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Armee auf Strategiesuche

Es ist bereits Krieg Nummer 10, den Israels Armee bestehen muss. Ihre Schlagkraft hat spezifische Gründe. Doch die Anpassung ihrer Militärdoktrin an neue Bedrohungen ist schwierig.

Israelische Soldaten der Kfir-Brigade bei einer Antiterrorübung im Jordantal.

Foto: picture alliance / NurPhoto

IDFisraelstrategie

Der augenfälligste Unterschied zwischen Israels Armee und der Bundeswehr: Es gibt nur einen Uniform-Typ, den die ganze Streitkraft nutzt – vom Heer, über die Marine bis zur Luftwaffe. Zu sehen ist das bei der täglichen Berichterstattung zum Gaza-Feldzug der Israel Defence Forces – kurz IDF. Das kleine Detail der Uniform verweist auf eine der größten Stärken dieser Armee. Die IDF ist bereits seit ihrer Gründung 1948 eine „Joint“-Streitkraft. Joint – englisch für Gemeinsam und Verbunden – ist der Heilige Gral von Militärplanern weltweit. Mit aufwendigen Reformen versuchen sie seit Dekaden, ihre Teilstreitkräfte gekonnt in einem Verbund zu organisieren.

Bei der IDF wird das längst umgesetzt. Ein Generalstab führt direkt das Heer mit einem Luft- und einem Marine- „Arm“ – so die offizielle Bezeichnung für Israels Luftwaffe und Marine. Gerade westliche Armeen bestehen dagegen aus separaten Teilstreitkräften mit jeweils langen Traditionen und Eigeninteressen. Das erschwert deren zielgerichtetes Zusammenwirken. Ein Beispiel dafür ist die Bundeswehr. Allein beim Heer wird ein ausgeprägtes Stammesdenken der Truppengattungen gepflegt, die permanent um taktische Konzepte und Ressourcen streiten. So gab es jahrelange Querelen um die Mittleren Kräfte, die nun aufgebaut werden sollen.

Die ausgeprägte Einheitlichkeit der IDF entstand aus dem akuten Feinddruck bei der Staatsgründung, die sofort zu einem Krieg gegen die arabischen Nachbarn führte. Die schmalen Ressourcen an Waffen und Personal mussten maximal geschlossen aufgestellt werden, um Wirkung zu entfalten. Diese Geschlossenheit ist die Grundlage für eine besondere Innovationskraft der IDF, analysieren die beiden Militärstrategen Edward N. Luttwak und Eitan Shamir in ihrem Buch „The Art of Military Innovation – Lessons from the Israel Defence Forces“, das kurz nach dem jüngsten Hamas-Terror gegen Israel erschien.

Vorreiter bei Einführung von Drohnen

Als prägnantes Beispiel nennen sie die Vorreiterrolle der israelischen Armee bei der Einführung von Drohnen auf dem Gefechtsfeld ab Beginn der 1970erJahre. In anderen Armeen dominieren die Wünsche der Kampfpiloten nach immer besseren Jets die Luftkriegsplanung, die über ihre Teilstreitkraft erfolgt. Nicht so bei der IDF, wo sich der Generalstab früh dafür entschied, konsequent in diese ressourcensparende Technologie zu investieren. Auch entstand im „Air Arm“ der IDF ab den 1950er-Jahren das Konzept flexibler Multirollen-Kampfjets, das heute global etabliert ist.

Ein IDF-Soldat bei einer Übung mit einer Drohne des israelischen Unternehmens Blue Bird. (Foto: BlueBird Aero Systems)

Das in seinen Anfängen bettelarme Agrarland Israel verfügte kaum über Devisen. Es musste mit wenigen Flugzeugen die Rollen für Bomber, Luftkampf und Luftnahunterstützung zusammenbringen. Israel gelang das mit entsprechenden Spezifikationen beim Kauf der Mirage III. Beim Sechstagekrieg 1967 zerschlug die kleine Multirollen-Luftwaffe der IDF rasch Ägyptens Luftstreitmacht und unterstützte effizient die Bodenoffensive. Der IDF-Ansatz machte Schule. Die US-Air Force beschaffte als Reaktion den Phantom-Kampfjet der US-Navy, um auch einen Multirollenjet in der Flotte zu haben. Die US-Erfahrungen mündeten später in das Design der F16 – des bis heute bewährtesten Kampfjetmodell weltweit, dessen Einsatz gerade für die Ukraine vorbereitet wird.

Institutionelle Geschlossenheit, grundlegende Innovationen

Die institutionelle Geschlossenheit der IDF sorgt auch dafür, dass grundlegende Innovationen bei Waffensystemen besser umgesetzt werden, so Luttwak und Shamir. Die Konzeption der IDF-Rüstung erfolgt aus einer armeeeinheitlichen Perspektive. Für den Iron Dome – Kernelement von Israels hoch wirksamem Raketenabwehrschirm – gab es die ersten Entwicklungsgelder 2007. Bereits 2011 war diese „Eiserne Kuppel“ im Einsatz. Das ist Rekordzeit für ein solch komplexes System. In anderen Armeen werden die Rüstungsressourcen dagegen auf die Teilstreitkräfte verteilt. Diese haben dann die Tendenz, mit immensem Aufwand ihre etablierten Waffen und Konzepte zu optimieren. Das führt zu den gefürchteten „Goldrandlösungen“, wie sie bei der Bundeswehr verbreitet sind – siehe Schützenpanzer Puma und das kommende Standard-Sturmgewehr. Bei diesem wurde ein immenser Aufwand betrieben, um ein Derivat des HK416 zu beschaffen, mit einem überschaubaren Mehrwert der Anpassungen.

Auch die IDF-Führungsstruktur fördert innovatives Handeln. Israels Wehrpflichtarmee hält die Anzahl der Offiziere niedrig. Den Heeresarm der IDF führt ein einzelner Generalmajor. Das deutsche Heer hat dafür gleich drei Generalleutnante. Ein schlankes Offizierskorps verhindert Mikromanagement und erzeugt Druck zum Führen mit Auftrag. Luttwak und Shamir: „In den IDF ist das Ergreifen der Initiative keine Frage der Wahl: Dünn besetzte Kommandostellen mit unterbesetzten Hauptquartieren über ihnen können nur allgemeine, nicht detaillierte Einsatzbefehle an untergeordnete Kommandeure erteilen.“

Ausgeprägte Initiativmentalität

Somit prägt eine hohe Risiko- und Experimentierfreude die Truppe. Die wird auch von den unteren Rängen befeuert. Die IDF verzichtet auf ein ausgeprägtes Unteroffizierkorps. Junge Führer müssen schnell und viel Verantwortung übernehmen, ohne von alten Haudegen eingehegt zu sein. Lange Verpflichtungszeiten, selbst für hohe Offiziere, sind nicht vorgesehen. Diese verlassen meist schon mit 40 Jahren die Armee. Ihre ausgeprägte Initiativmentalität nehmen sie dann mit in die Wirtschaft, wo einige von ihnen Start-ups gründen und Lösungen für Themen suchen, die die Streitkräfte umtreiben.

 

Wichtiger Gestalter solcher IDF-Prinzipien war Moshe Dayan, Generalstabschef von 1953 bis 1958 und später Verteidigungsminister. Er war der Ansicht, dass nur ein schlankes und junges Offizierskorps das agile Mindset hätte, welches nötig sei, um Israels Militärdoktrin umzusetzen. Die beruhte lange auf brachialem Manöverkrieg, notfalls auch präventiv. Das Feldheer mit starker Panzer- und Luftwaffe sollte rasch in die Tiefe des gegnerischen Raums vorstoßen, Schlüsselgelände besetzen und so den Gegner schocken und zur Aufgabe bringen.

Darin sah Israel die einzige Möglichkeit, seine diversen Feinde in der Nachbarschaft zu schlagen, bevor deren Überzahl zur Geltung kommen konnte.Allerdings wurden die Bedroh­ungen Israels seit dem Jom-Kippur-Krieg 1973 immer asymmetrischer. Die Feuer-und-Bewegung-Militärdoktrin für entscheidende Siege trug immer weniger. Im Libanon-Krieg 2006 liefen sich die Panzervorstöße der IDF in den dichten Stellungs- und Sperranlagen der Hisbollah fest. Die Kämpfe endeten mit einem Patt. Statt um Panzerschlachten gegen Feldheere, geht es heute um die Einnahme und Kontrolle urbaner Räume gegen Terrorgruppen. Die werden mittels weitreichender Raketenwaffen immer schlagkräftiger. Der IDF-Generalstab beschreibt Hamas und Hisbollah inzwischen als gut organisierte Armeen.

Neue Ansätze

Die IDF wird in der Folge für begrenzte Kriege umgebaut. Der neue Ansatz: Hightech-Sperranlagen gegen den Libanon und Gaza sowie ein Raketenabwehrschirm sollen die neuen Feinde auf Abstand halten. Entladen sich die Spannungen alle paar Jahre in Attacken, sollen präzise Schläge das Angriffspotenzial des Gegners rasch zurückstutzen. Die mechanisierte Infanterie wurde für Gendarmariekräfte zur Raumkontrolle verkleinert. Seit 2014 sind Stadt- und Tunnelkampf Schwerpunkte der Infanterieausbildung, nicht mehr die Einnahme von Feldstellungen. Speerspitze der IDF sind nicht mehr Panzer, sondern Spezialkräfte. Diese werden für mehr Schlagkraft in einem „Tiefen-Korps“ gebündelt. Die Luftstreitmacht wird mit der F35 und mehr Tankflugzeugen von einer taktischen zu einer strategischen Luftwaffe umgebaut. Optimiert für Angriffe auf weit entfernte Ziele, wie im Iran. Dazu wird massiv in Drohnen und Cyberfähigkeiten investiert. Vor allem, um die Aufklärung aufzuwerten. Seit 2019 arbeitet die IDF mithilfe Künstlicher Intelligenz an einer umfassenden Zieldatenbank für den Nahen Osten, die stetig verfeinert wird.

Designer der heutigen IDF und Teil des Kriegskabinetts: die Generalstabschefs zwischen 2011 und 2019 – Benny Gantz (M.) und Gadi Eizenkot (l.), rechts Benjamin Netanjahu. (Foto: Avi Ohayon / GPO)

Aber die ab 2006 entwickelte Einhegungsstrategie ist endlich, wie der Durchbruch der Hamas  durch den Gaza-Sperrriegel am 7. Oktober 2023 zeigte. Schon in den Jahren davor zweifelten die IDF-Militärplaner zunehmend an dem Konzept. Der Leiter des IDF-Doktrinzentrums General Eran Ortal stellte 2022 fast, dass die dosierten Attacken gegen Hamas und Co. den Feind nur gegen die Fähigkeiten der IDF immunisieren würden. Die Gegner bekämen den Eindruck, dass sie gegen die IDF bestehen könnten und dass es sich lohnt, ihre militärischen Konzepte wie Raketenwaffen weiterzuentwickeln.

Strategie schwierig umzusetzen

Seit 2020 versucht die IDF deshalb, eine neue Militärstrategie namens „Entscheidender Sieg“ zu entwickeln, in der es um vernichtende Schläge gegen den Feind geht. Der Militärexperte Jean-Loup Samaan von der National-Universität Singapur hat diese Bemühungen analysiert. Samaan zu loyal: „Vor allem die Natur der Feinde als nichtstaatliche Akteure macht es schwierig, eine Strategie zu implementieren, die auf eine totale Zerstörung des Gegners abzielt. Denn Akteure wie Hamas und Hisbollah können sich in der Bevölkerung verstecken.“

Im Gaza-Krieg ist diese Achillesferse augenfällig. Durch die massiven zivilen Opfer nimmt die Kritik an Israel weltweit zu. Hinzu kommt Druck von innen auf die Ambition zum „entscheidenden Sieg“. Die Vertreibungs- und Vernichtungsideen von Israels Rechtsradikalen gegenüber den Palästinensern verstärken den internationalen Widerstand gegen Israels Kriegsführung. Die IDF versuchte zuletzt durch Enthauptungsschläge gegen die höchste Hamasführung in Gaza Fakten zu schaffen, bevor der politische Druck zur Einstellung des Feldzugs zu groß wird.

Zur künftigen Entwicklung der IDF-Militärdoktrin meint Experte Samaan: „Ich denke, wir müssen das Ende des Krieges abwarten, um konkrete Änderungen in den Doktrinen und Strategien der IDF zu sehen. Vermutlich wird eine große Diskussion dazukommen, wie die IDF zu ihrem historischen Vertrauen auf Abschreckung und Offensivstrategien zurückkehren kann.“ Letztendlich könne die IDF jedoch nicht über den ihr auferlegten politischen Rahmen hinausgehen, so Samaan. Keine militärische Strategie sei realistischerweise in der Lage, die Hamas in Gaza oder die Hisbollah im Libanon zu beseitigen. Eine Lösung müsse auf der politischen Ebene gefunden werden.

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