„Helden kommen nicht vor Gericht“
Der Chefankläger des Jugoslawientribunals, Serge Brammertz, hat die Ermittlungen gegen die bosnisch-serbischen Kriegsverbrecher Radovan Karadžić und Ratko Mladić geleitet. Seine Anklagen führten bei beiden Tätern zu lebenslangen Haftstrafen. 2023 wird das letzte Hauptverfahren abgeschlossen. Brammertz ist auch für die Verfolgung von Kriegsverbrechen in Ruanda zuständig. loyal hat den Ausnahmejuristen in Den Haag getroffen.
Der 21. Juli 2008 war ein Montag. Ein Tag, den Serge Brammertz nie vergessen wird, denn jene Woche fing besonders gut für ihn an. Seit sechs Monaten leitete er damals die Anklagebehörde des vom UN-Sicherheitsrats 1993 eingesetzten Jugoslawientribunals. Seine Vorgängerin Carla del Ponte war als erfolgreiche Jägerin von Kriegsverbrechern jahrelang weltweit das Gesicht des Tribunals gewesen. Und nun, an jenem 21. Juli 2008, sollte auch ihrem Nachfolger Brammertz ein erster Riesencoup gelingen.
„Morgens bekam ich einen Anruf aus dem Büro des serbischen Präsidenten Boris Tadić. Sein Kabinettschef kündigte an, dass heute etwas Großes passieren würde. Er nannte keine Details, nur so viel: die ‚Aktion Doktor Dabić’ rolle an, und der Kabinettschef fragte, ob er sofort im Regierungsflieger von Belgrad zu mir nach Den Haag kommen könne“, erinnert sich Brammertz. Am Nachmittag dann griff in Belgrad die serbische Geheimpolizei in einem Bus der Linie 83 zu und holte einen Mann aus dem Fahrzeug, der mit weißem Rauschebart und einem mit einer Spange unter dem Panamahut zusammengebundenen Pferdeschwanz wie ein alt gewordener Hippie aussah: Dr. Dragan Dabić. Er lebte unauffällig in einer Mietwohnung in der Juri-Gagarin-Straße in Belgrad, verstand sich als Heiler und New-Age-Guru.
Die Festnahme von Dr. Radovan Karadžić
1.800 Kilometer nordwestlich von Belgrad, in Den Haag, rief Serge Brammertz in diesem Moment seine engsten Mitarbeiter zusammen – Staatsanwälte aus aller Herren Länder, die für das Tribunal arbeiteten. Er berief sie für den Abend zu sich ins Büro. Bei Pizza aus dem Pappkarton warteten sie rund um den großen Konferenztisch gespannt, dass es 21 Uhr werden würde. Um die Zeit hatte sich der serbische Präsident Tadić telefonisch angekündigt. Als das Telefon klingelte, stellte Brammertz auf laut. Alle sollten es hören: Ein DNA-Test hatte zweifelsfrei ergeben, dass Dr. Dragan Dabić in Wahrheit Dr. Radovan Karadžić war, einer der größten Verbrecher des Bosnien-Kriegs Mitte der 1990er-Jahre. Als Präsident der Republika Srpska in Bosnien-Herzegowina von 1992 bis 1995 war der promovierte Psychiater für ethnische Säuberungen, Massaker und die Terrorisierung der Menschen in Sarajevo verantwortlich. Damals trug er seine Haare so verrückt wie ein romantischer Dichter und versuchte seine Umgebung durch großspuriges Auftreten zu beeindrucken. Karadžić und sein Armeechef Ratko Mladić waren jahrelang die feixenden Fratzen dieses bis dahin schlimmsten Krieges in Europa seit 1945.
„Als wir hörten, dass den serbischen Behörden die Festnahme Karadžić gelungen war, fielen wir uns in die Arme“, erzählt Brammertz. „Zum Teil hatten meine Kollegen 15 Jahre lang auf diesen Tag hingearbeitet, und nun war er gekommen.“ Ein weiterer Erfolg gelang Brammertz’ Team im Mai 2011, als ebenfalls in Serbien Ratko Mladić festgenommen wurde. Beide, Karadžić und Mladić, sind inzwischen rechtskräftig zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Zuletzt hatte im Juni 2021 die Berufungsinstanz des Tribunals das Urteil gegen den „Schlächter Bosniens“, wie Mladić genannt wird, bestätigt.
Die Arbeit des Jugoslawientribunals ist bereits 2017 zu Ende gegangen, da lief das Berufungsverfahren gegen Mladić noch. Die Vereinten Nationen hatten aber eine Nachfolgeorganisation geschaffen und die Tätigkeiten des Jugoslawien- und des Ruandatribunals zusammengelegt. Serge Brammertz übernahm für beide Behörden die Funktion des Chefanklägers. Weil er seitdem auch für Ruanda zuständig ist, hat er ein zweites Büro in Arusha und pendelt zwischen Den Haag und der Stadt im Norden Tansanias.
Aufarbeitung ist noch nicht beendet
Im Haus an der Churchillplein 1 in Den Haag ist es in den vergangenen Jahren stiller geworden. Wo einst 500 Menschen für die Anklagebehörde arbeiteten, sind es jetzt noch 50. „Aktuell laufen noch die Anhörungen in den Berufungsverfahren gegen Jovica Stanišić und Franko Simatović, führende Köpfe des bosnisch-serbischen Nachrichtendienstes“, sagt Brammertz. „Sie waren wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt und wurden zu je zwölf Jahren Haft verurteilt. Den abschließenden Richterspruch erwarten wir für 2023, dann sind alle Hauptverfahren abgeschlossen.“
Damit ist die Aufarbeitung des Jugoslawienkriegs aber nicht beendet, da noch mehr als 50 Verurteilte ihre Strafe absitzen, Zeugenschutzprogramme laufen und nationale Justizverwaltungen um Unterstützung bitten. Allein in Bosnien sind Hunderte Verfahren gegen rund 3.000 mutmaßliche Kriegsverbrecher anhängig. „Wir bekommen jedes Jahr etwa 300 Rechtshilfeersuchen von den Strafverfolgungsbehörden der Staaten des ehemaligen Jugoslawien“, sagt Brammertz und verweist auf die weltweit einzigartige Datenbank in seinem Haus. „Wir verfügen über zehn Millionen Seiten Dokumente, Videos, Audioaufzeichnungen, forensische Gutachten – es ist die größte Datensammlung der Welt zu Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien.“
Die Arbeit geht also weiter, auch wenn sie sich verändert hat, weil man die „großen Fische“ inzwischen alle geschnappt hat. Die nachrangigen Kriegsverbrecher, soweit sie gefasst worden sind, müssen sich in Bosnien und den Nachbarländern verantworten. Immerhin ist Brammertz im Mai 2020 als Ruanda-Chefankläger noch einmal ein Coup gelungen, als seine Ermittlungen zur Ergreifung von Félicien Kabuga führten, einem der meistgesuchten mutmaßlichen Kriegsverbrecher aus Ruanda. Der lebte – ähnlich wie Karadžić seinerzeit in Belgrad – unter falscher Identität in der Nähe von Paris.
„Wir verfolgen Einzeltäter“
Brammertz ist nach wie vor regelmäßig in Bosnien unterwegs. Im Frühjahr hatte er in Srebrenica wieder einmal eine der „Mütter von Srebrenica“, Munira Subašić, getroffen. Das Schicksal dieser Frauen, die Söhne, Ehemänner und Brüder beim Srebrenica-Massaker durch die bosnischen Serben verloren haben, bewegt Brammertz. Er empfindet es als einen Skandal, wenn das größte Massaker in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg, geleugnet wird. Im August 2022 hatte die Journalistin Melina Borčak dem öffentlich-rechtlichen Südwestrundfunk genau das vorgeworfen. Der Sender hatte in einer Folge des Podcasts „Sack Reis“ „in 41 Minuten 70 faktische Fehler“ zu verantworten, wie Borčak auf Twitter schrieb, darunter eine Verharmlosung des Genozids an den bosnischen Muslimen.
Brammertz: „Wir haben erdrückende Beweise für den Massenmord, es gibt keinen Zweifel, dass es ein Völkermord war.“ Was ihn besonders ärgert: „Angeklagte haben immer behauptet, dass sie hier vor dem Tribunal ihr Volk vertreten. Das ist falsch. Wir haben immer wieder deutlich gemacht, dass keine Bevölkerungsgruppe gerichtlich verfolgt wird, sondern ausschließlich Einzelpersonen für ihre individuell begangenen Verbrechen.“
Das Tribunal ist ein Strafgericht
Noch schlimmer als das herablassende Auftreten mancher Angeklagten ist für Brammertz die Heldenverehrung in ihrer Heimat. „Helden sind Menschen, die andere Menschen gerettet haben oder die heldenhaft gekämpft haben. Helden kommen nicht vor Gericht, sondern Verbrecher kommen vor Gericht. Wer hier angeklagt wurde, stand nicht vor Gericht, weil er mutig gekämpft hat, sondern weil er Gefangene exekutiert hat, Frauen vergewaltigen ließ, zivile Gebäude zerstört und massenhaft Menschen vertrieben hat.“ Und der Chefankläger fügt hinzu: „Helden sind für mich nicht zuletzt diejenigen Mütter und Ehefrauen, die vor unserem Gericht gegen die Schergen aussagten, auch wenn sie selbst keine materiellen Entschädigungen zu erwarten haben.“ Denn das Tribunal ist ein Strafgericht; Entschädigungen an die Opfer spricht es nicht zu. Dazu müssen diese die Zivilgerichte bemühen.
Brammertz weist auf ein großformatiges Buch, das stets auf seinem Besprechungstisch liegt. Es ist ein Bildband, der von Eltern zusammengestellt wurde, deren Kinder in Sarajevo von bosnisch-serbischen Heckenschützen ermordet worden sind. Manche der Fotos sind schwer zu ertragen. „Ich zeige dieses Buch Besuchern, die mir erklären wollen, dass es Zeit sei, die Sache endlich ruhen zu lassen.“ Was er wirklich bedauere, so sagt er, sei, dass man nicht all diesen Verbrechen gleichermaßen gerecht werden könne. Man müsse als Ankläger entscheiden, welchen Verbrechen man nachgeht und welche man weglässt. Brammertz erläutert das an einem Beispiel: „Wenn wir ein Dorf haben, in dem hundert Menschen ermordet worden sind, wir dafür aber über nicht ausreichend Beweise verfügen, die uns in die Nähe einer unserer Beschuldigten bringen, nützt uns das nichts. Dann kann ein anderes Verbrechen mit weitaus weniger Opfern, aber besseren Beweisen zielführender sein.“
Im Fall des früheren serbischen und jugoslawischen Präsidenten Slobodan Milošević, der 2001 verhaftet und nach Den Haag überstellt worden war – es war der größte Erfolg von Brammertz’ Vorgängerin Carla del Ponte – war die Anklageschrift derart lang, dauerte das Verfahren derart lang, dass der Angeklagte darüber 2006 verstarb. „Bei Karadžić war die größte Herausforderung, die Anklageschrift auf fast die Hälfte zu reduzieren. Ich habe Stunden mit Opfern verbracht, um ihnen zu erklären, warum wir Verbrechen in dem einen Dorf anklagen, Verbrechen in einem anderen Dorf aber nicht. Das ist für die Menschen oft nur schwer zu verstehen, denn jedes Opfer verlangt vollkommen zu Recht Sühne für das erlittene Leid“, so Brammertz.
Brammertz, der Ausnahmejurist
Brammertz vergräbt sich gern in Akten, recherchiert akribisch, fügt Fakten zusammen, befragt Menschen. In Belgien machte er rasch Karriere als Staatsanwalt. Eines Tages wurde der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag auf den Enddreißiger aufmerksam; er suchte einen Stellvertreter. Brammertz setzte sich gegen 130 Mitbewerber durch. Seine Ermittlungen für den Haager Strafgerichtshof führten ihn in den Kongo und nach Uganda. Ende 2005 erreichte ihn ein Anruf des UN-Generalsekretärs Kofi Annan, der ihn bat, das Attentat auf den libanesischen Ex-Ministerpräsidenten Rafiq al-Hariri zu untersuchen. Aus den geplanten sechs Monaten in Beirut wurden zwei Jahre. Dann bot ihm UN-Generalsekretär Ban Ki-moon die Nachfolge Carla del Pontes als Chefankläger des Jugoslawientribunals an. Den Job macht Brammertz nun seit 2008. Alle zwei Jahre verlängert der UN-Sicherheitsrat sein Mandat, zuletzt im Juni dieses Jahres. Im April 2014 wurde Brammertz durch den belgischen König Philippe in den Adelsstand erhoben, sein Titel ist der eines Barons.
In Bosnien sieht der Chefankläger augenblicklich die gespannteste Lage seit vielen Jahren. „Um Versöhnung zu ermöglichen, muss man sich darüber einigen, wer Verbrechen begangen hat. Erst wenn die Menschen ein gemeinsames Verständnis von der Vergangenheit haben, können sie gemeinsam in die Zukunft blicken.“ Dass in den 1990er-Jahren die Tribunale für Jugoslawien und Ruanda eingerichtet werden konnten, sieht er als Glücksfall an. Damals, nach dem Ende des Kalten Kriegs, standen die globalen Zeichen auf Zusammenarbeit. Weitere Tribunale gab es für Sierra Leone, Kambodscha und den Libanon. Doch von einer Weltjustiz ist die Menschheit weit entfernt. Kein Gericht hat eine weltweit reichende Macht. Nicht einmal der Internationale Strafgerichtshof ist von allen Staaten ratifiziert worden. Ob ein neues Tribunal für aktuelle Konflikte geschaffen wird? Brammertz ist skeptisch. „Dafür müssen sich in den UN Mehrheiten finden. Das ist heute schwieriger geworden als vor 30 Jahren.“
Kurzbiografie
Serge Brammertz wurde 1962 in Eupen im deutschsprachigen Ostbelgien geboren. Er wuchs zweisprachig deutsch und französisch auf. Brammertz studierte in Löwen Jura und in Lüttich Kriminologie. In Freiburg im Breisgau wurde er mit einer Arbeit über grenzüberschreitende polizeiliche Zusammenarbeit zum Dr. jur. promoviert. Am Tag seines 26. Geburtstags bewarb sich Brammertz in seiner Heimatstadt Eupen auf eine Staatsanwalts-stelle und bekam diese. Damit begann ein geradezu kometenhafter Aufstieg, der ihn auf den Posten des höchsten belgischen Staatsanwalts führte. Seit 2003 steht der heute 60-Jährige in Diensten der Vereinten Nationen. Er arbeitet von Den Haag und Arusha (Tansania) aus.