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Ein nützlicher Feind

Mit dem Angriff auf Israel Anfang Oktober hat die Hamas ihren wahren Charakter als Terrororganisation gezeigt. Seitdem wird sie von Israel massiv bekämpft. Lange galt sie jedoch als wertvolles Gegengewicht zur Palästinen­sischen Autonomiebehörde – vor allem für Israels Premier Benjamin Netanjahu.

Foto: picture alliance / dpa

Mehrere tausend Raketen hat die Hamas am Morgen des 7. Oktober 2023 auf Israel abgefeuert. Zahlreiche Städte und Ortschaften wurden getroffen, darunter Jerusalem und Tel Aviv. Zeitgleich legten Drohnen die Technik am Grenzzaun zwischen dem Gazastreifen und Israel lahm. Mit Bulldozern und Panzerabwehrraketen überwanden rund 3.000 Terroristen die Sperranlage an acht Stellen. Einige drangen zudem über den Seeweg und mit motorisierten Gleitschirmen nach Israel ein.

Es war der Beginn der „Operation al-Aqsa-Flut“, die 1.200 Israelis und ausländischen Touristen das Leben kostete. 251 Geiseln wurden in den Gazastreifen entführt. Es war das schlimmste Verbrechen gegen Juden seit dem Holocaust. Viele Geiseln sind bis heute nicht befreit. Den Israel Defense Forces (IDF) gelang es erst am Abend des 7. Oktober, die Kontrolle über den Süden des eigenen Landes zurückzuerlangen.

Wer ist diese Terrororganisation, die mit geringen militärischen Mitteln in Israel einfallen konnte, das mit dem Iron Dome über eine der international fortschrittlichsten Verteidigungsanlagen verfügt und dessen Armee zu einer der schlagkräftigsten der Welt zählt?

Bruderkrieg in den palästinensischen Gebieten

1987 gründete Scheich Ahmed Yassin in den palästinensischen Gebieten die Hamas als regionalen Ableger der ägyptischen Muslimbruderschaft. Die Organisation besitzt sowohl einen politischen Arm, der von Ismail Haniyya aus Katar geführt wird, als auch einen militärischen, der Mohammed Deif im Gazastreifen untersteht. Der militärische Arm, die Qassam-Brigade, verfolgt eigene Ziele. So vermuten israelische Sicherheitsbeamte, dass die politische Führung im Ausland beispielsweise nicht über Einzelheiten des Angriffs am 7. Oktober informiert worden war. Als Drahtzieher der Anschläge gelten Deif und Yahya Sinwar, Führer der Hamas im Gazastreifen.

Kämpfer der Qassam-Brigaden, des militärischen Arms der Hamas, in ihrem Tunnelsystem in Gaza. (Foto: picture alliance / abaca)

Neben dem politischen und militärischen Engagement engagiert sich die Hamas auch in sozialen Projekten. „Eines der ersten Dinge, die Scheich Yassin tat, war der Bau von Fußballplätzen“, sagt Netanel Flamer, Dozent an der Fakultät für Nahoststudien der Bar-Ilan-Universität, gegenüber der israelischen Zeitung Haaretz. Über ihr soziales Engagement rekrutiert die Hamas viele ihrer Mitglieder. Zudem betreibt sie eine eigene Universität, die Islamic University of Gaza, Schulen und Kindergärten, die als Rekrutierungs- und islamische Erziehungszentren dienen.

Finanziert wird die Hamas überwiegend aus dem Iran und Katar. Neben Geld erhält die Organisation vom Iran auch Waffen, Munition und Sprengstoff, die durch weitverzweigte Tunnelsysteme in den Gazastreifen geschmuggelt werden. Zusätzlich verfügt die Hamas über Einnahmen durch ein breit gestreutes Geflecht von Firmen, die überwiegend in arabischen Staaten angesiedelt sind. Seit 2006 kommen Steuereinnahmen im Gazastreifen und die Abzweigung von Hilfsgeldern hinzu.

Israel spielt bei der Hamas eine zentrale Rolle. In ihrer 1988 veröffentlichten Charta beschreibt sie ihr zentrales Ziel: die Zerstörung Israels und die „Befreiung“ Palästinas für alle Muslime. Auch die konkurrierende palästinensische Fatah-Bewegung im Westjordanland ist dadurch ein erklärter Feind. Die Hamas lehnt die Bestrebungen der Fatah ab, einen palästinensischen Staat neben einem israelischen zu etablieren. Sie besteht auf dem alleinigen Anspruch auf das gesamte Land für das palästinensische Volk.

2007 kam es dadurch zum Bruch zwischen Fatah und Hamas. Nachdem die Hamas die Parlamentswahlen in den besetzten Gebieten ein Jahr zuvor gewonnen hatte, zwang Palästinenserpräsident Abbas sie mit israelischer und westlicher Hilfe in eine Einheitsregierung mit der Fatah unter dem Dach der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA). Dieser Schritt führte zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen zwischen den verfeindeten Parteien. 2007 übernahm die Hamas mit Gewalt die Macht im Gazastreifen und vertrieb die Fatah aus dem Küstengebiet. Seither werden die palästinensischen Autonomiegebiete geteilt verwaltet: Die Fatah, als stärkste Kraft innerhalb der PA regiert das Westjordanland, die Hamas den Gazastreifen.

Verpasste Chance?

Nachdem Yahya Sinwar 2017 als Leiter der Hamas im Gazastreifen eingesetzt wurde, kam es kurzzeitig zu einer Neuorientierung innerhalb der Organisation. Im Jahr 2017 veröffentlichte die Hamas eine neue politische Leitlinie, die in den Augen von Experten eine Änderung der Charta von 1988 darstellte. Einige Wissenschaftler kritisierten allerdings, dass die Hamas nie darauf verwies, dass das neue Paper die ursprüngliche Charta ersetze. Gershon Baskin, israelischer Leiter der Nichtregierungsorganisation „International Communities Organisation“, sieht in der neuen Charta ein Zeugnis der Veränderungen, die innerhalb der Hamas vor sich gingen. 17 Jahre lang arbeitete er als Vermittler zwischen Israel und der Hamas. Durch enge Beziehungen zu Hamas-Sprecher Ghazi Hamad verhandelte er unter anderem die Freilassung des von der Hamas 2008 verschleppten Soldaten Gilad Schalit. Er kennt die Organisation gut und traf als einziger Israeli auch Mitglieder der politischen Führung in Gaza.

Mahmud Abbas, Chef der Palästinensischen Autonomiebehörde (l.). Neben ihm Chalid Maschal aus dem Hamas-Führungskomitee. (Foto: picture alliance / dpa)

Ohne das Existenzrecht Israels anzuerkennen, stimmte die Hamas erstmals in ihrer neuen Charta einem palästinensischen Staat im Gazastreifen, dem Westjordanland und Ostjerusalem zu. Von der Neuauflage der Charta erhoffte sich die Organisation größere Legitimität im Westen. Im gleichen Jahr bot Sinwar der Autonomiebehörde im Westjordanland an, die zivile Regierung im Gazastreifen zu übernehmen. Außerdem sprach er sich für Wahlen zu einer Einheitsregierung aus. Versöhnungsverhandlungen zwischen den verfeindeten palästinensischen Parteien unter ägyptischer Vermittlung schienen Erfolg versprechend. Auch die USA unterstützten die Schritte.

Nach der Unterzeichnung eines Versöhnungsabkommens zwischen Hamas und Fatah verzögerte sich die Machtübernahme der PA im Gazastreif­en jedoch immer wieder. „Ich dachte, die Hamas könnte pragmatisch werden und sich als islamische politische Partei in eine palästinensische Regierung integrieren. Das hätte eine Öffnung von Gaza Richtung Israel und dem Westjordanland erfordert. Man hätte den Menschen in Gaza wieder eine Möglichkeit zum Leben geben müssen, um Radikalisierungstendenzen den Boden zu entziehen“, sagt Baskin im Gespräch mit loyal. Doch das Gegenteil war der Fall. Die Hamas weigerte sich, ihre Waffen abzulegen, woraufhin die Autonomiebehörde den Druck erhöhte und die Stromzufuhr in den Gazastreifen durch Israel drosseln ließ. Nachdem sich die Versorgungslage in dem Küstenstreifen drastisch verschlechterte, kam es 2018 zu gewaltsamen Protesten an der Grenze zwischen Gaza und Israel. Die Machtübernahme der Autonomiebehörde im Gazastreifen scheiterte.

Netanjahus inoffizieller Verbündeter

Das spielte vor allem dem israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu in die Karten. „Wenn wir uns die Entwicklung über die Jahre hinweg ansehen, dann war Netanjahu seit seiner ersten Amtszeit als Premierminister einer der Hauptverantwortlichen für das Erstarken der Hamas“, erklärte Yuval Diskin, von 2005 bis 2011 Leiter des israelischen Inlandsgeheimdienstes Shin Bet, gegenüber der israelischen Tageszeitung Jedi’ot Acharonot im Januar 2013.

Dies ist eine Anschuldigung, die auch andere Politiker und Sicherheitsexperten stützen. Im August 2019 sagte der ehemalige israelische Ministerpräsident Ehud Barak im Armeeradio über Netanjahu: „Seine Strategie ist es, die Hamas am Leben zu erhalten selbst um den Preis, die Bürger [im Süden Israels] im Stich zu lassen, um die PA in Ramallah zu schwächen.“ Im selben Jahr erklärte Gershon Hacohen, Generalmajor der Reserve, in einem Interview mit der Nachrichtenseite Ynet: „Netanjahus Strategie ist es, die Option von zwei Staaten zu verhindern, also macht er die Hamas zu seinem engsten Partner. Offiziell ist die Hamas ein Feind. Im Verborgenen ist sie ein Verbündeter.“

Mehr als 18.000 Genehmigungen hat Israel Bewohnern des Gazastreifens ausgestellt, die damit in Israel und dem besetzten Westjordanland arbeiten durften. (Foto: picture alliance / AP Photo)

Die Gründe dafür finden sich in einer unter rechtskonservativen Israelis weitverbreiteten Vorstellung, nur die jüdische Bevölkerung hätte ein Anrecht auf das gesamte israelische Gebiet, inklusive des Westjordanlandes. Dieser Anspruch findet sich sogar im ersten Satz des Koalitionsrahmenvertrags der aktuellen rechts-religiösen Regierungskoalition: „Das jüdische Volk hat ein exklusives und unveräußerliches Recht auf alle Teile des Landes Israel – Galiläa, Negev, den Golan und Judäa und Samaria.“ Seit seiner Amtseinführung 2009 arbeitete Netanjahu deshalb an einer dauerhaften Teilung der palästinensischen Machtapparate. Bis heute scheint dadurch eine diplomatische Lösung des Konflikts und die Etablierung eines Palästinenserstaates unmöglich.

Zwischen 2012 und 2018 überwies Katar insgesamt etwa einer Milliarde Dollar in den Gazastreifen, wovon mindestens die Hälfte an die Hamas, einschließlich ihres militärischen Flügels, ging. Die Finanzspritze aus Katar war Teil eines inoffiziellen Waffenstillstands zwischen der Hamas und Israel. Durch diese Strategie entwickelte sich die Hamas von einer unbedeutenden Terrororganisation zu einer effizienten, tödlichen Armee mit gut ausgebildeten Sturmtruppen.

Im Januar 2022 erklärte Gadi Eisenkot, ehemaliger Generalstabschef der IDF, gegenüber der israelischen Tageszeitung Maariv, dass Netanjahu „in völligem Gegensatz zur Einschätzung des Nationalen Sicherheitsrates handelt, der feststellt, dass es notwendig ist, sich von den Palästinensern zu trennen und zwei Staaten zu gründen“. Israel bewegte sich genau in die entgegengesetzte Richtung. Unter Netanjahu schwächte die Regierung die gemäßigte PA und stärkte die radikale Hamas. Ein Fehler, wie sich am 7. Oktober 2023 herausstellte.

Kein Frieden ohne zweiten Staat

Diesen Fehler versucht die Regierung unter Netanjahu nun zu beheben – allerdings viel zu spät. „Es gibt kein Szenario, in dem die Hamas nach dem Krieg noch in der Lage sein wird, Gaza zu regieren und Israel aus dem Gazastreifen heraus zu bedrohen. Israel wird die politischen und militärischen Führer töten und die gesamte Infrastruktur zerstören“, sagt der Hamas-Experte Baskin.

Doch damit ist es nicht getan. Ideologien lassen sich nicht militärisch zerstören, glaubt Baskin. Ideen lassen sich nur mit besseren Ideen bekämpfen. „Wenn man möchte, dass Palästinenser eine Zukunft sehen, für die es sich zu leben lohnt, anstatt zu sterben, dann muss man ihnen das Versprechen auf Frieden, Freiheit und Befreiung erfüllen und somit ein Ende der israelischen Besatzung“, sagt er. Die Besatzung und die Kontrolle der palästinensischen Bevölkerung dürfen nicht länger geduldet werden, fordert er. Nur eine Zwei-Staaten-Lösung könnte den Konflikt beenden.

Eine Lösung für Gaza kann nach Lage der Dinge, darin sind sich die meisten Experten einig, nur eine gesamtpalästinensische Lösung sein. Jede weitere Besatzung des Gazastreifens wie durch Israel zwischen 1967 und 2005, würde der Hamas in die Karten spielen und zu ihrem erneuten Erstarken führen.


Die Autorin

Kim Berg ist Redakteurin bei Fazit Communication. Ein Fokus ihrer Arbeit ist der Nahost-Konflikt und speziell die Hamas. Dazu recherchierte sie bereits vor Ort im Westjordanland.

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