gesetzen und Maßnahmen. Schon 2009 hatte der Staat eine Kommission eingerichtet, deren Aufgabe darin besteht, „Verfälschungen der Geschichte zum Schaden Russlands“ zu ahnden. 2012 wurde das Gesetz über „ausländische Agenten“ erlassen, das alle Personen und Organisationen, die finanzielle Unterstützung aus dem Ausland erhalten, stigmatisiert. In Anwendung dieses Gesetzes wurde 2021 die Organisation „Memorial International“ verboten und damit die wichtigste Akteurin einer unzensierten Aufarbeitung des stalinistischen Terrors ausgeschaltet.

2014 stellte ein Gesetz „Lügen“ über den „Großen Vaterländischen Krieg“ unter Strafe. Im Zuge der Verfassungsänderung 2020 wurde eine Bestimmung aufgenommen, welche die offizielle Geschichtserzählung vor einem kritischen wissenschaftlichen Zugriff schützt. Artikel 67 über den föderativen Aufbau Russlands wurde entsprechend ergänzt: „Die Russländische Föderation ehrt das Andenken an die Verteidiger des Vaterlands und gewährleistet die Verteidigung der historischen Wahrheit. Die Herabsetzung der Bedeutung des heldenhaften Einsatzes des Volkes bei der Verteidigung des Vaterlands ist unzulässig.“

Damit hat der Staat den Kampf um die Deutungshoheit der Geschichte verfassungsrechtlich verankert und den historischen Diskurs auf die Ebene der „großen Politik“ gehoben. Während der Präsident höchstpersönlich als Historiker auftritt und seine Sicht der russischen Geschichte in Artikeln und Reden verbreitet, wird die Geschichtswissenschaft an die Leine genommen und ein unabhängiges historisches Bewusstsein der Gesellschaft unterdrückt. Zwar hat sich eine beeindruckende Zahl von russischen Wissenschaftlern in öffentlichen Erklärungen mutig gegen den Krieg positioniert, aber gegen die Macht des Staates und der Institutionen werden sie sich kaum nachhaltig wehren können, solange sich nicht die politischen Verhältnisse von Grund auf ändern.

Unterstützung schwierig

Die Möglichkeiten des Westens, die kritische Zivilgesellschaft in Russland zu unterstützen, sind begrenzt, weil durch eine 2022 verabschiedete Verschärfung des Gesetzes über die „ausländischen Agenten“ jeder Auslandskontakt für russische Staatsbürger gefährlich sein kann. Es bleibt nur, denjenigen, die Russland im Protest oder aufgrund drohender Repressionen verlassen mussten, unter die Arme zu greifen, damit sie im Exil publizieren und zivilgesellschaftliche Netzwerke aufrechterhalten können.

Maßgebliche Stimmen aus diesen Kreisen sprechen sich dafür aus, die Ukraine in ihrem Abwehrkampf so zu unterstützen, damit Russland diesen Krieg nicht gewinnt. Nur für den Fall eines für Russland ungünstig verlaufenden Krieges besteht Hoffnung, dass die Stimmung im Land kippt und Präsident Putin seinen Rückhalt in der Bevölkerung verliert. Es wäre nicht das erste Mal in der Geschichte Russlands, dass ein Regime unverhofft abtreten muss.

Der Autor

Prof. Dr. Dietmar Neutatz lehrt Neuere und osteuropäische Geschichte an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg.

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