Das Multinationale Korps Nordost (MNCNE) mit seinem Hauptquartier in Stettin ist im September 25 Jahre alt geworden. Der NATO-Großverband ist das Schlüsselelement zur Verteidigung des Baltikums und Polens. loyal sprach mit Kommandeur Generalleutnant Jürgen-Joachim von Sandrart über die Rolle seines Korps und was er von der kommenden deutschen Brigade in Litauen hält.
Das Multinationale Korps Nordost ist kürzlich 25 Jahre alt geworden. Welche Bilanz ziehen Sie?
Diese 25 Jahre sind für mich ein Spiegel der jüngeren Geschichte der NATO. Mit der Aufnahme der neuen Alliierten ins Bündnis – Polen 1999, die baltischen Staaten 2004 – haben wir zunächst Capacity-Building betrieben, um sie an die NATO-Strukturen und -Prozesse heranzuführen. Wir haben aus ehemaligen Gegnern Freunde gemacht und mit ihnen ein wirkungsvolles Hauptquartier aufgebaut. Dann sind wir gemeinsam in Stabilisierungseinsätze gegangen. Bei drei Einsätzen in Afghanistan haben wir auch zwei Soldaten verloren, einen polnischen und einen dänischen Kameraden. 2014 trat für uns wie für die NATO mit der Besetzung der Krim durch Russland eine neue Phase ein: der Krieg als Mittel der Politik kehrte nach Europa zurück. Das war ein Wendepunkt für die Allianz, aber auch für das MNCNE. Wir wurden von einem Low-Readyness- zu einem High-Readyness-Hauptquartier. Damit kamen wir zurück in die Bündnisverteidigung mit dem Ziel, einen Krieg im Ostseeraum durch eine hohe eigene Verteidigungsbereitschaft zu verhindern.
Wo steht das Korps angesichts dieser Herausforderung?
Wir sind auf die russische Bedrohung vorbereitet. 21 Nationen engagieren sich in unserem Hauptquartier und verantworten den Raum zwischen Estland und Nordpolen. Das zeigt, dass Russland sich bei einer etwaigen Aggression nicht nur den Staaten der Region gegenübersehen würde, sondern einem Großteil der NATO. Schauen Sie sich die Landkarte an: Es sind die baltischen Staaten und Polen, durch die Russland nach Westen vorzustoßen versuchen würde, wenn es sich entschlösse, die NATO anzugreifen. Der geografische Korridor von Moskau nach Mitteleuropa führte immer schon über das Baltikum und Polen. Schon für die Rote Armee unter Stalin war 1945 die Kontrolle der Ostsee über das Baltikum und Polen der Schlüssel, um Berlin zu erreichen. Geografie erklärt viel. Nimmt man noch die Geschichte hinzu, lässt sich fast alles erklären.
Der Raum, für den das Korps Verantwortung trägt, ist also für die NATO ein entscheidender.
Global gesehen, ist es ein kleiner Raum. Sicherheitspolitisch steht er für Europa im Mittelpunkt.
Wie sehen die Bedrohungsszenarien konkret aus, die Sie im Korps durchspielen?
Im Grunde genommen sind wir schon in der hybriden Phase eines Krieges, den Russland gegen uns führt – das betrifft vor allem die drei baltischen Staaten. Russland könnte zusätzlich auch begrenzte Kriegshandlungen hergebrachter Art ausführen, um die Allianz zu testen und Fakten zu schaffen. Sogar das Szenario eines umfassenden Krieges im Ostseeraum ist nicht ausgeschlossen. Wir bereiten uns auf alle diese Szenarien vor. Allerdings halte ich es für aktuell unwahrscheinlich, dass Russland den Konflikt mit der NATO sucht. Russland weiß, dass wir verteidigungsbereit sind.
Sie haben die Geografie angesprochen – was sind in Ihrer Analyse die geografischen Schwachpunkte im Ostseeraum, die die NATO besonders im Blick haben muss?
Die Grenze Finnlands mit Russland ist knapp 1.400 Kilometer lang – sie stellt für Landoperationen allerdings eine ungünstige Topografie dar. Die gemeinsame Grenze im Verantwortungsbereich unseres Multinationalen Korps Nordost ist etwa 2.200 Kilometer lang, sie reicht von Estland bis Nordpolen, inklusive der Oblast Kaliningrad. Alles, was Russland eine Kontrolle des Ostseeraums ermöglichen würde, ist für uns in Betracht zu ziehen. Denn Russland ist in seinen Ostseezugängen beschränkt auf Sankt Petersburg und Kaliningrad. Kaliningrad ist aus russischer Perspektive eingekreist von NATO-Gebiet. Der Rest der Küstenlinie und der Großteil der Gewässer sind ebenfalls NATO-kontrolliert. Der Beitritt Schwedens und Finnlands zur NATO kann in diesem Zusammenhang nur als ein äußerst glücklicher Umstand bezeichnet werden.
Die kommende deutsche Brigade in Litauen wird ja auch Ihrem Korps unterstellt sein. Wie schätzen Sie diesen militärischen Zugewinn ein?
Minister Pistorius hat mit der Brigade eine großartige Entscheidung getroffen. So wie es im Kalten Krieg wichtig war, dass unsere Verbündeten Verbände nah an der Grenze zum Warschauer Pakt stationiert haben, so zeigt Deutschland mit der Stationierung einer Brigade im Baltikum sein Eintreten für die gemeinsame Sicherheit.
Das ist aber zunächst einmal nur ein Signal auf der politischen Ebene.
Auf der militärischen Ebene ist es ebenso ein wichtiges Signal. Kampfstarke Verbände mit einem hohen Grad an Bereitschaft an der Grenze stehen zu haben, erhöht die Sicherheit signifikant. Russland registriert das sehr genau. Die Qualität einer deutschen Brigade ist dabei sicherlich am oberen Ende der Skala anzusetzen. Ich hoffe, dass sie so zeitnah wie möglich der NATO unterstellt wird – denn auch das ist ein Zeichen an Russland: Es geht hier nicht um ein bilaterales Abkommen zwischen Deutschland und Litauen, sondern es ist ein NATO-Commitment. Sicherheit für den freien Westen kommt nicht durch bilaterale Abkommen, sondern ausschließlich über die NATO. Und Russland muss wissen, dass es stets mit der ganzen NATO zu tun hat.
Nimmt Putin eine deutsche Brigade in Litauen ernst? Oder hätten Sie lieber eine – sagen wir – amerikanische Brigade bevorzugt?
Putin registriert genau, wie geschlossen die NATO auftritt. Putins Stärke ist nicht sein Nuklearpotenzial, nicht seine Armee, nicht sein Regime. Putins Stärke erwächst einzig und allein aus unserer Schwäche. Und von daher ist es nachrangig, welcher NATO-Partner eine starke Präsenz an der Grenze zu Russland zeigt. Deutschland ist in Mitteleuropa die NATO-Nation Nummer 1. Hätten wir in Sachen Litauen-Brigade anders entschieden, hätten wir alle Partner enttäuscht – nicht zuletzt auch die Amerikaner. Und was die Amerikaner selbst betrifft: US-Truppen sind ohnehin zwischen Narva und Breslau in der gesamten Breite des Raums an der Grenze zu Russland präsent, und zwar in einem Umfang, der deutlich über die deutsche Brigade hinausgeht. Unser Beitrag ist damit auch ein Signal an die Amerikaner: Wir sind hier gemeinsam präsent und übernehmen Verantwortung – von Europa in Europa.
Wo sind aus Ihrer Einschätzung die Stärken Russlands im Ostseeraum?
Russland hat aus meiner Sicht vier Parameter, die zu seinem Vorteil genutzt werden: 1. eine einheitliche Kommandostruktur vom Präsidenten bis hinunter in den Schützengraben. 2. Russland hat die geografische Tiefe und die Infrastruktur, aus jeder Ecke seines riesigen Reiches sehr schnell Kräfte an seine Außengrenzen heranzuführen. 3. Russland hat das Entscheidungsmomentum auf seiner Seite. Wenn es angreifen will, dann entscheidet es ganz allein wann, wo und zu welchem Zweck. 4. Putin ist der Wert des einzelnen Menschen egal. Russland kann also sehr schnell Masse generieren, was militärisch ein Wert an sich ist. Und es muss keine Rücksicht auf eigene oder generische Verluste nehmen. Das sehen wir in der Ukraine.
Was bedeutet das für die Verteidigung des Westens?
Wir müssen diese für Russland vorteilhaften Parameter kompensieren, damit sie uns nicht zum Nachteil gereichen. Der erste Schritt ist, diese strategischen Vorteile Russlands anzuerkennen und darauf angemessen zu reagieren. Die NATO-Planungen sind darauf ausgelegt, unsere Nachteile in der Geografie, in der Reaktionsfähigkeit, in der Masse durch eine intelligente Kombination aus Vorne-Stationierung, klugen Plänen zur raschen Verlegung von Kräften aus dem rückwärtigen Raum nach vorne und überzeugende Abschreckung auszugleichen. Ich bin zuversichtlich, dass wir den Wettlauf mit Russland gewinnen, weil das Potenzial in unseren freien westlichen Gesellschaften stärker ist als jenes in Russland.
Ich möchte Ihnen gern noch zwei persönliche Frage stellen. Die erste ist die nach Ihrer Tätigkeit hier in Stettin. Welche Erfahrungen haben Sie – vor dem Hintergrund der deutsch-polnischen Geschichte – als deutscher Offizier in Polen gemacht?
Sehr gute. In Polen habe ich mich bis auf das politische Warschau der zurückliegenden PiS-Regierung immer willkommen gefühlt. Wir erleben hier alle ein großartiges Land und eine großartige Gastfreundschaft. Meine Frau und ich fühlen uns hier so wohl, dass wir die Idee hatten, uns hier eine Immobilie zu kaufen. Ich bin als Sohn eines NATO-Offiziers aufgewachsen. Die Einbindung der europäischen Völker in die NATO ist für mich das größte Glück, das meine Generation nach dem Zweiten Weltkrieg haben konnte. Polen und die baltischen Staaten in der NATO, 21 Nationen in meinem Hauptquartier – das ist eine echte Bereicherung.
Ein namentlich nicht genannter Soldat sagte in einem Artikel in der FAZ kürzlich über Sie folgenden Satz: „Wäre ein Krieg unvermeidlich, würde ich gerne bei General von Sandrart kämpfen.“ Was sagt dieser Satz über Sie aus?
Ich bin demütig und dankbar, dass ich nicht als Beamter in Uniform wahrgenommen werde, der sich von der Truppe entfernt hat. Ich empfinde es als Glück, dass ich in meiner militärischen Laufbahn auf allen Ebenen bis hin zum Generalleutnant erfolgreich führen durfte. Das ist weniger Ergebnis von Exzellenz, sondern von Teamleistung. Ich war und bin immer noch Teil der Teams, auf deren Leistungsbereitschaft ich mich voll verlassen konnte. Natürlich braucht ein Team stets Führung. Aber ein gutes Ergebnis wird immer nur vom Team insgesamt erreicht. Die Schwierigkeiten beginnen, wenn wir mit unserer Art Dinge anzugehen auf eine militärische Kultur stoßen, die lieber verwaltet als gestaltet, was ich sehr bedauere. Eines steht für mich fest: Ich habe nur gute Erfahrungen mit all den Männern und Frauen gemacht, die ich führen durfte. Auf alle diese Teams bin ich stolz.
Generalleutnant Jürgen-Joachim von Sandrart
Der 1962 in Lingen geborene kommandierende General des Multinationalen Korps ist in zehnter Generation Soldat. Sein Vater war der Inspekteur des Heeres und Vier-Sterne-General Hans-Henning von Sandrart, von 1987 bis 1991 Oberbefehlshaber der Allied Forces Central Europe der NATO mit Sitz in Brunssum (Niederlande). Jürgen-Joachim von Sandrart trat 1982 in die Bundeswehr ein, absolvierte die Ausbildung zum Offizier der Panzertruppe und studierte Wirtschafts- und Organisationswissenschaften. Nach Verwendungen als Zugführer und Kompaniechef sowie dem Generalstabslehrgang folgten Stationen beim Eurokorps, in der Panzergrenadierbrigade 7 und im Panzerlehrbataillon 93. Beim ISAF-Einsatz in Afghanistan erlebte von Sandrart 2011 in nächster Nähe ein Bombenattentat, bei dem sieben Menschen, darunter zwei deutsche Soldaten, getötet wurden. Von Sandrart war auch Kommandeur der Panzergrenadierbrigade 41 und der 1. Panzerdivision. 2021 übernahm er das Multinationale Korps. Im November tritt er in den Ruhestand. Sein Markenzeichen ist ein Halstuch, das für ihn ein Talisman aus seinem Einsatz in Afghanistan ist. zu
Multinationales Korps Nordost
Das Korps wurde 1999 aufgestellt. Gründungsnationen waren Deutschland, Dänemark und Polen. Polen war im selben Jahr erst in die NATO aufgenommen worden. Über das MNCNE wurde das Land sofort in die militärischen Strukturen der Allianz integriert. Demnächst soll Litauen als vierte Rahmennation hinzukommen. Die ersten Jahre waren vom Aufbau der Korpsstrukturen geprägt und von der Vorbereitung auf die NATO-Zertifizierung. Dann folgten drei Auslandseinsätze in Afghanistan 2007, 2010 und 2014. Seit 2017 ist das Hauptquartier auf Bündnisverteidigung ausgerichtet. Zum Verantwortungsbereich des Korps gehören neben Polen die drei baltischen Staaten Litauen, Lettland und Estland. Dem Korps sind drei Divisionen unterstellt, zwei multinationale und eine estnische. Ihnen zugeordnet sind vier multinationale Battlegroups jeweils in Estland, Lettland, Litauen und Polen. Diese sollen nun von Bataillons- zu Brigadegröße aufwachsen. Die kommende deutsche Brigade in Litauen wird ebenfalls dem Korps unterstellt.