Die Deutsche Marine in der Zeitenwende: Personalmangel, ein aggressives Russland in der Ostsee und die Modernisierung der Flotte, all das muss bewältigt werden. loyal sprach mit Marineinspekteur Vizeadmiral Jan Christian Kaack über wirksame Rekrutierung, wie Deutschlands KRITIS zur See angegriffen wird und wie die Marine ihre Einsatzfähigkeit und Rüstung verbessern will.
Herr Vizeadmiral Kaack, die Rekrutierung ist das große Problem aller Teilstreitkräfte. In Ihrer Rede „Absicht 2025“ erwähnten Sie „erste, sehr positive Ergebnisse“ bei der Personalgewinnung. Können Sie das spezifizieren?
Wir wollten im vergangenen Jahr zehn Prozent mehr Personal in die Marine reinbringen, wir haben 15 Prozent geschafft. In den wichtigen Verwendungsreihen für den Waffeneinsatz, Navigation, Operationsdienst und Schifftechnik schafften wir teils 300 Prozent Steigerung. Das klingt gewaltig, ist aber in absoluten Zahlen immer noch viel zu wenig, da wir von einem niedrigen Niveau kommen. Deshalb wird es noch dauern, bis sich das in der Truppe als Entlastung bemerkbar macht. Wichtig ist, diesen Aufwuchs zu verstetigen. Qualifizierte Menschen sind essenziell. Auch in Zeiten unbemannter Systeme gilt: nicht Schiffe kämpfen, sondern Menschen.
Was zieht bei der Rekrutierung der Marine?
Was sich auszahlt, ist das Kümmern, die persönliche Ansprache und das Erleben. Unsere Einheiten haben inzwischen niedrigschwellige Kennenlernangebote, wie zum Beispiel eine Woche Praktikum beim U-Bootgeschwader. Wenn die Menschen erst einmal bei uns sind, wenn sie den Zauber der Marine fühlen, dann entscheiden sie sich oft dafür, länger dabeizubleiben. Auch unsere neuen Social-Media-Auftritte helfen dabei. Was gut funktioniert, ist der Talentmagnet Marine. Hier berichten junge Marinesoldatinnen und Marinesoldaten auf ihren eigenen Accounts authentisch über ihre Erlebnisse im Dienstalltag. Da sie natürlich auch in anderen „Bubbles“ unterwegs sind, erreichen wir so Menschen, die vielleicht nicht per se marineaffin sind.
Das heißt, die Triebfeder der verbesserten Rekrutierung ist das Engagement der Verbände und Soldaten, ohne zusätzliche Dienstposten für die Personalgewinnung?
Genau. Unser Ziel ist es, den Menschen in der Marine die Möglichkeit zu geben, auf ihren Ebenen die richtigen Lösungen zu finden. Empowerment würde man auf Neudeutsch sagen. Dazu habe ich beispielsweise auch eine Initiative unter den Verbänden ausgerufen, mehr Praktikantinnen und Praktikanten zu gewinnen – 1.000 junge Frauen und Männer waren das dann in 2024. Das zeigt, dass die Verbände verstanden haben, dass sie selbst zeigen müssen, wie interessant ihre Bereiche sind, und nicht darauf warten, dass ihnen so etwas eine Personalabteilung organisiert. Ich gebe Ihnen nochmal das 1. U-Bootgeschwader als Beispiel. Sie haben gezielt auf TikTok oder auch Snapchat geworben. Potenzielle Interessenten wurden dann direkt und sehr schnell kontaktiert und gezielt zu einem Praktikum eingeladen. Das ist ein irrer zusätzlicher Aufwand, aber er lohnt sich.
Wenn wir von der Gewinnung zur Entwicklung des Personals blicken: Da gibt es seit Kurzem ein „Female Leadership Program Marine“. Was verbirgt sich dahinter?
Das sind talentierte Frauen in noch jungen Offiziersrängen, die unter anderem eine erfahrene Marineoffizierin als Mentorin an die Seite gestellt bekommen. Dahinter steckt die Idee, dass man am meisten durch Zuhören und Zuschauen lernt. Die jungen Führungskräfte begleiten die Erfahrenen im Dienst und können sich Rat holen für die eigene Weiterentwicklung – „Hast du diese oder jene schwierige Situation schon einmal erlebt, und wie bist du damit umgegangen?“. Dazu gibt es noch Coachings. Das Besondere am Programm der Marine ist: Nicht Männer, sondern Frauen mit reicher Führungserfahrung – vom Korvetten- bis Fregattenkapitän – beraten ihre potenziellen Nachfolgerinnen. So soll nach und nach ein Netzwerk entstehen, das hoffentlich auch dafür sorgt, dass wir mehr weibliches Führungspersonal in allen Bereichen bekommen. Wir haben immer noch viel zu wenige Frauen in der Marine und verlieren noch zu viele, zum Beispiel in der Phase, wenn sie Familien gründen. Da ist es sinnvoll, ihnen Role-Models an die Hand zu geben, die das ein oder andere schon selbst durchlebt haben.
Stichwort Familiengründung: Der Hauptkarrierekiller bei Frauen ist, dass sie die Hauptlast von Erziehung und Betreuung der Kinder tragen. Wird das auch mit dem Programm adressiert?
Gleiche Möglichkeiten für Männer und Frauen ist ein Thema, das in der Truppe reift. Die Idee zum Leadership-Programm für Frauen ist dort entstanden. Das ist keine aufgestülpte Anordnung von mir. Frauen in den Streitkräften sind immer noch eine Minderheit. Meine Frau ist ehemalige Soldatin. Wir haben uns damals gesagt: Bis wir mal in die Situation kommen, Kinder zu kriegen – das war mit Ausblick auf zehn Jahre später –, ist die Marine längst so weit, dass das alles geregelt ist. So kam es dann aber nicht. Ich will dazu beitragen, dass wir uns hier verbessern. Wir fangen jetzt mit diesem Mentorinnen-Ansatz an. Dieses Jahr sind wir mit neun Teilnehmerinnen gestartet und ich bin gespannt auf deren Feedback zum Ende des ersten Durchlaufs.

Von der Personalgewinnung zum Militärischen: Der Schutz von Deutschlands maritimer kritischer Infrastruktur wird immer wichtiger. Was beobachtet die Marine?
Wir beobachten russische Forschungsschiffe, die für die Route vom dänischen Skagen nach Sankt Petersburg 300 Tage brauchen, obwohl der normale Transfer nur zehn Tage dauert. Und diese Schiffe bewegen sich stets entlang kritischer Infrastruktur. Wir erleben inzwischen monatlich das Zerstören von Datenkabeln. Wir bemerken den „Verlust“ von Ankern. Wie lange braucht man eigentlich, um zu merken, dass man seinen Anker verliert? Höchstens zehn Sekunden. Solche Anker wiegen bis zu 15 Tonnen. Wenn der mit Kette ausrauscht, fühlt sich das an, als wenn sie mit einem Panzer über den Marktplatz brettern. Wenn dann der Anker über den Meeresboden schleift, ist das wie Autofahren mit platten Reifen. Man kann das aus meiner Sicht nicht nicht bemerken.
Neben dem, was auf See passiert, sehen wir auch Versuche, Marineschiffe zu sabotieren, in der Werft und im Arsenal. Hinzu kommt das Eindringen von Personen in Marinestützpunkte. Das beste Beispiel sind zwei russische „Fischer“, die vor Kurzem in den Stützpunkt Eckernförde hineingefahren sind. Unsere Bewertung dazu ist: Man testet unsere Reaktionsfähigkeit.
Zur Reaktionsfähigkeit: Was kann die neue NATO-Mission ‚Baltic Sentry‘ in der Ostsee leisten?
Diese wird vom neuen Stab Commander Task Force Baltic geführt. Das ist ein Kommando für die NATO, das wir in Rostock zusammen mit unseren Partnern bereitstellen. Das Ziel ist es, die Präsenz der NATO in der östlichen Ostsee zu stärken, die Kommunikation zwischen den Anrainerstaaten zu verbessern und ein umfassendes Lagebild Über- und Unterwasser zu generieren. Dafür sind derzeit über 20 Schiffe, Boote, Flugzeuge und Drohnen im Einsatz. Wir sind mit mehreren Schiffen und einem Seefernaufklärer dabei. Wir zeigen Russland damit: Wir wissen, wo ihr seid und was ihr macht. Ich nenne das „Deterrence by Attribution“ – Abschreckung durch Zuordnung. Der Gegner soll wissen, dass er Störmaßnahmen nicht mehr unerkannt vornehmen kann. Allerdings steigert Russland seit Jahren seine Fähigkeiten für Navigation, Kommunikation und Kampf in der Wassersäule, sprich unter Wasser.
Was unternimmt die Deutsche Marine dagegen?
Wir haben beispielsweise sehr schnell unsere Spezialisten der Minenabwehr bereitgestellt. Diese erkennen sehr genau, was unter Wasser passiert. Dazu kommen noch unsere Taucher. Wir erweitern die Tauchtiefe von 54 auf bis zu 84 Meter – die mittleren Wassertiefen von Nord- und Ostsee. Und wir investieren in ein besseres Lagebild. Dazu nutzen wir ein neues System namens „From Seabed to Space“. Dort bringen wir Überwasserdaten von Küstenradarstationen, Windparks, von unseren Schiffen und Satelliten zusammen. Diese Daten können dann mit einer KI auf Anomalien ausgewertet werden. Zum Beispiel, ob ein Handelsschiff die gängigen Routen verlässt und sich deutschen Windparks nähert. Zudem können wir damit Schiffe von Russlands „Schattentankerflotte“ erkennen. Wir sind noch in der Beta-Version, aber zuversichtlich, dass wir dieses Lagebild in den kommenden Monaten ausweiten und auch den anderen Ostseeanrainern zu Verfügung stellen können.
Mit Blick auf Deutschlands maritime KRITIS plädieren Sie dafür, die Zuständigkeiten zu deren Schutz besser zu ordnen. Wo gibt es Defizite und was sind ihre Vorschläge zur Besserung?
Als Militär wünsche ich mir einen Regelungsrahmen, der zur Bedrohungslage passt. Ich zitiere da mal den Minister: „Was wir nicht gebrauchen können, ist nicht zu wissen, was wir tun dürfen, wenn wir es tun müssen.“ Und das zu jedem Zeitpunkt des Übergangs von Frieden in den Konflikt.

Neben dem neuen Schwerpunkt KRITIS wird auch das Seebataillon der Marine umstrukturiert. Das soll sich auf „maritimen Jagdkampf“ ausrichten. Was verbirgt sich dahinter?
Das Seebataillon der Marine wurde 2014 für den Einsatz im internationalen Krisenmanagement und zur Bündelung spezialisierter maritimer Fähigkeiten aufgestellt. Die verschärfte Bedrohungslage macht es nun erforderlich, Aufgaben und Aufstellung des Verbandes zu überprüfen und klar auf Landes- und Bündnisverteidigung auszurichten. Das Seebataillon soll zukünftig als land- und seebewegliche Infanterie in Küstengewässern und im küstennahen Raum an Land zum Einsatz kommen. Also weg von defensiven Schutz- und Sicherungsaufgaben, hin zu offensiver Gefechtsführung als Teil der Operationen der Marine und zum Schutz verteidigungswichtiger maritimer Infrastruktur. Der maritime Jagdkampf ist dabei ein besonderes Einsatzverfahren für infanteristische Kräfte und zeichnet sich durch kleine, flexible, auf sich gestellte Manöverelemente mit hoher taktischer Mobilität auf dem Wasser aus, die unter anderem „Raids“ durchführen. Das sind rasche Vorstöße, auch hinter feindliche Linien. Das machen Schweden und Finnen ähnlich.
Welche Bewaffnung ist die Grundlage dieser neuen Kampfweise?
Hohe Beweglichkeit auf dem Wasser erfordert kleine Kampfboote. Die jetzige Planung sieht zunächst zehn Boote vor, mit einer Option auf fünf weitere. Dieser Bedarf stammt aber noch aus einer anderen Zeit. Wir prüfen zurzeit den Mehrbedarf. Ich erwarte eine Entscheidung zu Typ, Anzahl und Beschaffung in diesem Jahr.
Stichwort Beschaffung. Sie haben angekündigt, ein „Future Combat Surface System“ bis 2029 einsatzbereit haben zu wollen…
Das wird ein System kompakter, unbemannter Boote, welches wir aus verschiedenen Komponenten zusammenstellen. Ein Beispiel wäre: Eine Einheit trägt Aufklärungssensoren, eine weitere Minen. Wir betrachten auch modulare Lösungen, wie Containeraufsätze, die Kampfdrohnen oder Lenkwaffen aufnehmen können. Denkbar ist, dass wir Varianten nutzen, wie sie sich in der Ukraine bewährt haben. Die Boote des Future Combat Surface System sollen einzeln gesteuert werden können, gemeinsam mit bemannten Einheiten oder auch vernetzt im Schwarm agieren. Wir haben Typen auserkoren und werden sie noch dieses Jahr testen. Zentral dabei ist, wie sie mit unserer Führungssoftware interagieren, die wir bereits haben.
So ein Kampfsystem wird bis 2029 gelingen?
Ich bin sehr zuversichtlich. Wir setzen auf verfügbare Boote für das System, wir fangen nicht mit sogenannten Entwicklungslösungen an. Wir wollen in das Kampfsystem innovative Lösungen integrieren. Dafür haben wir die Testreihe „Operational Experimentation“ – OPEX – gestartet. Im vergangenen Jahr wurde bereits die Unterwasserdrohne „Blue Whale“ getestet, unter anderem für die U-Boot-Abwehr und als Teil unseres Lagebilds „Seabed to Space“. Die Tests haben unsere Erwartungen weit übertroffen. Unsere Position in der Beschaffung ist ganz grundsätzlich: Wir wollen nicht das, was alle Anforderungen übererfüllt – einen „Golden plated Toilet Seat“ wie ich gern zu sagen pflege-, sondern die „Good-Enough“-Lösung. Die unbemannten Boote des Future Combat Surface System werden nicht 40 Jahre im Einsatz bleiben, sondern alle paar Jahre ersetzt.

Ausblick auf das NATO Force Model: Was kommt auf die Marine zu?
Wir erfüllen die bestehenden NATO-Verpflichtungen. Wir binden dabei fast alle Einheiten, haben also kaum Reserven. Das heißt, dass, gerade bei zusätzlichen Aufgaben wie im internationalen Krisenmanagement, eine Priorisierung und Flexibilisierung essenziell ist. Ein Beispiel: Noch vor drei Jahren hatten wir drei Kampfschiffe in drei Operationen im Mittelmeer. Jetzt haben wir noch ein Schiff dort, und die anderen Aufgaben werden mit Alternativen wie Flugzeugen erfüllt. Der zukünftige Bedarf durch die NATO-Verteidigungsplanung wird auf dem NATO-Gipfel im Sommer beschlossen, die Zahlen sind noch vertraulich. Was ich sagen kann: Mit unserer Langfristplanung „Kurs Marine 2035+“ sind wir aus meiner Sicht im Zielfenster. Unser dringendster Fokus liegt aber auf dem „Fight Tonight“.
Das heißt?
Wie wir die Kampfkraft der bestehenden Flotte erhöhen. Nach Analysen von Experten und Geheimdiensten ist Russland spätestens 2029 in der Lage, gegen die NATO militärisch vorzugehen. Deswegen setzen wir auf pragmatische Kampfwertsteigerungen wie beispielsweise das Einrüsten von IRIS-T-Lenkflugkörpern auf den Fregatten F-125. Wir beschaffen kurzfristig Drohnen und optimieren die Instandsetzung. Ziel ist es, bis zum Beginn der kommenden Dekade die Einsatzverfügbarkeit der Flotte bei 66 Prozent zu haben.
Effizienter Flottenbetrieb ist die entscheidende Stellschraube für bessere Einsatzfähigkeit?
So ist es. Wir brauchen folgenden Rhythmus: Eine Einheit ist in voller Einsatzbereitschaft, eine ist in abgestufter Einsatzbereitschaft auf dem Weg und eine dritte ist in der Werft zur Instandsetzung oder in der Ruhephase. Dabei sind eine hinreichende Ersatzteilbevorratung und Instandsetzungskapazitäten essenziell. Wenn Sie wissen, dass Sie sechs Monate auf ein Teil warten müssen, sollten Sie es besser vorrätig haben. Außerdem müssen wir die Standardisierung vorantreiben. Wir können zum Beispiel nicht dutzende unterschiedlicher Radaranlagen betreiben. Die brauchen alle eine eigene Ausbildung, eigene Ersatzteile und Instandsetzung. Das geht besser.
Zum Abschluss: Was ist Ihnen wichtig mit Blick auf die nahe Zukunft?
Klar ist, dass die neue Regierung durch sicherheitspolitisch unruhiges Fahrwasser manövrieren wird. Wir bereiten uns vor und wollen Antworten liefern, wie wir besonders den kurzfristigen Herausforderungen gerecht werden, die sich heute in der Ostsee und in den folgenden Jahren an der Nordflanke der NATO stellen. Allem zugrunde liegend ist eine nachhaltige Finanzierung der Marine. Mit Blick auf das Personal plädiere ich für eine Weiterentwicklung des Wehrdienstes. Das würde unsere Aufwuchsfähigkeit und auch unser Rekrutierungspotenzial erweitern. Speziell für Projekte mit hohem Innovationsgrad, Stichwort OPEX, könnte ich mir mir vorstellen, dass wir ein eigenes Budget erhalten, um solche Vorhaben gezielt zu fördern und sie zügig in die Flotte zu bringen. Wir haben also einiges vor!zt war er Befehlshaber der Flotte und Stellvertreter des Marineinspekteurs.

Zur Person
Vizeadmiral Jan Christian Kaack ist seit 2022 Inspekteur der Deutschen Marine. Der 62-Jährige begann seine militärische Laufbahn 1982 als Schnellbootnavigator. Ende der 1990er-Jahre machte er die Admiralstabsausbildung. Als Kommandant war er unter anderem auf der Fregatte Bayern unterwegs und wurde später Kommandeur der Einsatzflottille 1. Zuletzt war er Befehlshaber der Flotte und Stellvertreter des Marineinspekteurs.