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Geschönte Meldeketten

Der Personalmangel bedroht die Einsatzfähigkeit der Bundeswehr. Der Frauenanteil verharrt seit Jahren auf niedrigem Niveau. Soldaten klagen darüber, dass sie nicht offen mit ihrer jeweiligen Führung sprechen können. Das Konzept der Inneren Führung scheint in der Krise. Eine Spurensuche.

Generalinspekteur Eberhard Zorn im Gespräch mit der Truppe. Hinter vorgehaltener Hand sagen Soldaten, dass ihre Vorgesetzten Unbequemes und Kritisches nicht hören wollen.

Foto: picture-alliance / dpa

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Woran man merken könne, dass Innere Führung in der Bundeswehr nicht ausreichend gelebt wird? Oberleutnant Robert Reinhardt (Name von der Redaktion geändert), zieht die Augenbrauen zusammen, seine Gesichtszüge verhärten sich. „Das können Sie doch schon daran erkennen, dass ich überhaupt mit Ihnen rede.“ Mit einer Journalistin über das reden, was in der Bundeswehr schiefläuft ‒ das geht dem Fallschirmjäger eigentlich gegen den Strich. „Mir wäre es lieber, ich könnte das intern klären. Und eigentlich sollte es mit der Inneren Führung möglich sein, dass konstruktive Kritik gehört, verstanden und ernst genommen wird. Doch das können Sie sich abschminken.“

Reinhardt ist frustriert. Seine Erfahrung ist: Wer nicht zu allem Ja und Amen sagt, bekommt schlechtere Beurteilungen oder bei Versetzungen miese Dienstposten. „Manche denken, Kritik an der Sache ist Kritik an der Person.“ Deswegen würden Meldungen nach oben häufig geschönt. „Wenn die Einsatzbereitschaft abgefragt wird – zum Beispiel der Klarstand bei Fahrzeugen und Gerät oder wie gut Soldaten ausgebildet sind, dann würden rote Ampeln zu gelben, und ein paar Ebenen weiter oben heißt es: alles top, alle einsatzbereit. „Mein Alltag besteht darin, Excel-Tabellen auszufüllen, die keinen interessieren und nichts verändern“, sagt Reinhardt. Der Offizier ist nicht nur frustriert ‒ er ist auch unter Druck. Denn er spürt seine Verantwortung: „Wenn Menschen nicht richtig ausgebildet und mit unzureichendem Material in den Einsatz gehen, dann sterben sie eher. Wie soll ich unter solchen Bedingungen meiner Fürsorgepflicht nachkommen? Ich fühle mich ohnmächtig. Und wenn ich General Mais höre, wenn er sich jetzt beschwert, das Heer stehe blank da, dann fragt man sich als junger Offizier: Mensch, du warst Jahrzehnte Teil des Systems – was hast du denn gemacht, um das zu verhindern?”

Innere Führung sei zu einer Art Religion geworden, über jede Kritik erhaben. Äußere man sie dennoch, laute die Antwort, man habe einfach zu wenig Erfahrung. „Wie alt muss man denn sein, um das Konzept oder dessen Umsetzung kritisieren zu dürfen? Innere Führung muss jeder verstehen, auch junge Mannschafter. Wenn das nicht der Fall ist, dann stimmt an dem System etwas nicht.” Vielleicht ist das System aber gar nicht kaputt, sondern läuft genau so, wie es laufen soll? Wenn „Augen-zu-und-durch“-Soldaten bessere Bewertungen bekommen, stützt sich das System selbst.

„Prinzip Auftragstaktik läuft nicht rund“

Ein weiterer Kritikpunkt von Oberleutnant Reinhardt: Das Prinzip Auftragstaktik laufe nicht rund, also die Idee, dass Vorgesetzte Ziele definieren und die Ausführenden deren Umsetzung weitgehend selbst bestimmen. „Wenn Aufträge nicht klar formuliert sind, dann höre ich immer: Das ist Auftragstaktik, Oberleutnant, figure it out! Wenn aber Aufträge wichtig sind, dann betreiben Vorgesetzte oft Mikromanagement, vor allem im Einsatz. Wenn jedes Detail über Berlin laufen muss, zeigt das, dass denen Vertrauen in uns fehlt und Innere Führung nur eine hohle Phrase ist.“

Führen im Einsatz bedeutet bei der Bundeswehr Auftragstaktik: Vorgesetzte definieren die Ziele. Die konkrete Umsetzung bestimmen die militärischen Führer, so wie in dieser kleinen Kampfgemeinschaft, weitgehend selbst. Auftragstaktik ist ein wichtiger Bestandteil des Konzepts der Inneren Führung. Soldaten kritisieren, dass dieses Prinzip nicht mehr rundlaufe. (Foto: Bundeswehr/Wilke)

Auch Hartmut Richter winkt beim Thema Innere Führung ab. Der Stabsoffizier ist Führungskraft im Sanitätsdienst, hat Erfahrungen in Kommandobehörden und auf ministerieller Ebene, dazu vielfältige Auslandserfahrung. Auch seinen Namen bittet er zu ändern. „Innere Führung bedeutet für mich: Meinen Leuten unseren Auftrag so erklären und begründen, dass sie ihn verstehen. Und: Wertschätzung zu geben. Dazu gehört ganz klar Inklusion: Kameradschaft gilt nicht nur für weiße Männer: Auch queere Soldaten und Frauen gehören dazu. Ich höre inzwischen manche Vorgesetzte in der Raucherecke sagen: Jetzt im Krieg können wir endlich wieder back to business und müssen uns um dieses Gedöns nicht mehr kümmern. So reden nicht nur alte Stabsoffiziere, sondern auch jüngere. Wenn ich das höre, könnte ich ausrasten.” Denn die Bundeswehr muss den Dienst für Frauen dringend attraktiver gestalten. Die kommen zu selten in die Truppe und verlassen sie zu oft bald wieder: Der Frauenanteil in der Bundeswehr stagniert praktisch seit 2018 bei zwölf Prozent.

Mehr Integrität und Verantwortung

Statt Rolle rückwärts wünscht sich Richter mehr Integrität und Verantwortung bei der militärischen Führung. „Das New Force Model der NATO sieht vor, dass wir bis 2025 innerhalb von 30 Tagen 25.000 Soldatinnen und Soldaten mobilisieren können. Für den Bereich Sanität ist derzeit geplant, dass dann klinisches Personal aus den Bundeswehrkrankenhäusern abgezogen werden soll. Die sind aber auch für die Versorgung der Zivilbevölkerung zuständig. Wie diese Lücke gefüllt werden soll, darauf weiß keiner eine Antwort. Wir haben schlicht zu wenig, und das will keiner hören.“ Auch bei Richters Beschreibung hat man eher den Eindruck, dass das System nicht kaputt ist, sondern genau so funktioniert, wie es soll. Denn: „Um unangenehme Wahrheiten scheinbar aus der Welt zu schaffen, werden Präsentationen vorher geprobt. Die Prüffragen sind dann: Wen schießen wir mit der Aussage an? Wenn es eine vorgesetzte Dienststelle ist: Aussage löschen! Haben wir selbst eventuell Fehler gemacht? Falls ja – Aussage löschen! Was haben wir getan, um die vorgeschlagenen Ideen voranzubringen? Nichts? Aussage löschen! Könnten durch die Vorschläge strukturelle Änderungen angedeutet werden oder gar Dienstposten gefährdet werden? Falls ja – Aussage löschen!”

Und so werden aus Minister- und Staatssekretärsbesuchen glattgebügelte Veranstaltungen, die bestenfalls Zeitverschwendung, oft aber sogar gefährlich sind. Denn: „Die unangenehme Wahrheit ist: In einem Landesverteidigungsszenario werden Soldaten vermutlich schlechter versorgt als bisher. Wir haben einfach nicht genug Sanitätskräfte für denselben Standard wie in Stabilisierungsoperationen. Das liegt in der Natur der Sache und ist bitter. Aber es ist nicht das, was mich so aufregt. Worüber ich richtig sauer werde, ist die mangelnde Transparenz, dass das einfach nicht thematisiert wird, obwohl hinter vorgehaltener Hand darüber geredet wird. Das hat mit Innerer Führung nichts zu tun und höhlt die Truppe von innen her aus“, klagt Hartmut Richter.

Klartext reden!

Der Stabsoffizier fordert stattdessen, dass Generale und Admirale endlich Klartext reden. „Wenn die unteren Ebenen melden: ‚Wir haben nicht genug Leute und Material für diesen Auftrag, was sollen wir stattdessen weglassen?‘, dann will ich nicht mehr hören: Ihr habt nur ein Mindset-Problem, macht es möglich! Sondern ich will, dass meine Vorgesetzten mir den Rücken stärken, mir zuhören und auf Vorschläge, wie Aufträge priorisiert werden könnten, eingehen und vor allem: auch mal Aufträge zurücknehmen.”

Unterstützung von Vorgesetzten, gelebte Kameradschaft auch für sie, nicht nur für weiße Hetero-Männer ‒ das wünscht sich auch Stabsoffizierin Anastasia Biefang. Das Bundesverwaltungsgericht hatte im Mai einen disziplinarischen Verweis für sie bestätigt. Weil die in offener Beziehung lebende transsexuelle Frau (vgl. Porträt in loyal 5/2020) auf Tinder nach Sexpartnern suchte, habe sie gegen die außerdienstliche Wohlverhaltenspflicht verstoßen. Biefang war 2019, zum Zeitpunkt des Verweises, Kommandeurin des Informationstechnikbataillons 381 in Storkow. Sie wehrte sich beim Truppendienstgericht gegen die Disziplinarmaßnahme. Doch dieses gab ihrem rügenden Vorgesetzten genauso recht wie später das Bundesverwaltungsgericht. Begründung: Die Kommandeurin müsse den Eindruck eines „erheblichen Mangels an charakterlicher Integrität“ vermeiden. Das sei mit dem Tinder-Profil nicht gegeben. Artikel 2 des Grundgesetzes, wonach jeder das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit hat, inklusive sexueller Selbstbestimmung, sei dem hier unterzuordnen.

Die Wehrbeauftragte Eva Högl war von dem Urteil entsetzt: „Dass solch eine Entscheidung im 21. Jahrhundert ergeht, hätte ich nicht für möglich gehalten.“ Und: „Es ist zu bezweifeln, dass das Bundesverwaltungsgericht bei einem gleich gelagerten Fall mit einem cis*-heterosexuellen Soldaten in einer offenen Beziehung auf der Suche nach Sex mit Frauen ähnlich entschieden hätte“, schreibt Högl mit Blick auf Biefangs Trans-Identität. Viele Bundeswehrangehörige sprachen die Wehrbeauftragte an mit der Bitte um Orientierung. Denn auf Biefangs Profil war noch nicht einmal sichtbar, dass sie Soldatin ist. Was muss man beim Daten jetzt beachten? Dürfen Soldaten ihren Job auf Tinder und vergleichbaren Plattformen angeben? Sind offene Beziehungen generell verboten, oder nur bei Kommandeuren? Dürfen Soldaten nach Sado-Maso-Partnern suchen oder beschädigen gefesselte Scharfschützen, die sich freiwillig von Frauen schlagen lassen, auch das Ansehen der Bundeswehr?

Oberstleutnant Anastasia Biefang war bis vor gut sieben Jahren ein Mann. Dann machten mehrere Operationen aus ihr die Frau, als die sie sich schon lange fühlte. (Foto: picture alliance/dpa)

Darauf bekommt man vom Verteidigungsministerium keine Antwort. Eine Sprecherin verweist lediglich auf das erwähnte Urteil, laut dem „auch ein rein außerdienstliches, dem privaten Bereich zuzurechnendes Verhalten von Soldatinnen und Soldaten im Einzelfall einen Verstoß gegen die außerdienstliche Wohlverhaltenspflicht begründen kann“. Zudem hätten Vorgesetzte innerhalb und außerhalb des Dienstes die Zurückhaltung zu wahren, die erforderlich ist, um das Vertrauen als Vorgesetzte zu erhalten. Für Oberstleutnant Biefang ist die Antwort ein Schlag ins Gesicht: „Nachdem ich den Verweis bekommen habe, habe ich mit meinen Kompaniechefs gesprochen und sie gefragt, ob sie sich noch von mir führen lassen wollen. Da hat einer gesagt: Den Screenshot kennen wir bereits, das ging schon durchs Bataillon, das interessiert hier keinen.“

Auf Unterstützung von ihren Vorgesetzten wartet Biefang bislang vergebens. Sie bleiben genauso wie das Ministerium in Deckung. Die Urteilsbegründung ging erst Mitte September ein. Jetzt werde geprüft, „ob sich daraus zur Schaffung von Rechtssicherheit Handlungsbedarf ergibt“, so eine Ministeriumssprecherin. So lange können Vorgesetzte den schwammigen Paragrafen 17 des Soldatengesetzes weiter dazu nutzen, eigene moralische Wertvorstellungen durchzusetzen. Ob gegen den Bundeswehrangehörigen, der den Screenshot von Biefangs Profil gemacht und weitergeleitet hat, wegen Verletzung der Kameradschaftspflicht ermittelt wird, wollte das Ministerium weder bestätigen noch dementieren.

Biefang hat inzwischen Verfassungsbeschwerde eingelegt. Denn die politische und militärische Führung der Bundeswehr trifft – wie schon bei den Themen Frauen und Homosexualität – Entscheidungen weiterhin nur auf Druck von Gerichten. Sie könnte das Vertrauen und den Einsatz einer engagierten, hoch qualifizierten Offizierin verlieren. Biefang wurde als eine von wenigen Soldatinnen für den Generalstabslehrgang ausgewählt und bestand diesen erfolgreich.

Sie steht für das ein, was ihr wichtig ist

Viele in der Truppe sehen es so: Mit ihrem Handeln lebt sie soldatische Tugenden wie Mut und Integrität beinahe mustergültig vor, denn sie zeigt sich mit ihrer gesamten Identität und baut so Vertrauen zu ihren Untergebenen auf. Sie steht für das ein, was ihr wichtig ist, und geht nicht den leichteren, unehrlichen Weg. Warum können andere, verheiratete Kommandeure außereheliche Verhältnisse haben, von denen jeder weiß, ohne dafür angeklagt zu werden? Wo sind die 20 schwulen Generale und Admirale, die es statistisch gesehen unter den 200 geben muss? Geoutet hat sich bislang keiner.

Seit Jahren verharrt der Anteil von Frauen bei der Bundeswehr bei zwölf Prozent. Bislang ist es nicht gelungen, den Dienst für Frauen attraktiver zu gestalten. (Foto: picture alliance/photothek)

„Was eine Führungskraft in einen Raum einbringt, bestimmt über das, was dort erlaubt ist“, so fasst es Brené Brown zusammen. Die US-amerikanische Wissenschaftlerin forscht über erfolgreiche Führung und hat dazu mehrere Bestseller veröffentlicht. Milliardenschwere Konzerne reißen sich darum, von ihr beraten zu werden. Die Professorin hat in umfangreichen Studien herausgefunden, wie Vertrauen entsteht. Dazu gehört außer Integrität („Mut Komfort vorziehen“) auch Verlässlichkeit („eigene Grenzen kennen und nicht mehr versprechen, als man halten kann“) auch Verantwortung („Fehler zugeben und ehrliches Bedauern, es zukünftig besser zu machen“).

Weitere Voraussetzung von Vertrauen: Grenzen aufzeigen und respektieren. Im Bundeswehrkontext ließe sich das mit Fürsorge übersetzen. Vorgesetzte sind dazu sogar verpflichtet. Umso verletzter und schockierter waren viele Soldaten, als sie ein Interview eines aktiven Generals für ein Bundeswehrmedium lasen, in dem er sagte, Stress sei nur etwas für „Leistungsschwache“. Auf Twitter teilten daraufhin viele Bundeswehrangehörige Berichte über ihre Zusammenbrüche wegen zu großer Arbeitsbelastung im Dienst: Depressionen, Burnout, Panikattacken, Herzinfarkte, Alkoholabhängigkeit. Sich von der militärischen Führung dafür auch noch als leistungsschwach abstempeln zu lassen, erzeugt Frust und den Eindruck, nicht verstanden und ernst genommen zu werden.

„Leiden und Überlastung nicht zweckmäßig“

Auch Peter Tauber, Verteidigungsstaatssekretär a.D., kann über den Spruch des Generals nur den Kopf schütteln. Der Major der Reserve ging so lange über seine Grenzen, bis sich der Stress in einer lebensbedrohlichen Darmentzündung niederschlug. 2017 rettete eine Notoperation sein Leben. 2021 brach die Krankheit erneut so heftig aus, dass er der Bundespolitik den Rücken kehrte und auch sein Bundestagsmandat niederlegte. „Ich hatte eine echt schlechte Innere Führung, wenn es um mich selbst ging“, sagt Tauber heute. „Ich habe meine Grenzen nicht erkannt.“ Die Aussage des Generals zeige, wie viele seiner Generation noch geprägt seien von Sprüchen wie „Geweint wird, wenn der Kopf ab ist“ – mit katastrophalen Folgen, wie ein Blick auf die Suizidstatistik zeigt. 1980 brachten sich in Deutschland 18.500 Menschen um. Diese Zahl hat sich 2020 auf 9.200 halbiert. „Die jüngere Generation ist da weiter. Wir wissen, dass ständiges Leiden und Überlastung nicht zweckmäßig sind. Wenn ich ständig an meinem Limit bin, habe ich keine Reserven und kann kein empathischer Vorgesetzter sein. Dann kann ich in dem, was ich tue, nicht gut sein. Deswegen sind Zeiten zur Regeneration, Ruhe und Reflexion essenziell. Ein guter Chef muss seine Männer und Frauen dazu bringen, ihre Grenzen zu erkennen und einzuhalten, anstatt sie so lange zu überschreiten, bis die Menschen ausgebrannt sind“, ist Tauber überzeugt.

Mit Innerer Führung hat sich der studierte Historiker Tauber intensiv auseinandergesetzt: „Für einen der Väter des Konzepts, Wolf Graf von Baudissin, war die eigene Verantwortung ein Schwerpunkt seines Handelns: Wie führe ich mich selbst? Bin ich Vorbild für andere in meinem Tun, oder gehe ich den bequemen Weg?“ Gelebte Innere Führung sei es, wenn Zugführer oder Kompaniechefs für ihren Bereich einen gemeinsamen Geist entwickeln können und alle sagen: Wir bilden nicht nur auf dem Papier eine Gemeinschaft, sondern wir fühlen uns gemeinsam verantwortlich für die Dinge, die uns aufgetragen sind. Das bedeutet im 21. Jahrhundert auch: eine Gemeinschaft zu sein, in der alle gleichwertig sind und sich schwule Soldaten genauso sicher fühlen können, vom Wochenende mit ihrem Freund zu erzählen, wie Hetero-Kameraden.

„Raum für Offenheit ist nicht nur in Fragen der Diversität wichtig, sondern auch bei anderen herausfordernden Themen“, sagt Tauber. Dieses Vertrauen sei notwendig zur Erfüllung des Auftrags und müsse bei alltäglichen Dingen beginnen, weil es sonst im Einsatz nicht funktioniere. Denn, das werde bei Debatten um Innere Führung oft vergessen: „Es geht nicht allein um gute Menschenführung, sondern auch immer um Auftragserfüllung und Einsatzbereitschaft.“ Dafür ist es nach Ansicht des früheren Verteidigungsstaatssekretärs unerlässlich, dass sich Vorgesetzte auf die Lebenswelt ihrer Soldaten einlassen – eine Lebenswelt, die heute vor allem bei jüngeren Menschen von offenen Beziehungen und sozialen Netzwerken geprägt ist. Tauber: „Der Soldat muss in den Streitkräften das erleben, was er auch verteidigen soll. Wenn er eine freiheitlich-pluralistische Gesellschaft verteidigen soll, muss er sie – natürlich mit der rechten und linken Grenze militärischer Notwendigkeiten ‒ auch in den Streitkräften sehen.“ Dafür müsse die Innere Führung im Kern nicht verändert werden, da sie gut auf die jeweilige Lebenswelt adaptierbar sei.

„Mut zur Wahrheit fördern und einfordern“

Was sagt die Bundeswehr zu den geschilderten Problemen? loyal hat beim Zentrum Innere Führung in Koblenz nachgefragt. Dort müssen Vorgesetzte Pflichtlehrgänge absolvieren, Spitzenpersonal bekommt sogar ein persönliches Coaching. Einen geplanten Interviewtermin sagt das Zentrum spontan ab. Später schreibt Generalmajor André Bodemann in einer schriftlichen Antwort zum Thema geschönte Meldeketten: Bereits einer der Schöpfer der Inneren Führung, Wolf Graf von Baudissin, habe gesagt, Soldaten werden notwendige Autorität nur erlangen, wenn sie auch dann zur Wahrheit stehen, wenn sie etwas kostet.

Offiziere müssen sich in der Ausbildung intensiv mit dem Thema Innere Führung auseinandersetzen, die sie später als Vorgesetzte leben sollen. (Foto: Bundeswehr/PIZ Personal)

Wenn Vorgesetzte Meldungen aus Angst vor negativen Konsequenzen nicht weitergeben, handelten sie entgegen der Grundsätze der Inneren Führung und verlören Vertrauen, so Bodemann. Deswegen will das Zentrum in Trainings „Mut zur Wahrheit fördern und einfordern“. In Sachen Inklusion ist der General weniger besorgt und schreibt, dass die Bundeswehr trotz „immer wieder vorkommenden einzelnen Fehlverhaltens“ etwas stolzer sein sollte, da sie in Bezug auf inklusives Führen häufig Vorreiter sei. Komme es zum Fehlverhalten Einzelner, habe nicht die Innere Führung versagt, sondern der einzelne Mensch. Für die meisten Soldatinnen dürfte das die  zweitschlimmste Antwort sein nach „Was haben Sie denn angehabt, als Sie belästigt wurden?”.

Halt in Extremsituation

Doch es geht auch anders. Dass Innere Führung nicht nur Thema gepflegter Portweinrunden im Offizierskasino ist, sondern auch in Extremsituationen tragen kann, diese Erfahrung hat Oberst Axel Schneider gemacht. Heute ist er Kommandeur des Landeskommandos Schleswig-Holstein, 2014 war er beim Zentrum für Verifikationsaufgaben im nordrhein-westfälischen Geilenkirchen. So kam es, dass er im Frühjahr 2014 ein internationales Militärbeobachterteam in der östlichen Ukraine leitete. Doch die Lage geriet außer Kontrolle. Das Team wurde von pro-russischen Separatisten entführt und über eine Woche gefangen gehalten. Die westlichen Teammitglieder wurden leidlich gut behandelt, doch begleitende ukrainische Soldaten wurden von den Geiselnehmern misshandelt. Wenn er heute darüber spricht, hört Schneider noch, wie die Rippen brechen. Aber selbst in dieser Extremsituation gab ihm die Innere Führung Halt.

Oberst Axel Schneider – heute Kommandeur des Landeskommandos Schleswig-Holstein – wurde 2014 in der Ost-Ukraine entführt. Die Prinzipien der Inneren Führung haben ihn und seine Kameraden in dieser Extremsituation gerettet. (Foto: picture alliance/dpa)

Schneider hat erkannt, dass Einstimmigkeit nicht immer ein gutes Zeichen ist und forderte als Teamleiter immer wieder Widerspruch ein, wenn sich bei einer seiner Entscheidungen keiner traute, etwas dagegen zu sagen. Der Bundeswehroffizier will so das Team in Gefangenschaft zusammenhalten; jeder soll sich gesehen fühlen und hilfreiche Vorschläge sollen gehört werden. Im Gespräch mit loyal sagt der Oberst: „Dieses Wahrnehmen meiner Teammitglieder mit Respekt, Anerkennung und einem Kodex, wie man sich als Soldat und Offizier verhält, das hat auch mit den nichtdeutschen Kameraden funktioniert. Diese Elemente für Kommunikation und Krisenbewältigung habe ich meiner Ausbildung in Innerer Führung zu verdanken. Das ist mir erst bei der Nachbereitung der Extremsituation klar geworden. Jetzt sehe ich da ganz deutlich den Zusammenhang, und das macht mich zu einem ersten Advokaten für Innere Führung.” Schneider ist überzeugt: Die Geschlossenheit der Gruppe half dabei, eine Eskalation zu verhindern und das Überleben zu sichern.


Unsere Autorin

Julia Weigelt ist Fachjournalistin für Sicherheitspolitik in Hamburg. Das Gespräch mit Oberst Schneider hat sie betroffen und nachdenklich gemacht.

Sie schreibt: „Vor meiner ersten Afghanistanreise mit der Bundeswehr habe ich selbst ein Entführungstraining mitgemacht und kann mich an die langen vier Stunden in Hammelburg noch deutlich erinnern. In einem kalten russischen Keller mit verbundenen Augen zu knien und den Lauf einer geladenen Waffe am Kopf zu spüren – das wünsche ich niemandem. Und sollte es mich bei einer Recherchereise doch einmal treffen und ich könnte mir eine Teamleitung aussuchen – entweder eine Führungskraft, die mir für mein Dating eine Disziplinarstrafe verpasst, oder eine, die zu Widerspruch auffordert und sich mit ihrer ganzen Identität zeigt – ich wüsste sofort, wem ich mein Leben anvertrauen würde.“


 

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