Gespaltene Staaten von Amerika
Am 5. November ist in den USA Wahltag. Zum 60. Mal seit Gründung der Vereinigten Staaten wird ein Präsident gewählt. Seit dem Bürgerkrieg im 19. Jahrhundert waren die US-Amerikaner nicht mehr derart gespalten. Was wird die Wahl sicherheitspolitisch bringen? Transatlantiker in Europa schauen mit Sorge nach Amerika.
Das Rennen um die Nominierungen für die Präsidentschaft scheint bei Demokraten und Republikanern gelaufen zu sein. Falls nichts Unvorhergesehenes geschieht und ihm seine Gesundheit keinen Strich durch die Rechnung macht, wird Joe Biden wieder für die Demokraten antreten. Bei den Republikanern steht Donald Trump als Kandidat fest. Sein Durchmarsch könnte höchstens noch durch eine Disqualifizierung aufgrund seiner zahlreichen Gerichtsverfahren gestoppt werden. In einem solchen Fall würde der anstehende Nominierungsparteitag zunächst versuchen, einen Konsenskandidaten unter den übrigen Bewerbern zu finden. Falls dieser Ansatz scheitert, müsste letztendlich die Parteiführung den offiziellen Kandidaten der Republikaner bestimmen. Fraglich ist, ob es so weit kommt.
Derzeit laufen zwar vier Strafverfahren mit insgesamt 91 Anklagepunkten gegen den ehemaligen Präsidenten. Die schwerwiegendsten Vorwürfe lauten auf kriminelle Verschwörung mit dem Ziel, den rechtmäßigen Ausgang der Präsidentschaftswahlen von 2020 zu kippen. Trump beharrt auf juristische Immunität für sämtliche Handlungen während seiner Amtszeit. Am 28. Februar willigte der oberste Gerichtshof der USA ein, die verfassungsrechtliche Gültigkeit dieses Arguments zu prüfen. Unklar ist, wann das Gremium eine Entscheidung trifft. Ungewiss bleibt daher auch, ob die wesentlichen Strafprozesse rechtzeitig angesetzt werden können, um – im Falle eines Schuldspruchs – Trump für die weitere Teilnahme an der aktuellen Wahl zu disqualifizieren. Mit größter Wahrscheinlichkeit wird Trumps Name im November auf dem Stimmzettel stehen. Die Kandidaten stehen also fest – doch wohin würden sich die USA entwickeln, wenn Biden im Weißen Haus bliebe beziehungsweise Trump dort wieder einzöge?
Seit 1850 war das US-amerikanische Volk nicht mehr so gepalten wie heute. Ein Riss geht durch die Gesellschaft. Böse Zungen sprechen schon nicht mehr von den Vereinigten Staaten, sondern von den Gespaltenen Staaten von Amerika. Wähler des gesamten politischen Spektrums betrachten 2024 als Entscheidungsjahr mit langfristiger Auswirkung auf die Zukunft des Landes. Beim Thema Sicherheitspolitik steht Amerika – und damit indirekt die ganze Welt – in jedem Fall vor einer Schicksalswahl. Nicht nur in Westeuropa, auch in Russland, China, auf dem Balkan und in Nahost schauen die Mächtigen mit je unterschiedlichen Erwartungen auf den kommenden November. Je nachdem, wie die Wahl ausgeht, könnte dies bedeutende Auswirkungen beispielsweise auf den Fortgang der Kriegs in der Ukraine haben. Besonders betroffen von der Wahl ist Europa, denn Europa hat es mit einem imperialistischen Krieg zu tun, der den ganzen Kontinent bedroht – und Europa ist auf Hilfe aus den USA angewiesen, nicht zuletzt auch auf den atomaren Schutzschirm der Amerikaner. Welchen Transatlantiker man in Europa derzeit nach den US-Wahlen fragt: Sie alle sind besorgt.
Die guten Umfragewerte für Donald Trump dürften hingegen im Kreml mit Wohlwollen zur Kenntnis genommen werden. Der autokratisch regierende russische Präsident Wladimir Putin zieht den Krieg im Nachbarland in die Länge, in der Hoffnung, dass ihm ein US-Präsident Trump seine Geländegewinne garantiert und der Krieg in der Ukraine eingefroren wird – zu Lasten der Ukrainer und unter Düpierung der Europäer. Trump hatte schon angekündigt, dass er im Falle seiner Wahl den Ukraine-Krieg „in einem Tag“ beenden würde. Doch zu welchem Preis? Während Moskau auf Trump hofft, sind die Befürchtungen in der Ukraine groß. Schon jetzt blockieren Trumps Republikaner im Kongress ein 60 Milliarden schweres Militärhilfspaket für die Ukraine, der langsam aber sicher die Munition ausgeht. Kyjiw befürchtet, dass im Falle einer Wahl Trumps das Schicksal der Ukraine besiegelt sein könnte. Traurig aber wahr: Putin wäre dann der große Sieger der US-Präsidentschaftswahl.
Trump: Keine Beistandszusage für Taiwan
China hingegen wird seine Schlüsse in Bezug auf Taiwan ziehen, je nachdem, wer künftig im Weißen Haus sitzt. Sollte Donald Trump gewinnen, ist nach Ansicht vieler Beobachter mit einer stärkeren amerikanischen Militärpräsenz im Indopazifik zu rechnen, wo China – nicht Russland – für Trump der eigentliche Feind ist.
Andererseits könnte der von Trump gepflegte Unilateralismus die Zusammenarbeit mit den asiatisch-pazifischen Sicherheitspartnern belasten. Bereits während seiner ersten Amtszeit forderte er von Japan und Südkorea, die finanzielle Beteiligung an den Stationierungskosten der dort präsenten US-Streitkräfte um das Vier- bis Fünffache zu erhöhen, und drohte beiden Verbündeten mit dem Abzug der US-Kontingente. Eine zweite Amtszeit dürfte die Rückkehr dieser Politik mit sich führen. Auch abgesehen von seiner Männerfreundschaft mit Kim Jong Un betrachtet Trump – analog zu seiner NATO-Politik – sowohl Japan als auch Südkorea als wohlhabende Industriestaaten, die ihre Verteidigung selbst wahrnehmen könnten. Hinsichtlich Taiwan vermeidet es Trump, im Gegensatz zu Biden, eine feste Beistandszusage zu geben. Alles in allem dürfte Peking eine Rückkehr Trumps eher begrüßen als bedauern. Lediglich auf dem Wirtschaftssektor scheint Trump zu einer Konfrontation mit der Volksrepublik bereit zu sein. Allerdings hätten die in Aussicht gestellten Importtarife in Höhe von 40 bis 60 Prozent in den USA eine katastrophale Inflationswirkung und dürften so kaum umsetzbar sein.
Obwohl Trump seit drei Jahren Privatmann ist, entsendet er seinen ehemaligen Deutschlandbotschafter Richard Grenell regelmäßig als „seinen Abgesandten“ in alle Welt. Dessen Reisen führen ihn auch auf den Balkan, wo Grenell 2019/2020 ein Abkommen zwischen Serbien und dem Kosovo vermittelte, das nach Ansicht der damaligen kosovarischen Regierung vorteilhaft für Belgrad ausfiel. Sowohl im Kosovo als auch in Serbien spricht er abwertend über die Balkanpolitik der Biden-Regierung und nutzt sein Ansehen in der Region, um die dortigen Freunde und Verbündeten Trumps zu fördern. „Er ist zweifelsohne [noch heute] Serbiens Freund“, erklärte der ehemalige serbische Botschafter in Washington, Marco Duric, 2023. Nebenbei nutzt Grenell, der bereits als potenzieller Außenminister in einem künftigen Trump-Kabinett gehandelt wird, seine Kontakte, um milliardenschwere Immobiliengeschäfte in Serbien und Albanien auszuhandeln. Hauptnutznießer dieser Bemühungen ist die Investmentfirma von Trumps Schwiegersohn Jared Kushner. Sowohl politisch als auch privat deuten alle Zeichen auf eine pro-serbische Politik einer zweiten Trump-Amtszeit.
Im Nahen Osten dürfte Trump, wie bereits in seiner ersten Amtszeit, wieder bessere Beziehungen zu Saudi-Arabien suchen und eine Eindämmungsstrategie gegenüber Iran verfolgen. Dies muss allerdings nicht zwangsläufig zu einem ausgewachsenen Krieg führen. Hinsichtlich Israel betont Trump ständig seine Unterstützung des jüdischen Staates. Als Präsident verlegte er die US-Botschaft nach Jerusalem und billigte die umstrittene Ausweitung der israelischen Siedlungspolitik im Westjordanland. In einer zweiten Amtszeit dürfte Trump der israelischen Regierung wieder weitgehend freie Hand im Umgang mit den Palästinensern, mit Syrien und dem Libanon geben. Völkerrechtlichen oder humanitären Gesichtspunkten wird wesentlich weniger Bedeutung zugeschrieben werden als unter der aktuellen Regierung. Ein möglicher Vorbote ist sein am 26. März veröffentlichter Aufruf an Israel, den Krieg in Gaza so bald wie möglich „abzuwickeln“. Seine Kritik galt dabei nicht der humanitären Krise in Gaza, sondern der Tatsache, dass Israel „den Fehler machte“, Kriegsbilder zu veröffentlichen.
Wertegemeinschaft mit demokratisch gesinnten Partnern
Joe Biden steht für eine Fortsetzung des seit einem Jahrhundert üblichen globalen Engagements der USA sowie für die Pflege der Wertegemeinschaft mit demokratisch gesinnten Partnern. Beistand für Verbündete und befreundete Nationen – sei es in Europa, im Mittleren Osten oder Asien – zählt zu den Kernprinzipien seiner Außen- und Sicherheitspolitik. Diese Entschlossenheit beruht nicht nur auf der ethischen Verpflichtung zur Einhaltung von Verträgen. Biden hat auch verstanden, dass die Sicherheit der Vereinigten Staaten in Übersee beginnt, und dass selbst eine Supermacht nur im Verbund mit Partnern bestehen kann. In dieser Beziehung bewegt sich der Präsident mehr als Trump in der traditionellen Außen- und Sicherheitspolitik der Republikaner, verkörpert durch Ronald Reagan oder George H. W. Bush.
Trump stellt seine feindliche Haltung gegenüber der NATO und seine Sympathien für Wladimir Putin im aktuellen Wahlkampf noch aufreizender zur Schau, als er es in seiner Amtszeit tat. Seine offen ausgesprochene Drohung, dass er Putin ermuntern würde, „nach Belieben“ mit NATO-Partnern zu verfahren, lässt einen engen Schulterschluss mit Russland erwarten. Dies wäre eine historische Zäsur in der Geschichte der USA seit dem Zweiten Weltkrieg.
Trump ist mit dieser Haltung nicht alleine. Während traditionell gesinnte Republikaner seine Haltung kritisieren, repräsentiert dieser „Reagan-Flügel“ der Partei nur noch eine Minderheit. „Reagan-Republikaner“ im Kongress konnten 2017 bis 2020 noch die schlimmsten Auswüchse des Präsidenten Trump verhindern. Erst im Dezember 2023 verabschiedeten gemäßigte Republikaner und Demokraten in beiden Häusern vorsorglich eine Klausel, die es einem Präsidenten untersagt, eigenmächtig einen NATO-Austritt zu beschließen.
Der Trump-Flügel der Partei versucht gezielt, ausscheidende Republikaner in beiden Kammern des Kongresses durch Isolationisten und Nationalisten zu ersetzen. „Im Falle der Wiederwahl Trumps werden die verbleibenden Reste des Internationalismus aus der Partei getilgt“, mahnt Dalibor Rohac, Politologe der konservativen Stiftung American Enterprise Institute. „Sollte er unterliegen, könnte ein Teil der unorthodoxen außenpolitischen Thesen, die sich mit seiner Unterstützung in der Partei festsetzten, neu bewertet werden.“ Wie groß sind die Chancen für Donald Trump, wieder ins Weiße Haus einzuziehen? Umfragen ergeben für beide Kandidaten vergleichsweise niedrige Zustimmungswerte im Bereich von 40 bis 45 Prozent, wobei Trump generell zwei Prozentpunkte höher liegt als der amtierende Präsident. Jeder Kandidat wird also von 55 bis 60 Prozent der Wähler negativ bewertet. Weiterhin bemerkenswert: Trumps Beliebtheit schwankt von einer Umfrage zur nächsten, liegt jedoch im Fünfjahresvergleich um 42 Prozent. Die Zustimmungswerte für Joe Biden rutschten hingegen im Verlauf der letzten zwei Jahre stetig ab, von einem vorläufigen Höhepunkt von 55 Prozent Anfang 2021 auf zuletzt 40 bis 43 Prozent.
Drittparteien könnten Wahlausgang entscheiden
Entscheidend wird die Wahlbeteiligung sein. Trump scheint hier einen Vorteil zu haben. Der harte Kern seiner Anhänger (30 Prozent der Republikanischen Wählerschaft) ist hoch motiviert. Darüber hinaus haben je nach Umfrage 70 bis 80 Prozent der Parteianhänger eine positive Einstellung zum ehemaligen Präsidenten. Zudem ist die Mehrheit der Republikaner entschlossen, unabhängig von der Person den Kandidaten ihrer Partei zu unterstützen.
Joe Biden hat es schwerer. Die Begeisterung, die Trump bei seinen Anhängern auslöst, fehlt hier. Selbst unter Stammwählern der Demokraten genießt der amtierende Präsident nur knapp über 60 Prozent Zustimmung; eine Mehrheit der Parteimitglieder wünscht sich grundsätzlich einen anderen Fahnenträger. Ein Faktor ist die Sorge, dass Biden aufgrund seines Alters den Strapazen von vier weiteren Amtsjahren nicht gewachsen sein könnte. Vor allem im linksliberalen Flügel gilt Biden als zu konservativ. Besonders seine engagierte Unterstützung für Israel im Rahmen der laufenden Kämpfe in Gaza schürt Widerstand unter arabischstämmigen Amerikanern sowie bei jungen Menschen aller Volksgruppen. Dies führte bereits zu Protestwahlen gegen Biden im Rahmen der Vorwahlen. Politische Freunde des Präsidenten bemängeln, dass seine Wahlkampfstrategie nur unzureichend die Erfolge seiner Regierung hervorhebt und stattdessen auf die Erwartung setzt, dass die Menschen am 5. November zur Wahlurne gehen, um einen Sieg Trumps zu verhindern.
Ausschlaggebend könnten Drittparteien und unabhängige Kandidaten sein. Die meisten zählen zum linken politischen Spektrum. Erfolgsaussichten hat keine dieser Randbewegungen, doch können sie, wenn die großen Parteien Kopf-an-Kopf liegen, genügend Stimmen von der einen oder der anderen Partei abziehen, um den Wahlausgang zu beeinflussen. Dies war bereits 2000 und 2016 der Fall, als die Grünen 2,7 beziehungsweise 1,06 Prozent der abgegebenen Stimmen erhielten und so zum Wahlverlust der Demokraten beitrugen. Die Unzufriedenheit insbesondere der jüngeren Stammwähler der Demokraten könnte zu Proteststimmen zugunsten der Drittkandidaten führen, und so den Wahlausgang bestimmen.
Der Autor
Sidney E. Dean ist freier Journalist mit Sitz in Suffolk, Virginia.