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In Europas Hinterland

Im Sahel entscheidet sich womöglich das Schicksal Europas. Die Bevölkerung dort wächst rasant. Viele Menschen machen sich illegal auf den Weg nach Europa. Internationale Polizei- und Militärmissionen sollen helfen, das zu verhindern. Islamisten breiten sich aus, die Organisierte Kriminalität grassiert, Moskaus Einfluss wächst. Sicherheitspartner der Zukunft für den Westen ist Niger - eine der wenigen halbwegs funktionierenden Demokratien in der Region.

Im Flüchtlingslager Hippodrome am Rande von Nigers Hauptstadt Niamey leben Menschen in Zelten aus Plastikplanen. Die Kinder sind dennoch fröhlich – sie kennen es nicht anders.

Foto: Stephan Pramme

  • Von André Uzulis (Text) und Stephan Pramme (Fotos)
  • 09.05.2023
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loyalMalinigersahel

Elisabeth Haritchelhar ist eine Polizistin, der man im Zweifel besser nicht widerspricht. Die Französin ist ebenso freundlich wie durchsetzungsstark. Nimmt sie jemanden fest, liegt der Verdächtige schneller mit Handschellen auf dem Boden, als er denken kann. Elisabeth wird hier von allen geduzt, und alle haben Respekt vor ihr. Alle: Das sind ein Dutzend junger Polizisten aus dem Niger, die sich von der Französin Festnahmetechniken zeigen lassen.

Die heiße Luft steht im Judosaal der Alliance Française in Agadez am Rande der Sahara. Das französische Kulturinstitut ist an diesem Vormittag Ausbildungsstätte für den nigrischen Polizistennachwuchs. Sie kommen aus Diffa im Südosten Nigers an der Grenze zu Nigeria. Diffa ist immer wieder Ziel islamistischer Boko-Haram-Terroristen aus dem Nachbarland. Polizisten haben es dort schwer. Deshalb muss jeder Handgriff sitzen, wenn es darauf ankommt. Dafür ist Elisabeth genau die Richtige. Sie zeigt ihren Schützlingen, wie das geht: eine Hand an den Oberkörper des Verdächtigen, die andere an den Arm, diesen rasch gedreht, das Gegenüber zu Boden gedrückt, ehe es sich wehren kann, Handschellen angelegt, dann aufrichten und nach Waffen durchsuchen. Das Prozedere dauert keine 30 Sekunden. Elisabeth macht es vor. So schnell lagen die jungen nigrischen Uniformierten, hier ist keiner älter als 25, noch nie am Boden. Dann dürfen die Schüler selber buchstäblich Hand an ihre Kameraden anlegen. Erst mimt der eine den Polizisten und der Kollege den Bösewicht, dann wird gewechselt. Den ganzen Vormittag geht das so.

„Mir macht das Ausbilden große Freude“, sagt Elisabeth in einer Übungspause. „Die Jungs hier sind alle supernett und dankbar. Wir verstehen uns.“ Sie ist schon lange in dieser Stadt, in der die Häuser aus Lehm und die Straßen aus dem roten Sand der Erde sind. Der puderfeine Staub des Laterits, ein Verwitterungsgestein, dringt durch alle Ritzen. Bald muss sie wieder zurück nach Frankreich. Elisabeth ist Offizierin der französischen Nationalpolizei, und für die wirft ein Großereignis seine Schatten voraus: die Olympischen Spiele in Paris im nächsten Jahr. Ganz sicher, dass da Polizisten von der Zugriffskraft einer Elisabeth Haritchelhar gebraucht werden. Ihre nigrischen Schützlinge werden ihre Mentorin vermissen.

Im Judoraum des französischen Kulturinstituts Alliance Française in der Stadt Agadez trainieren junge nigrische Polizisten Festnahmen. Ihre Mentorin ist die französische Polizistin Elisabeth Haritchelhar. Die Uniformierten kommen aus Diffa im Süden Nigers – einem Hotspot des Terrorismus, mit dem sie in ihrem Dienst tagtäglich zu tun haben.

Agadez liegt fast in der Mitte des Niger, hat offiziell 200.000 Einwohner, inoffiziell sind es wahrscheinlich 50 Prozent mehr. Die historische Moschee im Zentrum mit dem vor bald 500 Jahren gebauten, unverwechselbaren Minarett ist Wahrzeichen des ganzen Landes und Weltkulturerbe. Früher orientierten sich die Karawanen an der weithin sichtbaren Landmarke wie Schiffe an einem Leuchtturm. Der deutsche Afrikaforscher Heinrich Barth erreichte 1850 die Stadt und war der Erste, der sie wissenschaftlich beschrieb. Noch heute gibt es ein Barth-Haus in Agadez, noch immer wird der Hamburger Fleischersohn hier verehrt.

Weit weg von allem Guten, nicht aber von allem Bösen

Die Region, die von der gleichnamigen Stadt Agadez aus verwaltet wird, ist halb so groß wie der Niger selbst und knapp doppelt so groß wie Deutschland, aber praktisch menschenleer. Die Grenzen zu den Nachbarstaaten Mali, Algerien, Libyen und Tschad sind 1.900 Kilometer lang und weitgehend unmarkiert. Bis zum Mittelmeer sind es 2.800 Kilometer, zum Atlantik gut 3.000 Kilometer, das ist in etwa so viel wie von Berlin bis nach Lissabon. Dazwischen: Sand. Agadez ist weit weg von allem Guten, nicht aber von allem Bösen. In der Region kriselt es.

Eigentlich könnte Agadez ein touristischer Höhepunkt sein, es gibt Hotels und einen Flughafen, der regelmäßig von Niamey aus angeflogen wird, auch wenn das Flughafengebäude nicht größer ist als der Bahnhof von Bad Gandersheim. Immerhin. Südlich des „Aéroport International Mano Dayak“ haben die Red Horses, die technische Einheit der US-Air Force, 2019 einen Militärflugplatz gebaut. Von dort starten die Amerikaner Drohnen, die das gesamte zentrale und östliche Afrika und darüber hinaus überwachen, bis in den Jemen hinein.

Landschaft bei Agadez. Auf dem Landweg kommt man dorthin nur mit Sondergenehmigung und bewaffneter Eskorte. Reisen im Niger ist gefährlich.

Doch Touristen sind praktisch keine zu sehen. Wir treffen einen polnischen Architekten, der sich für die traditionelle Lehmarchitektur interessiert, mehr nicht. Die Gegend gilt als gefährlich wegen sich überlappender krimineller Phänomene: Waffen- und Drogenschmuggel, Islamismus, Schlepperbanden, Organisierte Kriminalität. Auf dem Landweg kommt man aus der 750 Kilometer entfernten Hauptstadt Niamey nur mit Sondergenehmigung und bewaffneter Eskorte nach Agadez. Sowohl in Niamey als auch am Stadtrand von Agadez sind Checkpoints eingerichtet, die den Verkehr kontrollieren.

Ausbildung nigrischer Sicherheitskräfte

An einer der staubigen Laterit-Straßen ohne Namen in Agadez, aber mit Schlaglöchern liegt die Außenstelle der europäischen Polizeimission EUCAP. Die Abkürzung steht für European Union Capacity Building Mission, es geht um den Ausbau von Fähigkeiten im Sicherheitsbereich. Die EUCAP-Leute wollen nicht gerne auf eine reine Polizeimission reduziert werden, die Ausbildung nigrischer Polizisten macht aber einen wichtigen Teil des Aufgabenspektrums aus. EUCAP Sahel Niger, wie die Mission offiziell heißt, wurde 2012 von der Europäischen Union im Rahmen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik ins Leben gerufen. Alle zwei Jahre wird die Mission verlängert, zuletzt im September 2022. Laut Mandat unterstützt EUCAP die nigrischen Sicherheitskräfte beim Aufbau ihrer Fähigkeiten im Kampf gegen Terrorismus, Organisierte Kriminalität sowie bei der Bekämpfung von Schmuggel und Menschenhandel. 130 europäische Experten aus 15 Mitgliedsstaaten der EU sind dazu in den Niger entsandt worden. Sie werden von 80 lokalen Mitarbeitern unterstützt. Ein Fünftel des Personals ist in Agadez stationiert. Die Mission verfügt über einen Etat von aktuell 72 Millionen Euro für zwei Jahre.

In der EUCAP-Außenstelle in Agadez bereitet sich gerade deren stellvertretender Leiter Serge Lucas auf ein Treffen mit lokalen Behörden vor. Ein Routinetermin. Zuvor nimmt er sich Zeit für ein Gespräch mit loyal. Lucas ist Bretone, groß wie ein Hinkelstein in seiner sturmgeprüften Heimat und freundlich wie Ausbilderin Elisabeth Haritchelhar, deren Vorgesetzter er ist. Lucas hat Karriere in der französischen Nationalpolizei gemacht. Sein Dienstgrad lautet Commandant, in Deutschland entspricht das dem Ersten Polizeihauptkommissar. Die Jahre im Niger sind seine letzten im aktiven Dienst, demnächst geht er in den Ruhestand.

Serge Lucas ist stellvertretender Leiter der EUCAP-Außenstelle Agadez. Er betont die Rolle des Dialogs mit der Bevölkerung.

„Wir unterstützen die nigrischen Sicherheitskräfte bei all ihren Aufgaben“, umreißt Lucas den Auftrag von EUCAP in Agadez. Dies reiche von strategischer Beratung bis zu technischer Hilfestellung oder eben auch der Ausbildung von Polizisten, so wie es Elisabeth Haritchelhar tut. Vieles dreht sich aber auch um Menschenrechte und Soft Skills. Ein wichtiger Punkt der EUCAP-Mission ist die Interoperabilität zwischen den verschiedenen Polizeibehörden. In der ehemaligen französischen Kolonie Niger gibt es – wie auch in Frankreich selbst – im Innern drei Sicherheitsbehörden: Nationalpolizei, Gendarmerie und Nationalgarde. Wo die drei früher nebeneinanderhergearbeitet haben, agieren sie jetzt dank EUCAP stärker gemeinsam.

Townhall-Gespräche fördern Vertrauen

Stolz ist Serge Lucas auf ein Format, das sich aus seiner Sicht besonders bewährt hat: Sogenannte Townhall-Gespräche, bei denen Bewohner einzelner Stadtteile in Agadez mit Vertretern der Verwaltung, der Polizei und auch mit Nichtregierungsorganisationen zusammenkommen. „Da sitzen schon mal 300 Menschen im Saal und stellen der Polizei kritische Fragen“, sagt Lucas. Es war ein Gewöhnungsprozess für die Polizisten, die so etwas nicht kannten, aber es habe sich bewährt. „Zwischen Bevölkerung und Polizei herrscht größeres Vertrauen denn je“, stellt Commandant Lucas zufrieden fest.

Das ist auch dringend notwendig, denn wenn der Staat die Menschen nicht auf seiner Seite hat, wird es kaum möglich sein, die Kriminalität zu bekämpfen. Die nigrische Polizei umfasst lediglich 10.500 Mann, die Gendarmerie besteht aus einer Truppe mit 10.000 Angehörigen, und die Nationalgarde bilden 14.200 Uniformierte. Und das in einem Land mit einer Fläche von 1,3 Millionen Quadratkilometern, also rund dreieinhalb Mal so groß wie Deutschland. Aber nur 26 Millionen Einwohner leben hier. Zum Vergleich: Allein in Berlin mit einer Fläche von 890 Quadratkilometern und 3,5 Millionen Einwohnern gibt es mehr als 18.000 Polizisten.

Rhissa Feltou ist Tuareg und trägt täglich die traditionelle Kleidung seiner Ethnie. Er war Bürgermeister von Agadez. Das loyal-Foto entstand auf dem Dach eines Hauses in Agadez in landestypischer Lehmziegel-Architektur.

2016 hat die EUCAP-Außenstelle in Agadez ihre Arbeit aufgenommen, und das hatte einen besonderen Grund. Eingerichtet wurde sie nach dem enormen Ansturm von Flüchtlingen auf Europa im Jahr zuvor. Durch Agadez führt bereits seit Jahrhunderten eine der wichtigen Routen des Transsahara-Handels. In den Jahren vor 2015 war dort der Menschenschmuggel immer weiter angewachsen. 2015 erließ daher das nigrische Parlament ein Gesetz gegen Menschenschmuggel. Und seitdem EUCAP an dem Knotenpunkt am Rande der Sahara präsent ist und die regionalen Sicherheitskräfte unterstützt, ist es für Migranten schwer geworden, durchzukommen. Wer von den Sicherheitsbehörden hinter einer Linie 80 Kilometer nördlich der Stadt aufgegriffen wird und keine Berechtigung für den Aufenthalt dort vorweisen kann, wird zurückgeschickt. Allerdings gibt es nach wie vor Migranten, die sich von hier aus auf den gefährlichen Weg durch die Wüste Richtung Libyen begeben, Europa als gelobtes Land vor Augen. Schlepper schleusen sie heute auf gefährlichen Wegen durch die lebensfeindliche Wüste.

„Das Problem war und ist Libyen“, sagt Rhissa Feltou, der langjährige Bürgermeister von Agadez im Gespräch mit loyal. Er ist Angehöriger des Volks der Tuareg, die etwa zehn Prozent der nigrischen Bevölkerung ausmachen – ein welt- und sprachgewandter Kaufmann. „Aus Libyen kommen Waffen, nach Libyen und dann weiter wollen die Migranten“, erläutert Feltou. Das alles habe seine Stadt viele Jahre lang unsicher gemacht. So unsicher, dass die Touristen wegblieben. Mit der EUCAP ist die Sicherheit zumindest innerhalb der Stadt wieder eingekehrt. „Wir waren ein Knotenpunkt für Migranten und für den Drogenhandel aus Südamerika. Wir wollen wieder ein Knotenpunkt für Touristen werden“, sagt der frühere Bürgermeister. Bis dahin gebe es aber noch viel zu tun, denn die „Unsicherheit lauert draußen in der Fläche“, wie er sagt. „Das flache Land lässt sich nicht so einfach kontrollieren. Unsere Sicherheitskräfte müssen mobiler werden.“

Mobile Kräfte für mehr Präsenz

Mobile Sicherheitskräfte – das ist ein Stichwort für die Leiterin der EUCAP-Mission Antje Pittelkau, Leitende Polizeidirektorin aus Berlin. Seit fünf Jahren schon lebt sie im Niger, war viele Jahre stellvertretende Missionsleiterin und steht seit 2021 an der Spitze von EUCAP Sahel Niger. „Wir haben uns in den vergangenen Jahren massiv weiterentwickelt“, stellt sie im Gespräch mit loyal im EUCAP-Hauptquartier in der Hauptstadt Niamey fest. Damit meint sie vor allem die Mobilen Kräfte, die ihr wichtigstes Projekt sind. EUCAP berät die nigrischen Polizeibehörden seit geraumer Zeit dahingehend, dass sie in der Fläche präsenter werden müssen. „Die Kriminellen sind mobil, also muss es die Polizei auch sein“, sagt Antje Pittelkau. Im Gespräch verhehlt sie ihre Freude darüber nicht, dass Präsident Mohamed Bazoum sie voll und ganz unterstützt. Bazoum war von 2016 bis 2020 nigrischer Innenminister und ist also vom Fach. Der Westen arbeitet gern mit ihm zusammen, weil er seit der Unabhängigkeit des Niger 1960 der erste Präsident des Landes ist, der in einem demokratischen Machtwechsel ins Amt kam. 2021 war das. „Bazoum wollte die mobilen Einheiten der Polizei, er identifiziert sich mit ihnen“, sagt die EUCAP-Chefin.

Durch das Konzept der Mobilen Kräfte hat sich die Wahrnehmung der Mission EUCAP Sahel im Niger geändert. „Es ist ein richtungsweisendes Konzept, das sowohl Erarbeitung als auch Umsetzung komplett in nigrische Hände gibt. Die europäischen Partner begleiten diesen Prozess nur beratend”, erläutert die deutsche Missionschefin. Was sie damit meint, ist nicht weniger als eine Art Systemwechsel: weg von fertigen, in Europa erstellten Plänen, hin zur Vermittlung von Fähigkeiten für die Partner vor Ort, solche Prozessplanung selbst zu gestalten und danach die Ergebnisse auch eigenständig umzusetzen.

Antje Pittelkau ist die Chefin der EUCAP-Mission im Niger. Die Leitende Polizeidirektorin kommt aus Berlin und lebt seit fünf Jahren in der Region. loyal traf sie im EUCAP-Hauptquartier in Niamey.

„Mobil bedeutet, dass die nigrischen Grenzpolizeieinheiten fünf bis zehn Tage hintereinander im Feld unterwegs sein können. Sie haben eine hocheffiziente Ausstattung an Fahrzeugen, 40 pro Einheit mit jeweils 262 Mann. Sie übernachten im Gelände und können ein großes Territorium abdecken“, so Antje Pittelkau. Sechs dieser „Unités mobiles“ gibt es bereits, zwölf sollen es werden. Mobilität der Sicherheitskräfte scheint in der Tat das einzige Rezept zu sein, um der wuchernden Kriminalität Herr zu werden.

Gesamte Region ist ein Pulverfass

Dabei gilt Niger noch als relativ sicher. In den Nachbarländern ist die Situation mehr als prekär. Mali wird seit Jahren von einer toxischen Mischung aus Islamismus und Unabhängigkeitsstreben der Tuareg heimgesucht. Während die Tuareg von ihrem Kampf für einem eigenen Staat namens Azawad inzwischen Abstand genommen haben, sind die Dschihadisten im Norden des Landes stärker denn je. Die malische Putschistenregierung unter Oberst Assimi Goïta kommt gegen sie nicht an. Burkina Faso, unter dem langjährigen Potentaten Blaise Compaoré lange Zeit eine Hoffnung der Demokratie, droht in politisches Chaos abzugleiten. Auch dort ist eine Putschistenregierung an der Macht, die einen islamistischen Aufstand nicht in den Griff bekommt. Im Norden Nigerias wütet die Terrororganisation Boko Haram. Im Tschad zögert der Sohn des von Rebellen getöteten Langzeit-Machthabers Idriss Déby, Mahamat Idriss Déby Itno, die versprochenen Wahlen hinaus. Soeben hat er  den deutschen Botschafter Gordon Kricke des Landes verwiesen – wegen „unhöflicher Haltung“.

Die Region ist ein Pulverfass, und die Lunte glimmt an vielen Orten. Das Analystennetzwerk ACLED (Armed Conflict Location & Event Data Project) registrierte eine Steigerung von Todesopfern politisch motivierter Gewalttaten in Mali von 2021 auf 2022 um 150 Prozent und in Burkina Faso um 77 Prozent. Dagegen nimmt sich die von ACLED im Niger konstatierte Gewalt und das lokale Banditentum relativ beherrschbar aus.

Die Familie von Idrissa Hajara (46, vorn) im Flüchtlingslager Hippodrome am Rande von Niamey. Die Hajaras leben seit drei Jahren in dem Lager – unter prekären hygienischen Verhältnissen.

Niger kommt in der Region für Europa wegen seiner vergleichsweisen Stabilität eine Schlüsselrolle zu, aber auch wegen der so wichtigen Migrationsfrage. Das Bevölkerungswachstum beträgt statistisch gesehen 6,8 Kinder pro Frau und ist das höchste der Welt. Die Vereinten Nationen prognostizieren bis zum Jahr 2100 eine Bevölkerung von 166 Millionen Menschen in Niger gegenüber den 26 Millionen heute. Afrika insgesamt, wo jetzt etwa 1,4 Milliarden Menschen leben, wird in 75 Jahren mit knapp vier Milliarden Einwohnern der bevölkerungsreichste Kontinent der Welt sein. Die traditionell weit verbreitete Migration wird nach Ansicht aller Experten vor allem nach Europa gerichtet sein. Der deutsch-französisch-amerikanische Afrikanist Stephen Smith, Professor an der Duke-Universität in North Carolina, geht davon aus, dass schon 2050 jeder vierte bis jeder dritte Europäer afrikanische Wurzeln haben wird. Sein Buch „Nach Europa. Das junge Afrika auf dem Weg zum alten Kontinent“ beherrschte mit seinen nachdenklich stimmenden Thesen zu den Vorteilen und Risiken der Migration 2018 in Frankreich monatelang die Schlagzeilen, die deutsche Übersetzung wurde hingegen hierzulande weniger stark wahrgenommen.

Niger ist nicht nur aufgrund seiner Bevölkerungsentwicklung Ausgangspunkt von Migration, sondern es ist schon jetzt wichtiges Transitland für Migranten aus dem gesamten westlichen und zentralen Afrika. Praktisch alle bedeutenden Migrationsrouten führen durch das Sahelland. Bis zu 150.000 Menschen durchqueren Jahr für Jahr Niger. Viele zieht es nach Norden, nach Europa, aber es gibt auch eine Ost-West-Migration in Richtung der westafrikanischen Küste. Terrororganisationen wie Al-Qaida oder Boko Haram in den Nachbarländern verschärfen das Problem. Hinzu kommt eine Binnenmigration, die allein schon das Land überfordert – oft ausgelöst durch Kriminalität und den Klimawandel.

Am Rand des Flüchtlingslagers gibt es mehrere Wasserstellen. Aus einem Hochbehälter kann das Wasser in Kanister und Eimer gefüllt werden.

loyal traf im Flüchtlingslager Hippodrome, das seit Jahren in dem weiten Rund der ehemaligen Pferderennbahn von Niamey existiert, die Familie Hajara. Mutter Idrissa Hajara lebt mit sieben Kindern zwischen zwei Monaten und 23 Jahren und einigen Enkelkindern in einem Verschlag aus Plastikplanen inmitten des Lagers. Insgesamt hausen 700 Familien hier unter menschenunwürdigen Bedingungen, jede von ihnen mit fünf bis zehn Kindern. Sanitäre Einrichtungen gibt es nicht. Um ein Loch im Boden wird eine Plastikfolie mit brusthohen Pfosten gezogen – das ist die Toilette. Ist das Loch voll, wird es zugeschüttet und die Toilette ein paar Meter weiter verlegt. Wasser kommt aus Hochbehältern am Rande des Lagers, Hunderte Meter entfernt.

Idrissa Hajara berichtete loyal, dass sie mit ihrer Familie aus dem Süden komme. An der Grenze zu Nigeria hätten sie als Bauern gelebt – bis verheerende Regenfälle vor drei Jahren ihre Felder und ihren Besitz vernichtet haben. Daraufhin zog die Familie, die zum Volk der Hausa gehört, in die Hauptstadt und ist in diesem Camp gelandet. Eine Familie von Zehntausenden im Land, um die sich die Regierung nicht kümmert. Wenn nicht regelmäßig internationale Hilfsorganisationen vorbeikämen und Nahrung verteilten, wüssten sie nicht wohin, sagt die 46-Jährige.

Zu arm für Aufbruch nach Europa

Europa ist für Flüchtlingsfamilien wie die Hajaras kein Ziel. Sie sind zu arm für die weite Reise. Familie Hajara besitzt nicht viel mehr als das, was sie am Leibe trägt. Wer in Richtung Europa aufbricht, kommt in der Regel aus einem gewissen Wohlstand. Etwa 2.600 Euro kostet durchschnittlich der Versuch, die EU zu erreichen. Familien und ganze Dorfgemeinschaften wählen diejenigen sorgfältig aus, die sie auf die Reise schicken, und finanzieren sie – in der Hoffnung, dass der Migrant in Europa lebend ankommt, dort Arbeit findet oder zumindest Sozialleistungen erhält, um die Zurückgebliebenen zu unterstützen.

Niger, das als eines der ärmsten Länder der Welt schon jetzt seine Bevölkerung nur mithilfe der Weltgemeinschaft ernähren kann, dürfte beim Thema Migration in den nächsten Jahren eine noch stärkere Rolle zukommen. Es ist für Europa zum Stabilitätsanker und zu einem der wenigen verlässlichen Partner im Sahel geworden. Niger ist ein junges Land, und Europa setzt auf eine neue, junge Generation von Afrikanern, die die Möglichkeiten ihrer Länder realistisch einschätzen.

Adamou Harouna Hainikoye gehört zu den jungen Intellektuellen im Niger, die für eine bessere Zukunft kämpfen. Der frühere Stipendiat der Konrad-Adenauer-Stiftung sieht Chancen für sein Land in erneuerbaren Energien und im Tourismus. Er setzt auf Kooperation mit Europa.

Einer von ihnen ist Adamou Harouna Hainikoye (30), Altstipendiat der Konrad-Adenauer-Stiftung und einer der führenden Köpfe in der Nachwuchsorganisation der liberalen Partei Moden Lumana, einer von 170 Parteien im Niger. Moden Lumana stellt den Bürgermeister von Niamey und koaliert im Parlament, in dem 19 Parteien sitzen, mit der Partei von Präsident Mohamed Bazoum. Harouna Hainikoye benennt die Probleme in seiner Heimat ohne Umschweife: „Die Mehrheit der Nigrer lebt am Rande des Existenzminimums, wir haben eine viel zu hohe Arbeitslosigkeit, vor allem unter den jungen Leuten. Und die Infrastruktur lässt zu wünschen übrig.“ Gleichzeitig sieht er große Chancen, gerade in der Zusammenarbeit mit Deutschland. „Potenzial gibt es bei der Fläche unseres Landes und der Sonne, die praktisch das ganze Jahr über scheint, insbesondere bei den erneuerbaren Energien. Außerdem könnte der brachliegende Tourismus ein Trumpf sein.“ Leute wie er sind die Hoffnung des Landes: jung, gut ausgebildet, weitblickend, zupackend und mit gehörigem Optimismus ausgestattet.

„Deutschland macht keine Business-Diplomatie“

Die Vorteile des Sahel für Europa sieht auch Mirabell Mayack, in London ansässige Gründerin der African Investment Days für deutsche Mittelständler und Kennerin der Region. Im Gespräch mit loyal beklagt sie aber die Passivität der deutschen Wirtschaft: „Niger hat die jüngste Bevölkerung Afrikas. Es gibt dort unendlich viel zu tun. Aber Deutschland macht dort keine Business-Diplomatie wie die Marokkaner oder die Chinesen. Es ist zudem schwierig für nigrische Geschäftsleute, Visa für Deutschland zu bekommen.“ Mayack rät deutschen Unternehmen, die in Afrika investieren wollen, die hiesige Diversität in den Unternehmen zu nutzen und Menschen für das Afrika-Geschäft auszuwählen, die kulturell Türöffner sein könnten: „In der Elfenbeinküste leben alleine 80.000 Libanesen, die acht Prozent des dortigen Bruttoinlandsprodukts erwirtschaften. Warum nutzen deutsche Unternehmen, die Deutsch-Libanesen beschäftigen, diese Mitarbeiter nicht als Brückenbauer? Die Diversität in Deutschland ist ein einzigartiger Trumpf, um in Afrika Geschäfte zu machen.“

Die Präsidentin der Deutschen Afrikastiftung, Dr. Uschi Eid, fordert eine größere Afrika-Kompetenz in Deutschland. Für die Friedrich-Ebert-Stiftung schrieb sie kürzlich, es müsse „in mehr Expertise bei uns in Politik und Gesellschaft und ganz besonders auch in Wissenschaft und Medien investiert werden“. Überfällig sei eine angewandte Afrika-Forschung, um kommende Entwicklungen besser antizipieren zu können. Nur knapp ein Prozent der weltweiten deutschen Direktinvestitionen entfalle auf Afrika, wovon wiederum zwei Drittel nach Südafrika fließen. Uschi Eid fordert deutsche Unternehmer auf, die „teils übertriebene Risikowahrnehmung zu korrigieren und in Afrika unternehmerische Kooperationen zu suchen“.

Markt in Niamey: Die Säulen der Markthalle symbolisieren die landestypischen Baobab-Bäume. Hier trifft sich täglich Jung und Alt, um die Dinge des täglichen Lebens zu kaufen oder zu verkaufen. Supermärkte gibt es praktisch keine.

Ein Hemmschuh dafür ist im Sahel der Terrorismus. Für Harouna Hainikoye ist er nach der Armut das größte Problem: „Dschihadisten wollen auch im Niger einen islamistischen Staat installieren. Wir haben es mit einem asymmetrischen Krieg zu tun. Die Terroristen schaffen es, sich unter die Bevölkerung zu mischen und unerkannt zu bleiben.“ Der 33.000 Mann starken nigrischen Armee gelingt es ebenso wenig wie der Polizei, Tausende Kilometer Grenze, geschweige denn das gigantische Territorium zu schützen.

Größte Gefahr geht von Mali aus

Sicherheitspolitisch geht für den Niger aktuell die größte Gefahr vom Nachbarland Mali aus. Mehrere UN-Missionen haben vergeblich versucht, Mali zu stabilisieren. Im Mai 2021 putschte sich Oberst Assimi Goïta an die Macht, seitdem verirrt sich das Land immer mehr in einen prorussischen Kurs. Deutschlands umfangreichster Auslandseinsatz, die Beteiligung an der UN-Mission MINUSMA in Mali, hängt seitdem am seidenen Faden. Die Franzosen verließen bereits auf Druck Goïtas nach neun Jahren im August 2022 Mali. Die Deutschen, die einst kamen, um die Franzosen zu unterstützen, blieben zurück und sind inzwischen eher geduldet als erwünscht. Vom Camp Castor aus in der malischen Stadt Gao fahren deutsche Blauhelm-Soldaten lediglich noch in der unmittelbarsten Umgebung Patrouille. Die malische Regierung schikaniert die Bundeswehr, wo es geht. Beispielsweise verbietet sie immer wieder den Einsatz von Aufklärungsdrohnen.

Auch westliche Nichtregierungsorganisationen geraten in Mali immer mehr unter Druck. Seit Januar müssen sie als „ausländische Agenten“ monatlich Berichte über ihre Arbeit und ihre Finanzierung vorlegen. Das Goïta-Regime setzt auf Moskau, insbesondere auf die russische Söldnertruppe Wagner. Nach Schätzung von Diplomaten sind 1.000 bis 2.000 Wagner-Leute in Mali im Einsatz, um die Islamisten zu bekämpfen. Die malische Regierung definierte Zonen für sie, in denen nur sie operieren dürfen. Die Bundeswehr hat dort Zutrittsverbot. Berlin hat den Abzug der Bundeswehr für Mai 2024 beschlossen. Im Bundesverteidigungsministerium heißt es aber, dass Minister Pistorius sich durchaus einen früheren Abzug aus dem Land vorstellen kann. Im grün-geführten Auswärtigen Amt hält man das für keine gute Idee, weil man fürchtet, dass ein vorzeitiger Abzug die Reputation Deutschlands als verlässlicher Partner bei UN-Missionen beschädigen könnte.

Blick auf Niamay, rechts ist der Niger-Fluss zu sehen, die Lebensader des Landes.

Als im Februar bei einer Abstimmung in der UN-Vollversammlung zur Verurteilung des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine Mali als eines der wenigen Länder erstmals mit „Nein“ stimmte und damit aller Welt signalisierte, dass es sich in Putins Lager sieht, war das die vorerst letzte harte Probe für das deutsch-malische Verhältnis. Eigentlich hätte es ein Tropfen sein müssen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Dieser Affront hat Außenministerin Annalena Baerbock nicht von ihrer Haltung gegenüber Mali abbringen können. Sie hält nach wie vor am beschlossenen Bundeswehrabzug im Mai 2024 fest.

Ulf Laessing, Repräsentant der Konrad-Adenauer-Stiftung in Bamako, berichtet im Gespräch mit loyal, dass er selbst in der malischen Hauptstadt inzwischen Wagner-Söldner sieht. Sie erholten sich dort nach ihren Einsätzen im Norden. Der Wagner-Truppe gelingt es jedoch nicht, die Islamisten im Norden wirksam zu bekämpfen – ebenso wenig wie der malischen Armee. Laessing: „Sie können Gebiete zwar zurückerobern, aber nicht halten. Befreite Gebiete hat Mali nicht wieder verwalten können.“ Die Bevölkerung sei von den Russen im Land nicht angetan. „Die Zusammenarbeit mit ihnen hat nichts gebracht. Man hofft hier, dass sich Deutschland weiter in Mali engagiert. In Gao sorgen die Deutschen immerhin noch für ein subjektives Sicherheitsgefühl und sind hoch angesehen“, so der Experte der Adenauer-Stiftung.

Nigrische Militärs schwärmen von der Bundeswehr

Goïtas Hinwendung zu Putin verfolgt der Niger mit Sorge. Weil sich die Lage in Mali  nicht bessert, suchen die Putschisten dort externe Feinde, auf die sie den Zorn ihrer Bevölkerung meinen lenken zu können. Im nigrischen Präsidenten Bazoum hat Oberst Goïta dafür eine Zielscheibe gefunden. Goïta behauptet, Bazoum sei gar kein echter Nigrer. Tatsächlich gehört Bazoum der arabischen Minderheit im Niger an, aber die Anwürfe Goïtas verfangen nicht, im Gegenteil. In Niamey befürchtet man, dass der verkorkste Antiterrorkampf der Malier bald auf dem Rücken der Nigrer ausgetragen werden könnte: Die Sorge ist groß, dass ein Al-Qaida-Ableger oder der Islamische Staat (IS) aus Mali über die Grenze in den Niger einsickert. Die Grenze ist gut 800 Kilometer lang und kaum zu sichern. Immerhin haben die Franzosen zwei Militärbasen dort. Und deutsche Kampfschwimmer aus Eckernförde bildeten bis vor Kurzem mit großem Erfolg nigrische Spezialkräfte aus, was im Niger extrem gut ankam. Nigrische Militärs schwärmen bei jeder Gelegenheit von der Bundeswehr, die bei dieser Mission „Gazelle“ einen nachhaltig positiven Eindruck hinterlassen hat – einen besseren sogar als Belgier oder Kanadier, die ebenfalls auf diesem Gebiet engagiert waren. „Gazelle“ gilt auch in Deutschland als eine der erfolgreichsten militärischen Ausbildungsmissionen im Ausland überhaupt.

Der frühere Tornado-Pilot Oberstleutnant Thomas Emig leitet den Lufttransportstützpunkt der Bundeswehr am Flughafen in Niamey. Rund hundert deutsche Soldaten stellen sicher, dass Kontingentwechsel für die MINUSMA-Mission im malischen Gao reibungslos ablaufen. Das Camp besteht aus klimatisierten Containern und Zelten. Auch ein Betreuungszelt fehlt nicht. (siehe auch Galerie unten)

So wie die Nigrer auf die Bundeswehr setzen, so baut Deutschland seine Militärpräsenz in dem Sahelstaat aus. Der Umschlag an Gütern für das Camp im malischen Gao wurde komplett von Bamako nach Niamey verlegt. Am dortigen Flughafen gibt es seit 2016 einen Lufttransportstützpunkt, über den inzwischen die gesamte Versorgung für Gao abgewickelt wird. Dessen Leiter Oberstleutnant Thomas Emig sagt loyal: „Als Deutsche sind wir im Niger hoch angesehen und können mit den Nigrern auf Augenhöhe kommunizieren. Wir fühlen uns willkommen. Das zeigt sich immer wieder, wenn wir den Stützpunkt verlassen und mit unseren Fahrzeugen, die die deutsche Flagge und darunter den Schriftzug ‚Allemagne‘ tragen, in der Stadt unterwegs sind. Dann begegnet uns viel Freundlichkeit.“

In der Tat werden Deutsche im Land geschätzt. Anders als die Franzosen, so sagen es Nigrer, wüssten die Deutschen nicht alles besser, könnten zuhören und träten bescheidener auf. Nicht viele Straßen in Niamey tragen einen Namen, eine aber – und keine ganz kleine – ist nach dem zweiten Bundespräsidenten Heinrich Lübke benannt, der 1969 bei der Fahrt im offenen Wagen von den Menschen am Straßenrand gefeiert wurde. Beliebt ist auch Altkanzlerin Angela Merkel. Sie besuchte 2019 Bazoums Amtsvorgänger Mahamadou Issoufou, der sie „eine Freundin Afrikas“ nannte. Auch Merkel fand lobende Worte für Issoufou. Ihm war es mithilfe der EU gelungen, die Zahl der Migranten von damals 600.000 pro Jahr auf ein Zehntel zu reduzieren. Vielleicht war die Beziehung zwischen beiden auch so innig, weil beide studierte Physiker sind. Jedenfalls wurde nach Angela Merkel eine Grundschule in Niamey benannt – das gibt es (noch) nicht einmal in Deutschland.

Europa wird den Niger künftig weiterhin stark unterstützen, auch militärisch. Die neue Militärmission EUMPM (European Union Military Partnership Mission) startete im Februar. 60 Soldaten aus Staaten der Europäischen Union sollen der nigrischen Armee beim Aufbau einer Technikschule in Niamey und bei der Fernmelde- und Führungsunterstützung in Téra helfen. Die Bundeswehr ist mit zunächst drei Soldaten dabei. Der erste Kommandeur ist ein Italiener. Er wird 2024 durch einen deutschen Stabsoffizier abgelöst.


„Malis Armee hat ein Allmachtsgefühl“

Die Hintergründe der Gewalt im Sahel sind vielfältig und oft nicht einfach zu verstehen. Das Institute for Security Studies (ISS Africa), das in Pretoria, Addis Abeba, Dakar und Nairobi ansässig ist, betreibt empirische Forschung vor Ort. Lori-Anne Théroux-Bénoni erläutert, was ihr Institut herausgefunden hat.

Es heißt gemeinhin, in Westafrika tobe ein Kampf zwischen gewalttätigem Islamismus und demokratischen Staaten. Stimmt das?
Gängige Meinungen sind oft nicht hilfreich. Andernfalls würden wir nicht beobachten, wie die Sahelkrise vom Südrand der Sahara auf Küstenstaaten übergreift. Lassen Sie mich beide Konzepte dekonstruieren. Aktuelle Staatsstreiche haben gezeigt, dass es typischerweise nur eine demokratische Fassade gab. Nach Wahlen wurde regelmäßig ignoriert, was Wähler wollten. Es gibt keinen echten Gesellschaftsvertrag, der Rechte und Pflichten festschreibt und das Verhältnis vom Staat zu den Bürgern regelte. Im ländlichen Raum ist das Missverhältnis besonders ausgeprägt.

Und was ist mit gewalttätigem Islamismus?
Wir haben vor Ort Hunderte von im Extremismus involvierten Menschen interviewt. Wir haben erfahren, dass einfache Kämpfer und Anführer auf mittleren Rängen aus verschiedenen Gründen mitmachen, aber religiöse Indoktrination kaum eine Rolle spielt. Die Spitzenleute haben eine fundamentalistische Rhetorik, und vielleicht glauben sie auch daran. Glaubensdogmen motivieren aber offensichtlich nicht alle Mitglieder ihrer Organisation.

Was motiviert sie denn?
Verschiedene Dinge. Ein Schlüsselthema ist Schutz. Menschen wollen Sicherheit für sich selbst, ihre Familien, Gemeinschaften und Erwerbstätigkeit. Wenn ein Familienmitglied sich einer bestimmten extremistischen Gruppe anschließt, greift diese die Angehörigen normalerweise nicht an.

Das klingt nach einem mafiösen Schutzsystem.
Ich will darauf hinaus, dass es keinen großen Unterschied zwischen Dschihadisten und anderen bewaffneten Gruppen gibt, ob das nun Rebellen, Mafiabanden oder selbsternannte Bürgerwehren sind. Alle müssen Mitglieder rekrutieren und Material und Geld beschaffen. Die Vorstellung, religiöser Fundamentalismus treibe die extremistische Gewalt an, ließe uns übersehen, dass die Vorgehensweise altbekannt ist. Wir sollten lieber das Szenario als Aufstand betrachten. Die Rekrutierungsmuster sind dieselben. Mobilisiert wird mit lokalen Missständen, die auf mangelhafter Regierungsführung beruhen. Tatsächlich bleiben grundlegende Bedürfnisse vielfach unbefriedigt – von Sicherheit über Infrastruktur zu ökonomischen Chancen und Rechtsstaatlichkeit. Viele Menschen fühlen sich vom Staat vernachlässigt oder im Stich gelassen.

Das Grundproblem ist also die Kluft zwischen Regierenden und Regierten? Das hat kürzlich Vladimir Antwi-Danso von der Streitkräftehochschule Ghanas ähnlich dargestellt.
Wir sehen umfassendes Staatsversagen. Mangels echter Gesellschaftsverträge funktionieren weder Politik noch Justiz noch Wirtschaft – jedenfalls nicht gut genug, um breiten Wohlstand zu ermöglichen. Stattdessen fürchten viele um ihr Leben.

Malische Soldaten bei einer Antiterror-Übung auf dem Trainingsgelände „Ghost City“ in Koulikoro, Mali. (Foto: picture alliance / dpa)

Wie sehen Sie die ökonomischen Bedingungen?
Es heißt ständig, arbeitslose junge Männer schlössen sich den Extremisten an. Das ist nur Teil der Wahrheit. Unsere Forschung zeigt, dass Rekruten bestehende Erwerbstätigkeiten absichern wollen. In Zentralmali beispielsweise ging es einigen um Schutz für die Rinderherden der Familie – und zwar nicht nur vor Viehdieben, sondern auch vor als unfair empfundener Besteuerung. In anderen Fällen sagten uns Gesprächspartner, sie seien Jäger, würden aber als Wilderer bezeichnet. Auch Leute, die verbotenerweise Gold schürfen, suchten Schutz von bewaffneten Extremisten.

Folgt daraus etwas für die Politik?
Selbstverständlich. Projekte, die Jobs schaffen sollen, reichen nicht, wenn Leute unbedroht gewohnten Erwerbstätigkeiten nachgehen wollen. Schutz muss also auf die Agenda, und es wäre auch gut, solche Möglichkeiten noch attraktiver zu machen. Zentral sind der Wunsch nach Sicherheit sowie die Staatsaufgabe, dafür unparteiisch zu sorgen. Das geht nicht nur internationale Organisationen an. Die Führungsrolle fällt nationalen Regierungen zu. Allzu oft greifen Behörden aber zu spät oder auf als ungerecht empfundene Weise ein. Folglich nehmen Frustrationen zu.

Sind Stammes-, Sprach- und Glaubensunterschiede wichtig?
Ja, aber nicht auf grundlegende Weise. Sowohl staatliche Stellen als auch Extremisten nutzen sie manipulativ. Wir sollten uns aber davor hüten, leicht verfügbare Kategorien als Erklärung heranzuziehen. Es gibt nicht nur Konflikte zwischen, sondern auch innerhalb von Gemeinschaften – zum Beispiel um Führungsansprüche.

Welche internationalen Dimensionen gibt es? Die Funken springen von einem Land auf das nächste über.
Es wäre klug, mehr auf internationale Verknüpfungen zu achten. Wir haben zum Beispiel erfahren, dass Motorräder für Angriffe im Grenzgebiet von Mali, Burkina Faso und Niger genutzt wurden, die über Benin aus Nigeria beschafft worden waren. Diese Lieferkette ist lang. Die Extremisten brauchen auch Treibstoff, Munition und Waffen. Sie verdienen Geld mit dem Verkauf von gestohlenem Vieh oder illegal gewonnenem Gold. Bessere staatliche Kontrollen der Handelswege könnten also helfen. Allerdings wäre darauf zu achten, dass nicht neue Frustrationen entstehen. Unser Institut fordert, politische Eingriffe sollen grundsätzlich den örtlichen Bedingungen evidenzbasiert entsprechen. Es geht darum, Feuer zu löschen, nicht anzufachen. Kluges, präventives Staatshandeln sollte Feuer von vornherein verhindern.

Wer ist verantwortlich? Die Regierungen der Wirtschaftsgemeinschaft westafrikanischer Staaten (ECOWAS – Economic Community of West African States) oder die größere Afrikanische Union (AU)?
Die nationalen Regierungen müssen sich ihren Pflichten stellen, und sowohl ECOWAS als auch AU sind relevant. Viel zu lang wurde so getan, als hätte die Sahelzone keine Verbindung zum übrigen Westafrika oder dem ganzen Kontinent. Die Sahelländer werden großenteils immer noch vernachlässigt, dabei reichen einige über die ECOWAS hinaus.

Sehen Sie auch eine Rolle für die UN?
Ja, und das geschieht auch schon. Es gibt die UN-Mission in Mali (MINUSMA) und das UN-Büro für Westafrika und den Sahel (UNOWAS). Die große Sorge ist, Westafrika könnte eine Brutstätte des internationalen Terrorismus werden. Die UN haben eine Rolle zu spielen – und das gilt auch für die EU.

Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) besuchte im April Mali und Niger. Im Camp Castor im malischen Gao sprach er auch mit deutschen Soldaten der MINUSMA-Mission. Die Bundeswehr ist im Land eher geduldet als erwünscht. Im Mai 2024 soll sie abziehen. (Foto: picture alliance / dpa)

Aber in Mali ist der französische Militäreinsatz gescheitert.
Ja, es gab viele Fehler. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass alles von Anfang an schwierig war. 2012 und 2013 wurden verschiedene Handlungsoptionen für ECOWAS und AU diskutiert, aber Washington und London lehnten einen von Afrikanern geleiteten und finanziell von den UN unterstützten Einsatz ab. Alle waren dann überrascht, als im Januar 2013 Separatisten und gewalttätige Extremisten plötzlich bereit schienen, nach Bamako, Malis Hauptstadt, durchzumarschieren. Nach Frankreichs Intervention und Neuwahlen lautete der Kompromiss dann, eine Stabilisierungsmission der UN mit einem französischen Antiterror-Einsatz zu verbinden.

Das hielt aber niemand für optimal?
Nein, es war aber das, worauf sich alle einigen konnten – einschließlich Finanzierung. Die französischen Antiterror-Truppen sollten die Extremisten durch Ausschaltung der Führungsebene eliminieren. Die Schwäche dieses Konzepts ist, dass es an den grundlegenden Missständen, von denen die Extremisten profitieren, nichts ändert. Auf getötete Führungspersönlichkeiten folgen schnell neue. Es wurde zu wenig beachtet, wie die Extremisten rekrutieren, operieren und expandieren. Das war nicht unbedingt die Aufgabe der französischen Truppen, aber es hätte nicht vernachlässigt werden dürfen. Erschwerend kam hinzu, dass sich malische Soldaten von ihren französischen Partnern schlecht behandelt fühlten und postkoloniale Animositäten zunahmen. All das trug zur französischen Abzugsentscheidung bei.

Heißt das, weil es keine militärische Lösung geben kann, ist eine politische nötig?
Es ist geht nicht um Entweder-oder. Militärisches Handeln ist nötig, reicht aber nicht. Es muss mehr geschehen. Vor allem müssen die Bedürfnisse der Menschen beachtet werden, und dafür sind Lösungen erforderlich, die Staatsversagen respektive Politik, Justiz, Sicherheit und Wirtschaft korrigieren.

Wie bewerten Sie die russische Präsenz in Mali?
Es gibt auf allen Seiten viel Propaganda. Das Bild ist nicht klar. Fest steht aber, dass es in Mali seit 2013 große Unzufriedenheit mit Militär- und Sicherheitsarrangements gibt. Dank russischer Unterstützung hat die Armee Malis ein neues Allmachtsgefühl – nicht zuletzt, weil sie nun die seit Langem geforderte Ausrüstung hat, die sie zu Luftüberwachung und Luftangriffen befähigt. Über Menschenrechtsverletzungen hinaus besteht aber das Risiko, dass die Stärkung der Streitkräfte das Militärregime erst recht von den grundlegenden, nicht militärischen Missständen ablenkt, ohne deren Lösung Stabilität unerreichbar bleibt.

Lori-Anne Théroux-Bénoni leitet in Dakar das Regionalbüro für Westafrika, den Sahel und die Tschadsee-Region des ISS Africa. Das Interview führte Hans Dembowski, es erschien kürzlich in der Zeitschrift „Entwicklung und Zusammenarbeit“.

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