Industrie im Wartestand
Der Ukrainekrieg und 100 Milliarden Euro Sondervermögen – eigentlich müssten sich deutsche Rüstungsunternehmen vor Aufträgen der Bundeswehr nicht retten können. Eigentlich.
Wie ausgestorben wirken die ausgebombten Straßenzüge. Auf einer sandigen Straße zwischen den Häuserruinen kommt ein Pick-Up-Truck angefahren. Auf Fingertipp lasert der Enforcer das Ziel an, ein grünes Viereck erscheint über dem Pick-up-Truck. Jetzt heißt es, mit der rechten Hand die Waffe zu entsichern und den Abzug zu drücken. Eine Rakete rast auf das Fahrzeug zu. Einen Augenblick später ist vom Pick-up-Truck nur noch ein Feuerball zu sehen. Diese Szene spielt sich nicht in einem Kriegsgebiet ab, sondern in einem verdunkelten Raum in der Unternehmenszentrale der Rüstungsfirma MBDA in Schrobenhausen in Oberbayern. Die Autorin dieses Beitrags hat dort soeben den Enforcer getestet, ein schultergestütztes Lenkflugkörpersystem. Per Simulator und Virtual-Reality Brille.
Der Enforcer ist eines der neuesten Produkte aus dem Hause MBDA. Soldaten können mit der zwölf Kilo schweren Waffe von der Schulter aus Lenkflugkörper verschießen. Das ist vor allem nützlich, wenn man einen feindlichen Scharfschützen treffen will, der sich hinter einer Mauer versteckt, oder um leicht gepanzerte Fahrzeuge oder Hubschrauber zu zerstören. Die Bundeswehr hat im Jahr 2019 bereits einige hundert Stück des Enforcers für das Heer bestellt. In Schrobenhausen, wo die Produktionshallen des Unternehmens versteckt im Hagenauer Wald liegen, hat MBDA extra für den Enforcer eine neue Fertigungslinie aufgebaut. Noch in diesem Jahr soll die Serienproduktion starten. So viel ist klar. Vieles andere ist aber ganz und gar nicht klar.
Und das hat mit dem Ukrainekrieg zu tun. Drei Tage nach dem russischen Überfall auf die Ukraine hielt Kanzler Olaf Scholz im Februar 2022 seine Rede von der Zeitenwende. Die Bundeswehr brauche „neue, starke Fähigkeiten“, sagte er da zum Beispiel. Und auch, dass Deutschland deutlich mehr in die Sicherheit des Landes investieren müsse. Einige Tage später bekamen die deutschen Rüstungsunternehmen Post vom Verteidigungsministerium. Darin wurden sie aufgefordert, Waffensysteme zu nennen, die sie schnell an die Ukraine und an die Bundeswehr liefern könnten. Wie in anderen Rüstungsunternehmen auch sondierte man bei MBDA innerhalb weniger Tage die Lage im eigenen Unternehmen: Was könne man wie schnell produzieren? Und was aus dem eigenen Portfolio wäre überhaupt im Ukrainekrieg oder für die Landes- und Bündnisverteidigung der Bundeswehr hilfreich? Danach schickte die Geschäftsführung die ausgefüllte Liste zurück ans Verteidigungsministerium. Auf der Liste stand auch der Enforcer, der für zu Fuß kämpfende Soldaten sowohl im Häuserkampf als auch im freien Gelände sinnvoll ist.
Aktiv wurde zu dieser Zeit auch Rheinmetall-Chef Armin Papperger. Er bot der Bundesregierung nur wenige Tage nach der Zeitenwende-Rede des Kanzlers öffentlichkeitswirksam ein 42 Milliarden Euro schweres Produktpaket an. Darin unter anderem: Panzer, Munition und Militärlastwagen. Zwar möchte bei MBDA niemand sagen, was genau im eigenen Angebot an die Bundesregierung stand und wie viel das Produktpaket kosten würde, doch es ist davon auszugehen, dass es etwas kleiner ausfällt als das von Rheinmetall.
MBDA beschäftigt in Deutschland rund 1.200 Mitarbeiter und stellt hauptsächlich Raketen her, die von Kampfjets, Schiffen oder Luftabwehrsystemen abgeschossen werden. Etwa die Meteor, mit der Kampfjets wie der Eurofighter Luftziele bekämpfen können. Oder den Taurus- Marschflugkörper, mit dem Flugzeuge Ziele am Boden angreifen können. MBDA ist auch an der Entwicklung der Software für das monumentale Kampfflugzeug- Zukunftsprojekt FCAS beteiligt, und forscht an Laserwaffen. Der Laser mit dem ein deutsches Kriegsschiff, die Fregatte Sachsen, im vergangenen Herbst zum ersten Mal in der Geschichte der Bundeswehr eine Drohne abschoss, wurde von MBDA entwickelt.
Doch was passierte nun, nachdem MBDA die Liste mit den schnell lieferbaren Produkten ans Verteidigungsministerium geschickt hatte? Nichts. Keine Antwort aus dem Verteidigungsministerium. Ein Jahr danach wartet die Geschäftsführung des Unternehmens immer noch darauf, dass Bestellungen eingehen. Und so wie MBDA geht es vielen deutschen Rüstungsunternehmen.
Firmen sind in Vorleistung gegangen
„Nach der Zeitenwende-Rede des Kanzlers haben die deutschen Rüstungsunternehmen schnell reagiert und gemeldet, was sie liefern können. Viele Firmen sind auch schon in Vorleistung gegangen. Das heißt, sie haben Produktionskapazitäten erhöht, Mitarbeiter eingestellt und Vorprodukte eingekauft“, sagt Dr. Hans Christoph Atzpodien, Hauptgeschäftsführer des Bundesverbands der deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie (BDSV) im Gespräch mit loyal. Die Erhöhung der Kapazitäten, ohne zu wissen, was und wieviel genau bestellt werde, bedeute ein enormes unternehmerisches Risiko für die Unternehmen, so Atzpodien. Doch wie MBDA warten die anderen Rüstungsunternehmen bisher vergeblich auf verbindliche Aussagen der Bundesregierung, was sie nun kaufen möchte. Die Gründe für das Schneckentempo sind vielfältig: langwierige Prozesse innerhalb des Beschaffungsamtes und bei der Haushaltsabstimmung. Dazu kam bis Anfang dieses Jahres eine Ministerin, der die Dringlichkeit der Beschaffungsvorhaben nicht bewusst zu sein schien und die keine Führung bei der Beschleunigung von Prozessen übernehmen wollte.
Auch bei MBDA in Schrobenhausen ging man in Vorleistung und machte sich bereit dazu, mehr als die bereits von der Bundeswehr bestellten Enforcer zu produzieren. Zulieferfirmen wurden angerufen und ausgelotet, ob diese ihre Produkte schneller und in höherer Menge liefern könnten. Komponenten wurden bestellt, Mitarbeiter eingestellt. Doch lange Zeit ist wenig passiert. Erst seit Kurzem dreht sich der Wind. Nachfragen zu den Produkten von MBDA haben zugenommen, der Austausch zwischen Unternehmen und Bundeswehr wurde intensiver. Der Grund für den Wandel: der neue Verteidigungsminister Boris Pistorius.
Dringlichkeit erkannt
Auch Hans Christoph Atzpodien hat Hoffnung, dass sich mit dem neuen Minister etwas ändert. „Ich glaube, Boris Pistorius hat die Dringlichkeit, mit der die Bundeswehr neue Waffensysteme braucht, erkannt“, sagt er. Es scheint tatsächlich so. Immerhin führte Pistorius in den vergangenen Wochen bereits Gespräche mit Vertretern von einzelnen Rüstungsfirmen. Auch kursiert mittlerweile eine Liste mit Gerät, das nachbestellt werden soll, im Verteidigungsministerium: darauf 49 Einzelpositionen, darunter 14 neue Panzerhaubitzen 2000 und 50 gepanzerte Fahrzeuge vom Typ Dingo.
Doch bis die Finanzierung steht und die Produkte bestellt werden, ist es noch ein langer Weg – zumal sich bereits Krach in der Ampelkoalition über die Neuanschaffungen anbahnt. Denn die Nachbeschaffung könnte sehr, sehr teuer werden. Allein der Ersatz der 18 an die Ukraine abgegebenen Leoparden könnte laut Verteidigungsministerium
einen dreistelligen Millionenbetrag kosten. Denn während die Bundesregierung bei der Abgabe der Geräte nur den Abschreibungswert angibt, der mit dem Alter der Geräte sinkt, muss sie bei der Neuanschaffung einen sehr viel höheren Preis an die Industrie zahlen. Das 100-Milliarden-Sondervermögen wird deshalb bei Weitem nicht reichen. Die Wehrbeauftragte des Bundestags, Eva Högl, warf im März den Finanzbedarf von 300 Milliarden Euro in den Raum, um die Bundeswehr ausreichend auszustatten.
Was keiner bestreitet: Die Lücken in der Bundeswehr sind im letzten Jahr gewachsen. Waren sie vor dem Ukrainekrieg schon groß, so sind sie jetzt riesig. Allein 18 Leopard-2-Kampfpanzer werden an die Ukraine abgegeben, 50 gepanzerte Dingo-Fahrzeuge, 14 Panzerhaubitzen 2000 und 20 Brückenlegepanzer Biber. Dazu kommen Unmengen an Munition für die verschiedenen Waffensysteme. Was an die Ukraine geht, fehlt hier für die Ausbildung der Soldaten oder für die Bündnisverpflichtungen der NATO.
Zeit kostet Geld
Neues Gerät wird auch deshalb teuer werden, weil die Bundesregierung so viel Zeit verstreichen lässt. Da ist die Inflation, die im vergangenen Jahr massiv gestiegen ist und auch militärische Güter massiv verteuert. Aber auch der Fakt, dass andere Nationen – hier sind vor allem osteuropäische Staaten zu nennen – schneller waren und massiv Gerät bei deutschen Rüstungsfirmen einkaufen, macht die Produkte für die Bundesregierung teurer, wenn sie denn endlich bestellt. Denn die Deutschen müssen sich dann hinten anstellen und zudem noch damit rechnen, dass die Rüstungsfirmen die Kosten für den Kapazitätsaufbau im Unternehmen bei den Preisen draufschlagen.
Doch eine schnelle Lieferung von militärischem Gerät wird nicht nur durch zähe Beschaffungsvorgänge auf Seiten der Politik und im Beschaffungsamt verhindert. Auch bei der Industrie liegt einiges im Argen. Die Kapazitäten – Werkhallen, Produktionslinien, Maschinen zur Produktion – sind bei den Unternehmen oft nicht mehr für die Massenproduktion von Gütern ausgelegt. Zu lange sparten die verschiedenen Bundesregierungen nach Ende des Kalten Krieges an der Bundeswehr und damit auch an deren Ausrüstung. Gerät wurde, wenn überhaupt, nur noch in kleinen Mengen bestellt. Laut Spiegel wird die Bundeswehr auch mindestens drei Jahre auf Ersatz für die 14 Panzerhaubitzen 2000 warten müssen, die sie an die Ukraine abgegeben hat. Schneller bekommt es der Hersteller KMW nicht hin.
Made in USA
Wenn Länder ein marktverfügbares Waffensystem schnell haben möchten, bestellen viele deshalb doch lieber in den USA. Deren Rüstungsfirmen, die anders als deutsche Firmen Massenproduktion gewohnt sind, bauten in den vergangenen Jahren ihren Weltmarktanteil im Rüstungsexport massiv aus. Laut den neuesten SIPRI-Zahlen erhöhten die USA ihre weltweiten Rüstungsexporte in den vergangenen Jahren um 14 Prozent. Die USA lieferten damit global gesehen 40 Prozent aller Waffen. Auch die deutsche Bundesregierung kauft wichtige Waffensysteme in den USA: Etwa den F-35-Kampfjet von Lockheed Martin als Nachfolger des Tornado oder den schweren Transporthubschrauber CH-47 Chinook von Boeing.
Bezeichnenderweise hat es die Firma MBDA auch einem US-Produkt zu verdanken, dass es in Schrobenhausen in Sachen Geschäftsentwicklung bergauf geht – trotz bisher fehlender neuer Aufträge der Bundeswehr. Seit nunmehr über 30 Jahren kooperiert MBDA mit dem US-Rüstungsriesen Raytheon. Die gemeinsamen Firma COMLOG wartet und modernisiert Raketen für das Patriot-Flugabwehrsystem. Jetzt arbeitet das Unternehmen an einer neuen Patriot-Produktionslinie in Schrobenhausen. Es wäre die einzige außerhalb der USA. Denn das Patriot-Flugabwehrsystem ist im Moment gefragt. Weltweit nutzen 18 Länder, davon acht in Europa, die Abwehrraketen gegen feindliche Flugzeuge, Raketen oder Drohnen. Deutschland besitzt zwölf Patriot-Flugabwehrstaffeln, wovon eine an die Ukraine geht. Die USA geben ebenfalls eine von ihren 15 Stück an die Ukraine. Mit der Patriot kann die Ukraine die Fläche einer Kleinstadt vor Flugzeugen, Marschflugkörpern und Raketen kürzerer Reichweite schützen.
In Schrobenhausen ist man deshalb guter Dinge – auch, weil sich abzeichnet, dass die Firma bei der Wartung und Produktion der britischen Panzerabwehrrakete Brimstone zukünftig eine größere Rolle spielen wird. Dabei hat das Unternehmen in jüngster Zeit durchaus schwere Zeiten erlebt. Vor zwei Jahren kam das Aus für das Taktische Luftverteidigungssystem TLVS, ein Riesenprojekt, mit dem MBDA gemeinsam mit Lockheed Martin die deutsche Luftverteidigung voranbringen wollte. Mehrere Jahre hatten die Unternehmen bereits am TLVS geforscht, bereits über 150 Millionen Euro dafür ausgegeben. Im Jahr 2020 beschloss die Bundesregierung dann, das Projekt nicht weiterzuverfolgen und stattdessen auf modernisierte Varianten des bereits genutzten US-amerikanischen Patriot-Systems zu setzen. Das war ein Schlag für das Unternehmen, das rund 200 Mitarbeiter verabschiedete – ohne betriebsbedingte Kündigungen sondern in sozialverträglichen Programmen und beiderseitigem Einverständnis, wie man in Schrobenhausen betont. Jetzt werden diese Leute wieder gebraucht, einige wurden bereits wieder zurück ins Unternehmen geholt.
Denn MBDA stellt wie andere deutsche Rüstungsunternehmen massiv ein. Im Moment sind auf der Homepage des Unternehmens 91 freie Stellen gelistet. Angesichts von deutschlandweit 1.200 Mitarbeitern eine beträchtliche Zahl. Doch bekommt das Unternehmen genügend Bewerbungen – Stichwort Fachkräftemangel? Günter Abel, Pressesprecher bei MBDA, sagt: Ja. Zwar gebe es massive Konkurrenz zwischen den Arbeitgebern hier in Oberbayern, wo zwischen München, Augsburg und Ingolstadt viele Automobilfirmen und Rüstungsbetriebe ihren Sitz haben. Doch: „Wir bezahlen gut, haben ein angenehmes Betriebsklima, attraktive Homeoffice-Regelungen – und, was für viele ausschlaggebend ist: Wir arbeiten an Rocket Science, also an modernsten Hightechprodukten“, sagt Günter Abel.
Fehlende Planbarkeit
Tatsächlich seien es nicht der Fachkräftemangel oder Probleme mit Lieferketten, die die Rüstungsunternehmen im Moment am meisten umtreiben, sagt auch Hans Christoph Atzpodien, Hauptgeschäftsführer des BDSV: „Es ist die fehlende Planbarkeit.“ Auch bei MBDA könnten sie sich einiges vorstellen: Einen Missile-Hub zum Beispiel, an dem verschiedene von der NATO eingesetzte Raketen gewartet und modernisiert werden. Nötig wäre das. Experten schätzen, dass Munition – wozu auch Raketen zählen – im Wert von 40 Milliarden Euro gebraucht würde, um die Bestände der Bundeswehr wieder aufzufüllen.
Die Not bei der Munition ist enorm. Doch im aktuellen Verteidigungshaushalt für 2023 ist lediglich Munition im Wert von 1,5 Milliarden Euro vorgesehen – ein Tropfen auf den heißen Stein. So schnell wird es wohl mit einem Missile-Hub in Schrobenhausen nichts werden.