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Geschändet und traumatisiert

Seit Jahrtausenden geht Krieg mit sexueller Gewalt einher. Auch in der Ukraine misshandelten und vergewaltigten russische Soldaten ukrainische Frauen. Was treibt die Täter an?

Serafyma aus Kiew hat sich blutige Tränen geschminkt. Sie protestiert zusammen mit vielen weiteren Demonstrantinnen und Demonstranten auf der Wiese vor dem Reichstagsgebäude in Berlin gegen den Angriff auf die Ukraine und für ein Energie-Embargo gegen Russland.

Foto: Annette Riedl/picture alliance/dpa

loyalrusslandUkraine

Am 7. März vergangenen Jahres drangen russische Soldaten in das Haus von Katia in Makariv nahe Kyjiv ein. Sie erschossen erst ihren Mann, dann zwangen sie Katia in ein leeres Nachbarhaus. „Ein russischer Soldat sagte mir geradeheraus, dass er mich jetzt vergewaltigen wolle. Ich wusste nicht, ob er mich danach auch noch töten würde. Er sagte: „Zieh dich aus und leg dich hin“ und zeigte wortlos mit dem Gewehr zum Bett. Dann stieß er mich darauf, zog sich aus und legte sich auf mich. Ich fühlte nichts, ich stand unter Schock.“ Während sie einer Reporterin des ZDF ihre Geschichte erzählt, weint Katia immer wieder. Nach der Vergewaltigung kann sich Katia nach Hause retten, doch die Soldaten kommen wieder. Ihren erschossenen Ehemann muss die Ukrainerin im Garten begraben, erst als die Russen abziehen, kann sie ihn auf dem Friedhof beisetzen. So schildert es Katia, die nicht möchte, dass ihr Nachname genannt wird, in einer Fernsehreportage für die ZDF-Reihe „frontal“, die am 6. September 2022 ausgestrahlt wurde.

Katia ist kein Einzelfall. Allein in den ersten beiden Aprilwochen vergangenen Jahres meldete die ukrainische Ombudsfrau für Menschenrechte, Ljudmyla Denisowa, 400 Fälle sexualisierter Gewalt von russischen Soldaten gegen ukrainische Frauen. Die ukrainische Regierung richtete Hotlines ein, bei denen Betroffene anrufen konnten. Jeden Tag berichteten dort im Durchschnitt neun Frauen von sexualisierter Gewalt, so die ukrainische Frauenrechtsaktivistin Kateryna Cherepakha. Besonders in den Gebieten rund um Kyjiv, die die russischen Truppen am Anfang des Invasionskrieges erobert hatten und dann im Frühjahr vergangenen Jahres wieder räumen mussten, wüteten die russischen Soldaten grausam unter der Zivilbevölkerung. Die ukrainische Menschenrechtsbeauftragte berichtete etwa von einem Keller in Butscha am Rande von Kyjiv, in dem 25 Mädchen und Frauen im Alter zwischen 14 und 25 Jahren festgehalten und von Gruppen russischer Soldaten vergewaltigt worden seien. Außerdem seien Leichen von Kindern und Erwachsenen nackt und mit den Händen hinter dem Rücken gefesselt gefunden worden. Laut der Menschenrechtsbeauftragten waren sie zuvor vergewaltigt worden. Unter den Opfern waren auch Jungen und Männer.

Nicht nur in der Ukraine geht Krieg mit sexualisierter Gewalt einher. Im Jahresbericht der UN-Sonderbeauftragten für sexuelle Gewalt in Konflikten, Pramilla Patten, sind für 2021 fast 3.300 Fälle konfliktbedingter sexualisierter Gewalt in 18 Ländern festgehalten, ein Drittel davon in der Demokratischen Republik Kongo. Das ist eine Steigerung von etwa 800 Fällen gegenüber dem Vorjahr. Und: Es ist vermutlich nur die Spitze des Eisbergs, weil viele Fälle im Dunkeln bleiben.

„Sexuelle Übergriffe dienen der Machtausübung“

Doch warum kommt es in einem Krieg zu sexualisierter Gewalt? Dafür gibt es laut Monika Hauser mehrere Gründe. Hauser ist Gründerin der Frauenrechtsorganisation Medica Mondiale, die sich bereits seit 30 Jahren gegen sexualisierte Gewalt in Kriegen einsetzt. Sexuelle Übergriffe dienten selten der sexuellen Befriedigung der Täter, sondern der Machtausübung, so Hauser. Deshalb sprechen Expertinnen auch von sexualisierter Gewalt, statt von sexueller Gewalt. Die Täter kämen oft aus einem Umfeld in dem traditionelle Männlichkeitsbilder
vorherrschten und Frauen abgewertet würden. Die allermeisten Gesellschaften sind laut Hauser geprägt von patriarchalen Strukturen. Gewalt gegen Frauen sei eine direkte Folge. Der russische Präsident sprach zum Beispiel schon vor dem Angriffskrieg von der Ukraine als „Schöne“, die sich unterwerfen müsse. „Solche Sprachbilder zeigen männliche Allmachtsfantasien und ein antiquiertes Geschlechterverhältnis“, so Hauser. Im Krieg, einer Extremsituation voller Gewalt, fallen dann oft die letzten verbliebenen Hemmschwellen.

Aufrütteln und sensibilisieren: Demonstrantinnen bei einer Aktion gegen sexualisierte Gewalt im Ukrainekrieg im April 2022 in Berlin. (Foto: Virginia Garfunkel/imago)

Hinzu komme, dass militärische und politische Führer die sexualisierte Gewalt oft als Kriegswaffe nutzten. „In der Ukraine führt Putin einen Krieg gegen die Zivilbevölkerung. Er lässt Kindergärten oder Krankenhäuser beschießen. Er will die ukrainische Zivilbevölkerung zerstören. Vor diesem Hintergrund sind auch die Vergewaltigungen zu sehen“, so Hauser gegenüber loyal. Oft werden Vergewaltigungen genutzt, um in der Bevölkerung Angst und Schrecken zu verbreiten. Ein weiterer Grund: Menschen sollen aus ihrer Heimat vertrieben oder ihre Identität gezielt zerstört werden. Denn oft gelten Frauen, die vergewaltigt wurden, auch im angegriffenen Land als „entehrt“, sagt Hauser. Da in traditionell männlich geprägten Gesellschaften die „Ehre“ der Frauen mit dem Selbstbild der Männer verknüpft ist, gilt in dieser patriarchalen Logik eine Vergewaltigung als Angriff auf die gesamte Familie und das eigene Volk. Sexualisierte Gewalt wird deshalb oft von der Armeeführung toleriert, und in extremen Fällen wird sogar explizit dazu aufgerufen, um Kriegsziele zu erreichen.

Blick in die Geschichte

Ein Blick in die Geschichte ist aufschlussreich: Militärische Führer – vor allen in den großen zwischenstaatlichen Kriegen – waren zwar um die Disziplin innerhalb ihrer Einheiten besorgt. Im Ersten und Zweiten Weltkrieg fürchteten alle Seiten ein hohes Maß an Geschlechtskrankheiten und einen damit einhergehenden Verlust der Wehrkraft. Aufrufe zu sexueller Enthaltsamkeit lagen aber immer im Widerstreit mit der Einrichtung von medizinisch streng kontrollierten Militärbordellen. Letztere setzten sich durch. Sie sollten sowohl die Sexualität der Soldaten steuern als auch die einheimischen Prostituierten kontrollieren. Dabei waren die Grenzen zwischen freiwilliger Prostitution, Zwang und sexueller Versklavung fließend.

Japanische Soldaten beim Besuch eines Militärbordells im Jahr 1945. In diesen von der japanischen Armee errichteten Bordellen wurden über 200.000 chinesische Frauen dazu gezwungen, als Sexsklavinnen zu arbeiten. Die beschönigend „Komfortfrauen“ genannten Frauen wurden oft zu Tode gequält. (Foto: picture alliance/Photoshot)

Das bekannteste und furchtbarste Beispiel für Militärbordelle war die systematische Einrichtung sogenannter „Comfort Stations“ durch die japanische Armee im Zweiten Weltkrieg. Sie erfolgte, nachdem etwa 50.000 japanische Soldaten im Jahr 1937 in der chinesischen Stadt Nanjing ein unvorstellbares Massaker an der Zivilbevölkerung angerichtet hatten. „Damit einher ging eine unüberschaubare Zahl erschütternder Vergewaltigungen“, erklärt Monika Hauser. In Reaktion darauf wurden die Täter und Vorgesetzten nicht etwa bestraft, sondern belohnt. Zur Abhilfe der vermeintlichen „sexuellen Notlage“ der Soldaten wurden über 200.000 Frauen aus den von Japan besetzten Gebieten als „Trostfrauen“ in Frontbordelle gezwungen.

Von der Sowjetarmee wurden nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs bis zu zwei Millionen Frauen in Deutschland vergewaltigt. Manche Historiker bezeichnen diese Vergewaltigungen als „das größtes Phänomen von Massenvergewaltigungen in der Geschichte“. Neueste Forschungen zeigen, welche Konsequenzen diese Vergewaltigungen – die übrigens, obwohl weniger bekannt, auch in Süddeutschland durch amerikanische und französische Soldaten begangen wurden – noch Jahrzehnte danach in den Familien haben. So wurden die posttraumatischen Erfahrungen von Generation zu Generation weitergegeben. Medica Mondiale und die bosnische Partnerorganisation Medica Zenica haben dazu wissenschaftliche Erkenntnisse gesammelt: In einer Studie zu den Langzeitfolgen sexualisierter Kriegsgewalt befragte die Organisation mehr als 1.000 Überlebende von sexualisierter Gewalt in Bosnien 20 Jahre nach den Gräueltaten. 70 Prozent gaben an, dass die Vergewaltigungen ihr Leben auch heute noch erheblich beeinträchtigten. 85 Prozent davon waren wegen dieser Beeinträchtigungen in regelmäßiger ärztlicher Behandlung, 57 Prozent litten unter posttraumatischen Belastungsstörungen und 65 Prozent nahmen regelmäßig Psychopharmaka.

Jugoslawienkriege als Wendepunkt

Doch bis in die 1990er Jahre herrschte ein Schleier des Schweigens beim Thema „sexualisierte Gewalt in Konflikten“. Das Thema galt als tabu. Regina Mühlhäuser, Historikerin am Hamburger Institut für Sozialforschung, schreibt: „Lange galt sexuelle Gewalt als eine vielleicht nicht schöne, aber doch normale und irgendwie auch hinzunehmende Begleiterscheinung von Kriegen. Die allgemeine Vorstellung war: Männer sind eben so.“ Das änderte sich mit den Jugoslawienkriegen. Im Bosnienkrieg wurden zwischen 1992 und 1995 laut Europarat 20.000 Frauen und Mädchen vergewaltigt. Feministische Forscherinnen, Juristinnen und Mitarbeiterinnen von Hilfsorganisationen wiesen jetzt die Öffentlichkeit auf das Problem hin. Die Vorstellung, dass sexualisierte Gewalt nicht eine irgendwie hinzunehmende „Begleiterscheinung“ des Kriegs war, sondern ein Instrument des Terrors und eine Kriegswaffe mit dem expliziten Ziel, die betroffene Bevölkerung zu vernichten, setzte sich nun zunehmend durch. Das hatte auch Auswirkungen auf die internationale Gesetzgebung: Sexualisierte Gewalt ist seit 1998 im internationalen Strafrecht verankert.

Ein Plakat weist in der liberianischen Hauptstadt Monrovia auf Hilfsmöglichkeiten für Vergewaltigungsopfer hin. Im liberianischen Bürgerkrieg (1989 bis 2004) wurden Tausende Frauen und Kinder vergewaltigt. (Foto: picture alliance/AP Photo)

Das UN-Kriegsverbrechertribunal zum früheren Jugoslawien beschritt dann in vielerlei Hinsicht Neuland: Insgesamt wurden 161 Menschen angeklagt, 84 auch verurteilt – einige davon unter anderem wegen Vergewaltigungen, die zum ersten Mal als Kriegsverbrechen galten. Im Februar 2001 verurteilte das Tribunal zum Beispiel drei bosnische Serben wegen Massenvergewaltigungen zu langjährigen Freiheitsstrafen. Das Gericht stufte die Gräueltaten als Verbrechen gegen die Menschlichkeit ein. Doch für Monika Hauser ist das nur ein Tropfen auf den heißen Stein: „Im Bosnienkrieg wurden Zehntausende Frauen vergewaltigt. Nur etwa dreißig Täter wurden dafür verurteilt. Das ist absolut unzureichend.“

Nadia Murad wurde wie Hunderte andere jesidische Frauen von Kämpfern des „Islamischen Staats“ verschleppt, vergewaltigt und versklavt. Sie blieb nicht stumm, sondern sprach über die Gräueltaten. Für ihre Aufklärungsarbeit bekam sie im Jahr 2018 den Friedensnobelpreis. (Foto: picture alliance/newscom)

Noch viel Handlungsbedarf

Obwohl die Vereinten Nationen inzwischen mehrere Resolutionen zum Thema verabschiedet haben und viele Akteure auf der politischen Bühne für das Thema sensibilisiert sind, sieht Monika Hauser noch viel Handlungsbedarf zum Schutz von Frauen in Konflikten: So gebe es in vielen Ländern keine vertrauenswürdigen Anlaufstellen, bei denen Frauen Übergriffe melden könnten. Und selbst wenn Übergriffe vor Gericht landeten: Weil viele Richter und anderes Justizpersonal selbst in Deutschland nicht im Umgang mit traumatisierten Frauen geschult seien, würden viele Betroffene gar nicht erst aussagen oder ihre Aussagen würden nicht im Urteil berücksichtigt werden. So ist es zum Beispiel im Fall zweier ruandischer Rebellenführer passiert, die sich im Jahr 2011 vor einem Stuttgarter Gericht wegen Mord, Vergewaltigung und Kriegsverbrechen im Kongo verantworten mussten. Die Aussagen der Vergewaltigungsopfer wurden unter schwierigsten und retraumatisierenden Bedingungen aufgenommen, aber anschließend wurden sämtliche Straftatbestände zu sexualisierter Gewalt fallen gelassen. Vielen Frauen drohe in ihren Heimatländern auch die Rache der Täter, sagt Alexandra Kemmerer, Koordinatorin am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht im Gespräch mit loyal. Häufig bleibt auch die Identität der Täter im Dunkeln, oder sie müssen sich nicht vor Gericht verantworten, weil die Regierung des Heimatlandes eine schützende Hand über sie hält.

Doch es gibt auch positive Meldungen: Die deutsche Justiz hat im vergangenen November über einen ehemaligen IS-Kämpfer, der im Jahr 2015 im Nordirak eine Jesidin sexuell versklavt hatte und ihr Kind im Hof seines Hauses verdursten ließ, gerichtet. Der Staatsschutzsenat in Frankfurt am Main verurteilte den Angeklagten wegen Völkermords und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu lebenslanger Haft. Es ist weltweit das erste Urteil wegen des Völkermords, den der „Islamische Staat“ an den Jesiden verübt hat. Dass ein deutsches Gericht über im Ausland begangene Verbrechen urteilte, war aufgrund des „Weltrechtsprinzips“ möglich. Dieses sieht vor, dass schwere Verbrechen gegen das Völkerrecht weltweit verfolgt und abgeurteilt werden können.

Juristische Aufarbeitung

Und auch in der Ukraine gibt es in dieser Hinsicht Nachrichten: Die Verfolgung der Gewaltverbrechen, wie sie in Butscha nahe Kyjiv passiert sind, hat bereits begonnen – so schnell wie in noch keinem anderen Krieg. Die ukrainische Staatsanwaltschaft hat Ermittlungen über mögliche Kriegsverbrechen aufgenommen, darunter auch Vergewaltigungen. Seit März vergangenen Jahres gibt es auch ein Ermittlungsteam bei der EU-Justizbehörde Eurojust, das Beweise zusammenträgt. Per Upload von Fotos, Videos und anderen Dateien können Zeugen dabei mithelfen, Verbrechen zu dokumentieren – auch das ein Novum in der Strafverfolgung von Kriegsverbrechen. Ende Mai wurde in der Ukraine der erste Kriegsvergewaltigungsfall an ein Gericht übergeben. Der mutmaßliche Täter, ein russischer Soldat, ist jedoch flüchtig.

Katia aus Makariv kann also darauf hoffen, dass ihr Martyrium juristisch verfolgt wird. Dass der Täter jedoch vor einem ukrainischen oder internationalen Gericht erscheinen wird, ist unwahrscheinlich. Dafür müsste die russische Regierung ihn ausliefern, was sie wohl nicht tun wird. Doch sollte der Täter später ins Ausland reisen wollen, könnte die Justiz dort zugreifen.

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