Joseph Croitoru hat nach dem 7. Oktober ein Buch über die Hamas geschrieben. Im loyal-Interview fasst er seine Thesen zusammen. Eine davon: Israel kann mit seinem massiven Gegenschlag die Herrschaft der Hamas über Gaza beenden, doch ob das auch das Ende der Hamas sein wird, bleibt fraglich. Croitoru, geboren 1960 in Haifa, ist Historiker, Journalist und Buchautor. 2021 wurde er mit dem Friedenspreis der Geschwister Korn und Gerstenmann-Stiftung ausgezeichnet. Er lebt in der Nähe von Freiburg.
Wie ordnen Sie das Massaker der Hamas an Israelis vom 7. Oktober 2023 ein? Welchen Stellenwert hat diese Tat in der israelisch-palästinensischen Geschichte?
Der flächendeckende Bodenangriff erfolgte in Divisionsgröße und wurde nicht allein von den Qassam-Brigaden der Hamas verübt. Unter den vermutlich mehr als 2.000 Angreifern waren auch die Al-Quds-Brigaden der kleineren, weitgehend vom Iran gesteuerten Organisation Islamischer Dschihad. Beteiligt waren auch noch Angehörige zehn weiterer noch kleinerer Milizen verschiedener palästinensischer Splittergruppen. Als Milizenbündnis überfielen sie rund zehn israelische Militärstützpunkte und 30 Ortschaften. In den Militärbasen kämpften Soldatinnen und Soldaten häufig bis zur letzten Kugel gegen die übermächtigen Angreifer. In den meisten Ortschaften versuchten die lokalen Bereitschaftstrupps, die aus bis zu einem Dutzend Armeeveteranen mit Kampferfahrung bestehen, mit unterschiedlichem Erfolg die Terroristen abzuwehren. Hilfe von anrückenden Kampfeinheiten der israelischen Armee und Spezialeinheiten der Polizei traf erst nach Stunden ein. Das Töten und Massakrieren von mehr als 800 Zivilisten konnte nicht verhindert werden. Bei den Angriffen auf die Militärbasen und den anschließenden Kämpfen starben auch mehr als 300 Angehörige von Armee und Polizei.
Von diesem Schock hat sich Israel bis heute nicht erholt. Der 7. Oktober ist zu einem nationalen Trauma geworden, das durch die Sorge um die verbliebenen Geiseln und die wachsende Zahl an getöteten Soldaten noch verstärkt wird. Hingegen feiert die Hamas den Terrorangriff als größten Sieg in ihrer Geschichte des bewaffneten palästinensischen Widerstands gegen die israelischen Besatzer.
Hat Israel die Ziele seiner Militäraktion im Gazastreifen erreicht?
Das Bedürfnis, rasch zurückzuschlagen, was ja noch während des Terrorangriffs in Form von schweren Luftangriffen erfolgte, führte dazu, dass die Bodentruppen zu früh und zu massiv eingesetzt wurden. Auch mit dem Ergebnis, dass auf das Schicksal von Zivilisten zu wenig Rücksicht genommen wurde. Es mangelte generell an Planung und offensichtlich auch an Aufklärung. Die Armee erlitt schon in den ersten Wochen erhebliche Verluste und war immer wieder überrascht von den Ausmaßen des Tunnelsystems im Gazastreifen, von dem aus die Milizionäre nach wie vor ihren Guerillakrieg führen.
Ist es überhaupt möglich, die Hamas militärisch zu besiegen?
Prinzipiell ja, je nachdem, was man unter einem „Sieg“ versteht. Aber das würde Jahre dauern und eine lange Besetzung des Gebiets erforderlich machen. Israel war allerdings schon als Besatzungsmacht mit der vollständigen Unterdrückung des bewaffneten palästinensischen Widerstands im Gazastreifen gescheitert, als es dort bis 2005 etliche Militärbasen und mehr als 20 Siedlungen unterhielt. Was sicherheitstechnisch in den 1970er-Jahren gelang, wurde später auch deshalb immer schwieriger, weil die Bevölkerung im Gazastreifen rasant gewachsen war. Allein in den letzten zwei Jahrzehnten hat sie sich mehr als verdoppelt.
Wie rekrutiert die Hamas Kämpfer? Warum ist es attraktiv für junge Palästinenser, für die Hamas in den Kampf gegen Israel zu ziehen?
Angehörige der Qassam-Brigaden erhalten ein Monatseinkommen von rund 300 Dollar. Das ist, wenn man bedenkt, dass die Arbeitslosigkeit in Gaza sehr hoch ist, nicht wenig Geld. Höhere Ränge bekommen noch mehr. Die Attraktivität der Hamas hat auch mit ihrer Vorgeschichte in dem Gebiet als Zweig der – ursprünglich ägyptischen – Muslimbruderschaft zu tun. Als soziale und zugleich religiös-fundamentalistische Bewegung ist sie in der konservativ eingestellten Bevölkerung stark verwurzelt. Sie versteht es, ihre islamistische Ideologie mit dem Beharren auf dem bewaffneten Widerstand geschickt zu verbreiten.
Der Gazastreifen, so schreiben Sie, war einst eine blühende Landschaft. Im 19. Jahrhundert wurde von dort Gerste für den Export nach England angebaut – damit britisches Bier daraus gebraut werden konnte. Warum kann sich der Gazastreifen schon seit Langem nicht mehr selbst ernähren und ist auf Hilfslieferungen angewiesen?
Das hat mehrere Gründe, die im Wesentlichen mit dem erwähnten Bevölkerungszuwachs zusammenhängen. Er hatte schon 1948 eine dramatische Wende genommen, als rund 200.000 im arabisch-israelischen Krieg von den Israelis vertriebene und geflohene Palästinenser im Gazastreifen, wo damals nur etwa 70.000 Menschen lebten, Zuflucht fanden. Schon die Ägypter, die das Gebiet bis 1967 besetzt hatten, waren an dessen wirtschaftlicher Entwicklung nicht interessiert, und Israel beanspruchte später für seine Siedlungen einen erheblichen Teil der Anbauflächen. Sie konnten zwar nach dem israelischen Abzug 2005 von palästinensischen Bauern bearbeitet werden, aber für die allgemeine Versorgung reicht das nicht aus.
Israel plant, den Sicherheitsstreifen entlang des Gazastreifens von 300 Meter auf einen Kilometer Breite auszudehnen. Wird das Hamas-Kämpfer wirksam von den Grenzanlagen und damit von einem Eindringen auf israelisches Territorium fernhalten?
Das Planieren eines breiten Streifens entlang der Grenze, der häufig noch breiter wird als ein Kilometer, ist bereits seit Wochen im Gange. Ob er am Ende, wie angekündigt, nur 16 Prozent der Gesamtfläche des Küstengebiets umfassen wird, bleibt abzuwarten. Ein Sicherheitsstreifen allein wird nicht ausreichen. Die israelische Armee wird künftig die Grenzlinie wohl massiv befestigen und dort auch größere Truppenkontingente dauerhaft stationieren müssen. Einen zweiten 7. Oktober wird es nicht geben.
Welche Entwicklung sehen Sie innerhalb der Palästinenser in der kommenden Zeit?
Palästinenserpräsident Mahmud Abbas, Chef der von der Fatah dominierten Autonomiebehörde im Westjordanland, versucht seit 2017 die Hamas-Regierung im Gazastreifen durch massive Sanktionen zu destabilisieren. Der israelische Vernichtungskrieg gegen die Islamisten nützt jetzt auch der Fatah. Denn Abbas will die Zerschlagung der Hamas-Herrschaft in Gaza dazu nutzen, um dort seinerseits die Kontrolle durch die Autonomiebehörde wiederherzustellen. In Washington scheint man zumindest für eine Beteiligung der Autonomiebehörde an einer künftigen Verwaltung des Gazastreifens offen zu sein. Israel lehnt das bislang jedoch kategorisch ab.
Joseph Croitoru
Die Hamas
Herrschaft über Gaza, Krieg gegen Israel
C. H. Beck
223 Seiten
18 Euro
Verlagsseite mit Leseprobe