Der Sanitätsdienst der Bundeswehr steht in Zeiten der Landes- und Bündnisverteidigung vor großen Herausforderungen. Wie schaut die zivile Medizin auf die Bundeswehr-Sanität? loyal sprach mit Dr. Klaus Reinhardt, Präsident der Bundesärztekammer und Vorsitzender des Berufsverbands Hartmannbund. Er sagt: Bei der Krisenresilienz des deutschen Gesundheitswesens ist Luft nach oben.
Sie waren 1979/1980 als Wehrpflichtiger bei der Bundeswehr. Hatten Sie damals Erfahrungen mit dem Sanitätsdienst in der Truppe gemacht? Waren es eher gute oder eher schlechte?
In meiner Zeit als Wehrpflichtiger hatte ich kaum Berührungspunkte mit dem Sanitätsdienst. Einmal musste ich mich in zahnmedizinische Behandlung begeben, bei der ich nicht abgeschlossen versorgt werden konnte. Aber das war vor mehr als 40 Jahren. Seitdem hat sich der Sanitätsdienst kontinuierlich weiterentwickelt. Die tiefgreifendste Reform war die Schaffung neuer Führungsstrukturen in einem eigenständigen Organisationsbereich. Die Bündelung sanitätsdienstlicher Kräfte und Mittel unter weitestgehend einheitlicher fachlicher und truppendienstlicher Führung hat die Leistungsfähigkeit des Sanitätsdienstes erheblich gesteigert.
Wie schaut man heute als Arzt, der sein Berufsleben als Zivilist verbracht hat – zumal auch als Verbandspolitiker wie Sie – auf den Sanitätsdienst der Bundeswehr?
Als Präsident der Bundesärztekammer stehe ich im kontinuierlich im Austausch mit den Vertreterinnen und Vertretern des Sanitätsdienstes. Bei allen Unterschieden stehen zivile Medizin und Wehrmedizin vor teilweise ähnlichen Herausforderungen. Vor allem der Fachkräftemangel im ärztlichen Dienst und in der Pflege ist ein echtes Problem, für das wir gemeinsam Lösungen finden müssen. Der Sanitätsdienst ist in verschiedenen Gremien der Bundesärztekammer vertreten. Persönlich schätze ich den Austausch mit Generaloberstabsarzt Dr. Ralf Hoffmann ebenso wie mit seinem Vorgänger Generaloberstabsarzt Dr. Ulrich Baumgärtner.
Welchen Standard hat die medizinische Versorgung in den Streitkräften im Vergleich zur zivilen? Wo liegen die größten Unterschiede?
Die Bundeswehr bringt naturgemäß ein sehr spezifisches Anforderungsprofil mit sich, beispielsweise mit Blick auf Einsatzorte im Ausland, insbesondere in Krisengebieten. Insofern kann sich zwar der Dienst in den Streitkräften deutlich von der ärztlichen Tätigkeit in der zivilen Gesundheitsversorgung unterscheiden, die Standards der medizinischen Versorgung sind aber in beiden Bereichen gleich hoch.
Die ärztlichen Kolleginnen und Kollegen im Sanitätsdienst sind neben der Zugehörigkeit zur Bundeswehr auch Mitglieder der Landesärztekammern. Sie unterliegen deshalb neben den Regularien des Soldatengesetzes und den Vorschriften der Bundeswehr auch berufsrechtlichen Vorgaben. Nehmen Sie zum Beispiel die Regelungen zur Weiter- und Fortbildung sowie die in der Berufsordnung festgeschriebenen Pflichten zur sorgfältigen, patientenorientierten und ethischen Berufsausübung.
Wie attraktiv ist es heute für einen jungen Menschen, der gerne Arzt werden möchte, sich für eine Laufbahn bei der Bundeswehr zu entscheiden?
Die Bundeswehr bietet gute Weiterbildungsmöglichkeiten und ein medizinisch-fachlich hochinteressantes Aufgabengebiet. Zum Beispiel werden aufgrund spezifischer Verletzungsmuster im Einsatz im besonderen Umfang traumatologische Kenntnisse erworben und auch angewendet. Trotzdem lässt sich Ihre Frage nicht pauschal beantworten. Welchen Ausbildungsweg angehende Ärztinnen und Ärzte wählen, ist eine höchst individuelle Entscheidung, bei der persönliche Präferenzen, die jeweiligen Lebensumstände und viele weitere Faktoren eine Rolle spielen. Grundsätzlich sind die Rahmenbedingungen für das Medizinstudium bei der Bundeswehr etwas anders. Es gibt keinen Numerus Clausus, und die Ausbildung wird bezahlt. Im Gegenzug verpflichtet man sich zu einer 17-jährigen Laufbahn als Soldat oder Soldatin und muss damit rechnen, an Auslandseinsätzen teilzunehmen. Dies wird besonders für diejenigen attraktiv sein, die hier auch ihren Weg sehen, sich für den Schutz unserer freiheitlich-demokratischen Grundwerte und unseres Landes einzusetzen. Das ist natürlich eine vollkommen andere Facette des Arztberufs als beispielsweise die Tätigkeit in der eigenen Praxis oder im zivilen Krankenhaus.
![](https://www.reservistenverband.de/wp-content/uploads/2025/02/interview_reinhardt_01_220300814-206x300.jpg)
Hat der Sanitätsdienst durch die jüngsten Reformen in der Bundeswehr eher gewonnen oder eher verloren? Sind Sie zufrieden mit der gefundenen Lösung beim Thema Chief Medical Officer?
Wir standen und stehen mit dem Bundesministerium für Verteidigung im engen Austausch um die zukünftige Struktur des Sanitätsdienstes. Nach unserem Dafürhalten haben sich die bisherigen Verantwortlichkeiten im Sanitätsdienst der Bundeswehr mit einer ärztlichen Leitung bewährt. Wir haben deshalb unter anderem darauf gedrungen, dass auch weiterhin die durchgängige fachliche und organisatorische Führung aller Angehörigen des Sanitätsdienstes durch Ärztinnen und Ärzte sichergestellt ist. Die Ausbringung eines Chief Medical Officer im Bundesministerium der Verteidigung, der dessen Leitung berät, sowie militärischer und fachlicher Vorgesetzter des Sanitätsdienstes der Bundeswehr ist, halte ich für eine sehr gute Lösung. Auch der Deutsche Ärztetag hatte dies im vergangenen Jahr ausdrücklich begrüßt.
Für wie resilient halten Sie den Sanitätsdienst in Zeiten wachsender militärischer Bedrohungen?
Für den Sanitätsdienst der Bundeswehr ist es wichtig, dass er bei der Verteilung des Sondervermögens im Rahmen der sogenannten Zeitenwende ausreichend bedacht wird. Im Sommer letzten Jahres wurden acht aus dem Sondervermögen finanzierte Luftlanderettungszentren an die Truppe übergeben. Bis Ende dieses Jahres sollen 80 neue Sanitätskraftfahrzeuge, also das militärische Pendant zum zivilen Notarzteinsatzwagen, für die Versorgung von Soldatinnen und Soldaten im Einsatz ausgeliefert werden. Das ist gut und richtig investiertes Geld.
Ich denke aber, wir müssen in diesen Zeiten, die von militärischen Konflikten, von humanitären Krisen, Migration und natürlich auch von den Herausforderungen des weltweiten Klimawandels geprägt sind, über die Krisenresilienz des gesamten Gesundheitswesens sprechen. Dazu gehören unter anderem die strukturellen Herausforderungen für den Öffentlichen Gesundheitsdienst, für die Krankenhäuser, für die Praxen, für die Notfallversorgung, für den Rettungsdienst und viele weitere Versorgungsbereiche. Gute Vorbereitung, ausreichende Vorhaltung, klar geregelte Zuständigkeiten und trainierte Abläufe sind grundlegend, um für den Krisenfall gewappnet zu sein. Wir haben diese Fragen zuletzt auf einer Tagung der Bundesärztekammer mit Vertretern des Sanitätsdienstes, der Politik und der Ärzteschaft diskutiert. Mein Eindruck nach dieser Veranstaltung war, dass da noch deutlich Luft nach oben ist.
Wo wäre eine engere Zusammenarbeit zwischen Wehrmedizin und ziviler Medizin in Friedenszeiten notwendig? Und welcher der beiden Bereiche könnte eher von dem anderen profitieren?
Zunächst einmal ist es leider so, dass unser Gesundheitswesen auch in sogenannten Friedenszeiten angesichts internationaler Krisen, Pandemien und regionaler Katastrophenlagen immer wieder vor enorme Herausforderungen gestellt wird. Hier hat sich der Sanitätsdienst der Bundeswehr in den letzten Jahren als verlässlicher Partner des zivilen Gesundheitssystems bewährt. Besonders sichtbar wurde dies in der Corona-Pandemie, als Soldatinnen und Soldaten in den Gesundheitsämtern, auf den Intensivstationen, in den Pflegeheimen und natürlich beim Impfen und Testen gemeinsam mit ihren zivilen Kolleginnen und Kollegen im Einsatz waren. Oder denken Sie daran, wie Luftwaffe und Sanitätsdienst gemeinsam mit zivilen Einsatzkräften Intensivpatienten aus Corona-Hotspots in weniger betroffene Gebiete verlegt haben. Auch die fünf Bundeswehrkrankenhäuser in Deutschland sind fester Bestandteil der Gesundheitsversorgung nicht nur der Soldatinnen und Soldaten, sondern der gesamten Bevölkerung. Um also auf Ihre Frage zurückzukommen: In Friedenszeiten, die immer auch mit Krisen und Katastrophenlagen einhergehen, profitiert das zivile Gesundheitswesen von den Kapazitäten des Sanitätsdienstes. Umgekehrt ist der Sanitätsdienst im Ernstfall auf die enge Zusammenarbeit mit dem zivilen Gesundheitswesen angewiesen. Eine besondere Bedeutung kommt hier insbesondere der Zusammenarbeit mit den berufsgenossenschaftlichen Kliniken zu, die bereits in unterschiedlicher Weise mit den Bundeswehrkrankenhäusern kooperieren, zum Beispiel im Bereich komplexer stationärer Reha für Bundeswehrangehörige.
Gibt es Pläne innerhalb der zivilen Ärzteschaft, wie sie sich im Ernstfall in die Gesamtverteidigung Deutschlands einbringen würde? Wie sähe der Medizinsektor aus, sollte Deutschland von Russland angegriffen werden und sich verteidigen müssen?
Wir können keine Einsatzpläne für den Ernstfall erstellen. Ich sehe es aber als Aufgabe der Ärzteschaft an, mit dafür einzutreten, dass Bund und Länder endlich konkrete Schritte zur Förderung der Krisenresilienz unseres Gesundheitswesens gehen. Dafür stehen wir im engen Austausch mit der Politik und mit den Vertretern des Sanitätsdienstes. Es ist doch so: Für uns alle schien es lange Zeit undenkbar, dass in Europa wieder ein Krieg ausbricht. Umso wichtiger ist es, die neuen Realitäten zu akzeptieren. Ein Angriff von außen wird unwahrscheinlicher, wenn potenzielle Angreifer wissen, dass wir gut vorbereitet sind. Deshalb müssen Strukturen und Prozesse gestärkt werden, die es uns ermöglichen, im Ernstfall schnell und effektiv zu reagieren. Um es konkret zu machen: Nach Schätzungen der Bundeswehr müssten im NATO-Bündnisfall schlimmstenfalls bis zu 1.000 Militärangehörige täglich für eine Krankenhausbehandlung aus dem Einsatzgebiet nach Deutschland gebracht werden. Hinzu kämen sehr wahrscheinlich weitere Herausforderungen für Gesundheitseinrichtungen, wie Migrationswellen und verletzte Zivilisten aus den Kriegsgebieten. Die fünf Bundeswehrkrankenhäuser verfügen maximal über 1.800 Betten, gebraucht würden schlimmstenfalls aber bis zu 10.000 Krankenhausbetten – und das möglicherweise über Monate oder Jahre. Dies lässt sich nur durch eine gut organisierte zivil-militärische Zusammenarbeit stemmen.
Welchen Wunsch haben Sie für den Sanitätsdienst der Bundeswehr?
Der Sanitätsdienst der Bundeswehr genießt national hohes fachliches Ansehen sowie international höchste Reputation. Mein Wunsch ist, dass auch in Zukunft bei Entscheidungen über Ausgestaltung und Finanzierung des Sanitätsdienstes seine besondere Bedeutung für die Einsatzfähigkeit der Truppe und für die zivile Gesundheitsversorgung in Deutschland maßgeblich berücksichtigt wird.
Zur Person
Dr. Klaus Reinhardt ist Facharzt für Allgemeinmedizin mit eigener Praxis in Bielefeld. Seit 2011 ist der heute 64-Jährige Vorsitzender des Hartmannbundes, seit 2019 Präsident der Bundesärztekammer. 2023 wurde er Vorstandsmitglied des Weltärztebundes. Reinhardt stammt aus Bonn. Er studierte dort zunächst Philosophie und Jura, später Medizin in Padua (Italien).