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„Wir wissen, welche Gefahr von Russland ausgeht“




Alda Vanaga ist seit 2022 die Botschafterin der Republik Lettland in Berlin.

Foto: Stephan Pramme

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Lettland ist das etwas stillere der drei baltischen Länder. Während Litauen im Zusammenhang mit der kommenden deutschen Brigade in den Medien präsent ist und Estland eine laute Stimme gegenüber Moskau pflegt, hört man von Lettland weniger. Das Land versteht sich als Mittler und hat der NATO im Übrigen einiges anzubieten. loyal sprach mit Alda Vanaga, der lettischen Botschafterin in Berlin, über ihr Land in Zeiten des russischen Kriegs gegen die Ukraine

Wie ist es aktuell um die Sicherheit in Lettland bestellt angesichts des russischen Angriffskriegs in der Ukraine? Haben die Letten Angst?
Wenn wir in Lettland Angst hätten, müssten wir uns fragen, warum wir der EU und der NATO beigetreten sind. Wir sind Teil des stärksten Verteidigungsbündnisses der Welt. In Lettland kennen wir Russland sehr gut. Russland beziehungsweise die Sowjetunion hatte Lettland 1940 besetzt, die Besatzung dauerte bis 1991. Wir wissen, welche Gefahr von Russland ausgeht. Putin ist unberechenbar.

Unberechenbarkeit des Gegners erschwert die Vorbereitung…
Wir versuchen, uns auf jeden möglichen Fall vorzubereiten. Zum einen können wir uns auf unsere Verbündeten verlassen. Zum anderen investieren wir viel in unsere Verteidigung: aktuell 3,14 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Die Letten wissen, dass Sicherheit zuerst kommt. Um die Selbstverteidigungsfähigkeiten zu stärken, haben wir gemeinsam mit Estland das deutsche Mittelstrecken-Flugabwehrsystem IRIS-T beschafft. Wir machen unsere Gesellschaft widerstandsfähig. Die Regierung stellt leicht verfügbare Informationen zum Zivilschutz bereit. Zum Beispiel gibt es gedruckte Broschüren und Informationen im Internet, wie man die ersten 72 Stunden einer Krise – es muss ja nicht gleich ein Krieg sein – übersteht. Die Menschen in Lettland nehmen das sehr ernst.

Hinzu kommt, dass Lettland in diesem Jahr wieder die Wehrpflicht eingeführt hat. Jeder junge Mann in Lettland muss elf Monate zur Armee. Wie kommt das in der jungen Generation an?
Es hat keine große Diskussion gegeben. Am ehesten wurde die Frage von jungen Frauen gestellt, warum die Wehrpflicht nur für Männer und nicht auch für Frauen gilt. Lettland gilt vielfach als Vorreiter in Sachen Gleichberechtigung. Das hat sich auch in dieser Frage gezeigt. Frauen können bei uns freiwillig zur Armee gehen. Der Dienst in den Streitkräften ist auch für Frauen attraktiv, der weibliche Anteil beträgt 18 Prozent.

Wird die Wehrpflicht auch für Frauen eingeführt, wie es in einigen Medien hieß?
Das ist noch nicht entschieden.

In Deutschland wird wahrgenommen, dass in den baltischen Staaten die Solidarität mit der von Russland überfallenen Ukraine außergewöhnlich groß ist. Woher kommt diese starke Solidarität?
Als Russland die Ukraine überfallen hat, war es für uns sofort klar, dass es auch unser Krieg ist. Ich finde die in Deutschland weit verbreitete Ansicht falsch, das nächste Ziel Russlands könnte „das Baltikum“ sein. Wenn schon, dann ist es die NATO insgesamt. Im sicherheitspolitischen Sinn gibt es kein Baltikum. Wenn Russland das Baltikum angreift, greift es die NATO an und muss mit einer Reaktion der gesamten NATO rechnen. Die in Kaliningrad stationierten russischen Raketen, die möglicherweise mit nuklearem Sprengsatz ausgerüstet sind, sind nicht auf Riga oder Vilnius gerichtet, sondern auf Berlin. Lettland ist nicht stärker gefährdet durch die russische Aggression als Deutschland.

Woher kommt die starke Solidarität Lettland, Estlands und Litauens mit der Ukraine?
Das liegt an den 50 Jahren sowjetischer Besatzung. Ich wurde selbst in der Sowjetunion geboren. Damals hatten wir zwar ein friedliches Leben, jedoch ohne Demokratie und ohne Meinungs- und Reisefreiheit. Für meine Kinder und demnächst Enkelkinder will ich solch einen „Scheinfrieden“ nicht. Für uns heißt es: Nie wieder russische Besatzung! Wenn in Deutschland von einigen gefordert wird, mit Russland über Frieden zu verhandeln, so kann ich nur sagen: Es gab zwar Frieden unter der sowjetischen Besatzung – aber Repressionen, Terror, Deportationen waren Teil dieses sogenannten Friedens.

(Foto: Stephan Pramme)

Wie sieht die Unterstützung Lettlands für die Ukraine aus?
Wir unterstützen die Ukraine finanziell, militärisch, diplomatisch, politisch und moralisch. Wir hatten schon vor dem Überfall Russlands Stinger-Flugabwehrraketen geschickt, die letzten erst einige Tage vor dem Einmarsch Russlands. Mit diesen lettischen Stinger-Raketen wurde der Flughafen von Kyjiv erfolgreich verteidigt. Die Ukrainer erinnern bei fast jedem Treffen mit Letten an diese Begebenheit. Die Stinger sind ja an sich nichts Besonderes, aber sie waren schon vor dem Beginn des Krieges da und waren in dieser ersten Phase des Krieges sehr wirkungsvoll und hilfreich für die Ukraine. Die Russen haben den Flughafen von Kyjiv nie eingenommen. Wir liefern auch weiterhin Waffen und unterstützen mit finanzieller Hilfe. Das dritte Unterstützungspaket dieses Jahr in Höhe von rund 40 Millionen Euro wurde am 11. September von unserer Ministerpräsidentin Siliņa in Kyjiv bekanntgegeben.

In der Bevölkerung wurden sehr viele Spenden gesammelt. Besonders hervorheben möchte ich die Aktion „Twitter-Konvoi“, bei der ein junger Mann lettische Autos für das ukrainische Militär sammelt und in die Ukraine überführt. Mehr als 2.000 privat gespendete Autos sind dabei inzwischen zusammengekommen. Übrigens können in Lettland auch Autos nach einer Trunkenheitsfahrt vom Staat konfisziert werden. Diese beschlagnahmten Autos schicken wir dem ukrainischen Militär. Bis dato sind das mehr als 100 Autos, es sind durchaus auch hochwertige Modelle darunter.

Eine Folge der 50-jährigen sowjetischen Besatzung ist, dass es in Lettland die größte russische Minderheit in den baltischen Staaten gibt. 24 Prozent der 1,8 Millionen Einwohner Lettlands sind Russen, in Riga liegt ihr Anteil sogar bei etwa 35 Prozent. Wie loyal stehen diese Russen zum lettischen Staat?
Von den in Lettland lebenden Russen sind 68 Prozent lettische Staatsbürger. Die russische Minderheit in Lettland ist keine monolithische Gruppe. Es gibt unter ihnen sehr viele lettische Patrioten. Wissen Sie, Riga war die einzige Hauptstadt in Europa, in der 2022 Russen vor der russischen Botschaft gegen den Überfall Russlands auf die Ukraine demonstriert haben. Die Unterstützer Putins machen vielleicht fünf oder sechs Prozent der Bevölkerung in Lettland aus, und das sind nicht nur Russischstämmige.

In Deutschland liest man immer wieder, dass die lettische Regierung das Russische zurückdrängen will. Beispielsweise berichtete die Neue Zürcher Zeitung Anfang des Jahres, dass „Lettland wieder lettisch“ werden soll. Wie weit will die lettische Regierung dabei gehen?
In Lettland ist Lettisch die Landessprache. Die Verbreitung der russischen Sprache ist das Resultat der zwangsweisen Russifizierung durch die Sowjet-union während der 50 Jahre währenden Okkupation Lettlands. Deshalb gab es auch lange Zeit rein russische Schulen. Die waren ein Teil des Problems, warum sich viele Menschen nicht richtig integrieren konnten. Wir haben deshalb das Bildungswesen reformiert. Alle Schulen müssen inzwischen auf Lettisch unterrichten. Russisch wird als Fremdsprache in Schulen angeboten, obwohl die Tendenz ist, dass die junge Generation stattdessen Englisch, Deutsch und Französisch wählt.

Sie hatten eingangs schon erwähnt, wie wichtig die NATO für Lettland ist. Die lettischen Streitkräfte umfassen rund 6.700 Soldaten. Damit lässt sich ein Land von der Größe Niedersachsens und Schleswig-Holsteins – denn so groß ist Lettland im Vergleich – kaum verteidigen. Was hat Lettland der NATO an Fähigkeiten für die gemeinsame Verteidigung anzubieten?
Wir haben nicht nur unsere Streitkräfte, sondern auch einen starken Heimatschutz, die Nationalgarde. Der Dienst in der Nationalgarde ist für viele Menschen hoch attraktiv. Sie umfasst etwa 10.000 Personen. Letten zwischen 18 und 55 Jahren können sich für die Nationalgarde ausbilden lassen und regelmäßig bis zu 30 Tage pro Jahr üben. Auch unsere Außenministerin Baiba Braže geht immer mal wieder für ein Wochenende auf Übung bei der Nationalgarde. Was wir der NATO anbieten, ist unsere Expertise beim Thema „Drohnen“. Wir entwickeln und produzieren Drohnen und sind bei der „Drohnenkoalition“ der NATO für die Ukraine führend. Eine weitere Fähigkeit ist unsere Kompetenz im Umgang mit russischer Desinformation. Nicht umsonst ist das NATO Strategic Communications Centre of Excellence in Riga angesiedelt. Wir zeigen in Lettland, wie eine Gesellschaft russische Fake News und Propaganda erkennen und wie widerstandsfähig sie auf diesem Feld sein kann. Im Bereich Digitalisierung ist Lettland genauso wie Estland an der Spitze. Wir arbeiten eng mit Deutschland zusammen und bieten gern unsere Expertise an.

(Foto: Stephan Pramme)

Die baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen werden aus deutscher Perspektive immer gemeinsam betrachtet. Litauen ist wegen der kommenden deutschen Brigade dort im Fokus, Estland durch seine deutliche Sprache in der Außenpolitik beim Thema Russland. Nur Lettland scheint immer etwas verhalten und im Hintergrund. Wie kommt das?
Wir stimmen uns sehr eng mit Litauen und Estland ab. Es gibt einen baltischen Ministerrat, gemeinsame Treffen der Parlamentarier der drei Länder, Konsultationen der drei Regierungschefs und Präsidenten. In NATO und der EU treten wir mit gemeinsamen Positionen auf, weshalb wir als pragmatische Partner gelten. Ich sehe kein Problem darin, dass wir mit einer Stimme sprechen, übrigens auch nicht, dass Lettland und Litauen manchmal verwechselt werden (lacht)…

Welchem der beiden Nachbarländer stehen Sie näher? Sprachlich sicherlich Litauen, religiös-kulturell wohl Estland? Wobei sich Estland sprachlich wiederum eher nach Finnland orientiert, Litauen historisch gesehen nach Polen…
Uns verbindet mit Estland ein ausgesprochener Pragmatismus; mit Litauen ist es, wie Sie schon sagen, eher die Sprache. Wir sind das Land in der Mitte. Wenn es manchmal unterschiedliche Positionen gibt zwischen Litauen und Estland, was durchaus vorkommt, dann sind wir Letten die Mediatoren.

Welche Rolle spielt Deutschland für Lettland?
Eine ganz wichtige. Die Beziehungen zu Deutschland sind über Jahrhunderte gewachsen. Mein erster Auslandsposten war seinerzeit Bonn. Damals war Deutschland unser Partner Nummer 1, die größte Unterstützung für uns kam aus Deutschland. Das hat sich mit unserem EU-Beitritt ein wenig verändert, da wurde die EU als Ganzes bedeutsamer. Ich möchte als Botschafterin Lettlands in Deutschland die Bande mit Deutschland wieder enger knüpfen. Unser strategisch wichtigster Partner in Europa ist nach wie vor Deutschland.

Was ist Ihr Wunsch in Bezug auf Deutschland?
Ich würde mich freuen, wenn Deutschland seine Führungsrolle in Europa wieder stärker wahrnehmen würde. Ich sehe als Lettin gar keinen Grund, warum Deutschland das politisch, wirtschaftlich und militärisch nicht machen sollte. Es wäre nicht nur für Lettland wichtig, sondern für ganz Europa.


Vita

Alda Vanaga wurde 1971 in Riga geboren, damals noch Hauptstadt der Lettischen Sozialistischen Sowjetrepublik. Sie studierte Jura, wurde Rechtsanwältin und erwarb einen Mastergrad in Völkerrecht. 1992 trat Alda Vanaga
in den Auswärtigen Dienst ihres Heimatlandes ein. Ihre Auslandsstationen waren unter anderem Deutschland, Portugal und Dänemark. Von 2016 bis 2018 war sie stellvertretende Staatssekretärin im lettischen Außenministerium. Seit 2022 ist sie Botschafterin der Republik Lettland in Berlin.

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