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Europas pragmatische Militärmacht

Die Streitkräfte Italiens müssen einen schwierigen Spagat meistern. Ihr Schwerpunkt, Europas Südflanke, kollabiert. Doch der Fokus von NATO und EU liegt kriegsbedingt im Osten.

Marine-Infanteristen beim Exzerziertraining im Hangar des Flugzeugträgers Cavour – dem Flaggschiff von Italiens Marine.

Foto: Stephan Pramme

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Eine Bilddrohne zischt im Tiefflug über ein Gewirr aus Schützengräben. Sie zeigt Soldaten, die in die Gräben hechten und den Feuerkampf gegen Verteidiger aufnehmen. Was wie ein Gefechtsvideo aus dem Donbas wirkt, findet in Apulien, Süditalien, statt. Italienische Infanteristen üben die Einnahme von Grabensystemen – ein militärisches Handwerk, das durch den Ukrainekrieg wieder aktuell wurde. Um es zu beherrschen, baut sich Italiens Heer ein kleines Verdun als Übungsgelände – auf einer Blumenwiese nahe der alten Stauferstadt Foggia. Pragmatismus ist hier gefragt. Das Areal ist eigentlich kein Truppenübungsplatz. Die weitläufige Grünfläche wurde für das Projekt „Grüne Barracken“ gekauft, mit dem nachhaltige Wohnunterkünfte der Armee entstehen sollen. Dessen Umsetzung lässt auf sich warten. Nun legen die Militärs dort kurzerhand ein Grabensystem à la Ukraine an. Auf klassischen Übungsplätzen mit Blindgängern im Erdreich und zahllosen Auflagen wäre so ein neues Trainingsgelände zur bürokratischen Genehmigungs­­orgie ausgeartet, eine rasche Umsetzung wäre unmöglich.

Pragmatisches Handeln ist essenziell für die Forze armate italiane, die unter schwierigen Bedingungen viel leisten müssen. Italiens Wehretat liegt bei rund 1,5 Prozent des BIP, wie jener Deutschlands. Doch Italien bietet vom Baltikum bis zum Sahel 7.500 Soldaten in Missionen von NATO, EU und UN auf. Deutschland kommt auf 3.500. Auch Roms Waffenhilfe für Kyjiv ist bedeutend, fällt aber kaum auf, da sie nicht öffentlich gemacht wird. Laut dem Oryx-Rechercheteam, das Waffenlieferungen visuell erfasst, gingen zum Beispiel mehr als 100 Panzerhaubitzen vom Typ M109 an die Ukraine. Der dortige Krieg birgt für Italiens Armee eine besondere Herausforderung. Ihr natürlicher Schwerpunkt, Europas Südflanke, kollabiert seit Jahren – jüngstes Beispiel ist das Sicherheitsengagement der Europäer im Sahel. In der Levante ist nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel ein weiterer Krieg ausgebrochen. Doch Aufmerksamkeit und Ressourcen von NATO und EU konzentrieren sich auf die Ostflanke. Für eine Armee, die explizit als Koalitionsstreitkraft ausgelegt ist, ein schwieriges Umfeld.

Testverband für digitale Gefechtsführung

Damit sie hier besteht, muss sie ihre Fähigkeiten weiterentwickeln. Beim Heer ist das der Auftrag der Infanteriebrigade „Pinerolo“, was zu Deutsch Kiefer heißt, das Wappenzeichen des Großverbandes. Die „Pinerolo“ ist der Testverband zur Einführung der digitalen Gefechtsführung und mit ihren Regimentern in Apulien stationiert. Italienische Regimenter haben eine Besonderheit: Darunter sind nicht direkt Kompanien aufgehangen, sondern ein Kampftruppenbataillon. Die Regimentsebene wurde 2002 eingeführt, damit sich der Bataillonskommandeur ganz den zentralen taktischen Aufgaben Ausbildung und Training widmen kann. Der Regimentskommandeur nimmt ihm alles weitere ab, wie Personalorganisation, Kooperation mit zivilen Behörden und Pressearbeit. Mit einem identischen Kalkül schuf die Bundeswehr vor Kurzem den Posten des Kontingentführers in Litauen, um den Kommandeur des EFP-Bataillons zu entlasten.

Infanteristen des italienischen Heeres bei einer taktischen Vorführung ihres digital vernetzten Gefechtsverbands „Forza Nec“ auf dem Stützpunkt Barletta in Apulien. (Foto: Stephan Pramme)

Beim 82. Infanterieregiment der „Pinerolo“ in Barletta gibt es zur Begrüßung Espresso und dann eine Waffenschau. Unter den Kiefernbäumen des Stützpunkts präsentieren die Italiener ihre mechanisierte Infanterie auf Basis des Radschützenpanzers Freccia samt einer Übung. Die liebste Waffe der Soldaten ist der neue Freccia mit 120-Millimeter-Mörser. „Wir können mit ihm in vier Minuten 120 Geschosse auf den Feind bringen – ein massiver Effekt“, so ein Hauptmann, der durch den Parcours führt. Wie das deutsche Heer mit seinem Vorhaben „Digitalisierung Landbasierte Operationen“ arbeiten die Italiener daran, ihre Gefechtsverbände vom Soldaten bis zur Kommandoebene in einem digitalen Führungssystem zu vernetzen. „Pinerolo“-Kommandeur Brigadegeneral Paolo Sandri im Gespräch mit loyal: „2007 hat die italienische Armee dafür das Vorhaben Forza Nec gestartet. Seit April dieses Jahres haben wir eine Anfangsbefähigung.“ San-dri gibt sich von der Leistungsfähigkeit Forza Necs voll überzeugt. Bei der NATO-Battlegroup in Bulgarien unter italienischem Lead testete die Brigade ihr digitales Führungssystem bei einem Manöver im Sommer unter Einbeziehung bulgarischer Einheiten. „Wir sind äußerst zufrieden mit den Ergebnissen, die weit über unsere Erwartungen hinausgingen. 2025 wollen wir die volle Einsatzfähigkeit erreichen.“ Danach soll die Digitalisierung in den weiteren zehn Brigaden des Heeres ausgerollt werden. Mit dem Zulauf passenden Geräts samt Training dürfte das mindestens bis 2027 dauern, schätzt Sandri. Für den Heeresgeneral ist der Hauptvorteil eines umfassenden digitalen Führungssystems die Möglichkeit zum „Swarming Warfare“ – dem weiten Verteilen und raschen Zusammenziehen von Feuer und Verbänden.

Ein Soldat des 82. Infanterieregiments „Torino“ mit dem Display des „Blue Force Trackers“. Dieser erlaubt das Verfolgen der Position eigener Kräfte und ist zentraler Bestandteil des „Secure Soldier Systems“, Italiens Pendant zum digitalen Soldatensystem „Infanterist der Zukunft“ des deutschen Heeres. Die Energie für den „Blue Force Tracker“ liefert das Funkgerät. Es hält je nach Außentemperatur vier bis acht Stunden. (Foto: Stephan Pramme)

Neben der Digitalisierung beschäftigt die Brigade „Pinerolo“ noch ein zweites Vorhaben: Seit vier Jahren ist sie dabei, sich zu einem Gefechtsverband Mittlerer Kräfte im Kampfwert zu steigern. Auch die Bundeswehr möchte seit diesem Jahr Brigaden Mittlerer Kräfte aufbauen. Die Perspektive der Italiener auf die neue Kräftekategorie: Bis 2019 war die Brigade eine mechanisierte Infanteriebrigade mittlerer Kampfkraft, geprägt durch den Freccia mit mittlerer Panzerung und Mittelkaliberkanone. Nun kommt mehr Feuerkraft über mobile Mörser und Spike-Lenkraketen auf dem Freccia hinzu. „Mittel“ bedeutet für Brigadeplaner Sandri dabei nicht nur mehr Feuerkraft, sondern zuvorderst ein ausgewogenes Fähigkeitsset für die Brigade, wie weiterhin genügend Infanterie für den abgesessenen Kampf. Ihre kampfwertgesteigerten Freccias sehen die Italiener für die nächsten 15 Jahre als ihr wichtigstes Waffensystem, so Sandri. Die spezielle Stärke Mittlerer Kräfte soll ihre rasche Verlegbarkeit über weite Strecken und Mobilität im Einsatzgebiet sein. Hier gibt es bei der „Pinerolo“-Brigade noch zwei zentrale Schwächen: Sie verfügt nur über Artillerie, die gezogen werden muss, und keine mobile Flugabwehr. Konkrete Rüstvorhaben hierfür gibt es noch nicht.

Reform des Anwerbesystems

Doch Ausrüstung ist nicht alles. Wie alle Armeen Europas kämpft auch die italienische mit Rekrutierungsproblemen. Hier hofft General Sandri auf jüngste Reformen des Anwerbesystems. „Nun ist eine Basisverpflichtung von drei Jahren möglich und ein schnellerer Einstieg in die Karriere als Berufssoldat. Davor wurden die Verträge von Soldaten nur von Jahr zu Jahr verlängert.“ Italiens Heereschef General Pietro Serino sieht im Ausbau des Offiziers- und Unteroffizierskorps eine zentrale Herausforderung für das Heer. Maßstab ist für ihn die Bundeswehr. Deren Offiziersanteil liege bei 17 Prozent, der Italiens bei nur 10, so der Heereschef bei einer jüngsten Parlamentsbefragung. Für Serino sind das zu wenig Offiziere, um in den wachsenden multinationalen Militärstrukturen mitspielen zu können. Serino: „Die Zeiten der schreienden Marschälle und Feldwebel sind längst vorbei. Die Unteroffiziere von heute sind Spezialisten, die in der Lage sind, immer komplexere Plattformen und Waffensysteme zu bedienen und zu warten.“ Jedoch habe Italien weniger als die Hälfte an Unteroffizieren als Deutschland.

Die beiden markanten schwarzen Antennen am Heck des Radschützenpanzers „Freccia“ sind Jammer – unter anderem gegen Drohnen. Sie sind so leistungsstark, dass sie auch den eigenen Funk stören können. Um das zu umgehen, müssen bestimmte Frequenzen genutzt werden. (Foto: Stephan Pramme)

Nicht nur die Personalstruktur der Streitkräfte beider Länder unterscheidet sich deutlich, auch das Geschichtsbewusstsein. Das zeigt sich schon, wenn man durch die Internetauftritte italienischer Verbände klickt. Dort werden die Angriffskriege des faschistischen Italiens ab 1935 wie etwa gegen Äthiopien nahtlos in die Traditionspflege integriert. Auch bei der „Pinerolo“-Brigade ist man stolz darauf, in allen Kriegen seit der Einigung Italiens 1848 gekämpft zu haben. Der Ehrentag des 82. Regiments sind die Kämpfe bei Tscherkowo am 16. Januar 1943. Italien machte mit der „Armata italiana in Russia“ beim Ostfeldzug der Wehrmacht mit. Trotzdem wird ein pragmatischer Umgang mit der Geschichte gepflegt. Die eigene Rolle wird zwar nicht verschwiegen, aber auch nicht sonderlich hinterfragt. „Pinerolo“-Kommandeur Sandri: „Natürlich gab es Kriegsverbrechen. Die Streitkräfte waren ein Werkzeug des imperialen Ehrgeizes. Einige der damaligen Generäle, unsere besten, haben die politische Führung erfolglos davor gewarnt, dass sich Italien übernimmt.“

Inzwischen setzt sich das italienische Militär mit seiner Geschichte im Zweiten Weltkrieg verstärkt auseinander. Ein Beispiel sind die „IMI-Soldaten“ – IMI steht für italienische Militärinternierte. Ein perfider Sonderstatus der Nazis für kriegsgefangene italienische Soldaten, um sie nicht nach Kriegsvölkerrecht zu behandeln. Brigadegeneral Sandri: „In Italien wird man sich erst seit Kurzem des Schicksals der 600.000 IMI-Soldaten bewusst, die nach dem Ausscheiden Italiens aus dem Krieg von Nazideutschland als Arbeitssklaven missbraucht wurden. Mehrere Tausend starben. Lange Zeit wurde dies aus Scham totgeschwiegen.“ Die „Pinerolo“-Brigade hat jüngst eine Seminarreihe mit den Schulbehörden Apuliens initiiert. Sandri und andere Brigadeoffiziere klären an weiterführenden Schulen über die IMI auf, um sicherzustellen, dass ihrer mit Respekt gedacht wird.

Flaggschiff der italienischen Marine

Im nicht weit entfernten Tarent gibt es einen weiteren italienisch-deutschen Geschichtsbezug, als loyal das Flaggschiff der Marine Italiens besucht. Der Flugzeugträger „Cavour“ zeigt sich von unten bis oben geputzt und gewienert. Im Hangar probt eine Ehrengarde das Exerzieren. Der Besuch von Staatspräsident Sergio Mattarella steht an. Anlass ist der zentrale Gedenktag von Italiens Marine: Am 9. September 1943 versenkte die deutsche Luftwaffe das Schlachtschiff „Roma“. Mit mehr als 1.000 toten Marinesoldaten war es der größte Verlust der italienischen Kriegsmarine. Kurz zuvor hatte Italien Nazideutschland den Rücken gekehrt und kämpfte weiter auf alliierter Seite. In den Pariser Friedensverträgen von 1947 erhielt es aber wie die Bundesrepublik umfangreiche Rüstungsbeschränkungen, unter anderem das Verbot, Flugzeugträger zu bauen. Heute fürchtet Europa italienische „Mare Nostrum“– Ambitionen im Mittelmeer längst nicht mehr – im Gegenteil.

Der Beitrag Italiens bei der Sicherung und Überwachung der Südflanke von NATO und EU ist essenziell, und der Flugzeugträger „Cavour“ dessen Speerspitze. „Vier Schiffe in einem“, beschreibt Kapitän zur See Milos Argenton die „Cavour“. Der Kommandant im Gespräch mit loyal: „Zunächst ist er ein Flugzeugträger, der über weite Distanzen Luftoperationen ausführen kann. Desweiteren ist er eine Kommandozentrale für Joint Operations. Ebenso ein Sanitätsschiff sowie eine logistische und amphibische Basis, zum Beispiel bei Naturkatastrophen. Wir können an Bord Energie erzeugen und damit Infrastruktur an Land mit Strom versorgen, die etwa 3.000 Haushalten entspricht.“

Kapitän zur See Milos Argenton ist Kommandeur des Flugzeugträgers „Cavour“. Er fing noch als Kadett auf einem Dampfschiff in Italiens Marine an. Sein zentraler Führungsansatz: Mannschaften dürfen nicht der Monotonie des Lebens auf See ausgesetzt werden, sondern müssen geschult und in jede Aktivität auf dem Schiff einbezogen werden. (Foto: Stephan Pramme)

Die „Cavour“ ist noch jung für ein Schiff. 2009 wurde sie in Dienst gestellt. Doch Streitkräfte sind ständig im Umbau. Die Italiener modernisieren ihre Flugzeugträgergruppe mit dem US-amerikanischen F35-Kampfjet in der B-Variante. Diese erlaubt das senkrechte Landen auf kurzen Pisten und kompakten Flugzeugträgern wie der „Cavour“. Gestartet wird über eine Sprungschanze – dem „Ski-Jump.“ Bisher hatte der „Cavour“ den britischen Senkrechtstarter Harrier, eine Entwicklung aus den 1960er-Jahren. Für die F35 mit ihrem höheren Gewicht musste das Flugdeck verstärkt und ein neuer Belag aufgetragen werden. Dieser hält nun Temperaturen über 2.000 Grad Celsius stand und damit die F35-Triebwerkhitze. Laut „Cavour“-Kommandant Argenton sollen im Laufe des kommenden Jahres genügend F35-Piloten ausgebildet sein, um eine Anfangsbefähigung für Flugoperationen zu erreichen.

Expeditions-Taskforce für die NATO

Während auf der „Cavour“ mit der F35 der kommende westliche Luftwaffenstandard integriert wird, rüstet die Marine das amphibische Angriffsschiff „Trieste“ aus. Sie lief 2019 vom Stapel und erhält zurzeit Waffen und Systeme. Die amphibischen Fähigkeiten der „Cavour“ sind noch auf Friedenseinsätze ausgelegt. Sie kann kleinere Einheiten Marineinfanterie mit Hubschraubern an Land bringen und über eine Rampe in gesicherten Häfen Material abladen. Die „Trieste“ kann über ein Welldeck auch auf hoher See größere Einheiten absetzen und aufnehmen.

Das bedeutendste Vorhaben für Italiens Marine: Aus ihrer Flugzeugträgergruppe um die „Cavour“ und einer amphibischen Gruppe um die „Trieste“ eine Expeditions-Taskforce für die NATO aufbauen. Einen solchen Verband mit der F35 als Multirollenkampfjet der 5. Generation können sonst nur die USA und Großbritannien aufbieten, so Admiral Enrico Credendino, Chef des Admiralstabs, vor dem Verteidigungsausschuss der Abgeordnetenkammer.

Für Italien ist die Marine von zentraler Bedeutung. Denn laut Sicherheits- und Verteidigungsstrategie von 2022 ist der „weitere Mittelmeerraum“ der Verteidigungsbereich des Landes zur Überwachung und zum Eingreifen. Dieser reicht vom Golf von Guinea Westafrikas im Westen bis zur Straße von Hormuz und dem Horn von Afrika im Osten (siehe Karte). Italien erhält fast seine gesamte Energie- und Datenversorgung über das Meer. Zudem wird das südliche Umfeld Europas durch verfallende Staaten wie Libyen und Syrien, Migrationsdruck und aggressive regionale Akteure wie Russland, die Vereinigten Arabischen Emirate und Iran immer labiler. So beteiligt sich Italiens Marine an Frankreichs Operation Agénor, dem militärischen Arm der europäischen Überwachungsmission EMASOH für die Straße von Hormuz. Diese soll nicht offiziell, aber de facto den Iran von Übergriffen auf die dortige Handelsschifffahrt abschrecken. Eine Mission, die Deutschland „politisch unterstützt“, so die offizielle Sprachregelung. Die wichtigste Marinemission aus Sicht von Admiral Credendino ist Mediterraneo Sicuro. Diese Überwachungsmission hatte bis Sommer vergangenen Jahres ein Operationsgebiet von Italien bis Libyen. Dann wurde es von den Balearen bis zum östlichen Mittelmeer ausgedehnt. Marinechef Credendino: „Damit soll auch ein politisches Signal an die Verbündeten gegeben werden, dass Italien beabsichtigt, die Führung im Mittelmeerraum zu übernehmen.“

Die Besatzung der „Cavour“ besteht zu 15 Prozent aus Frauen. Hier: Eine Marinesoldatin bei der Kartenarbeit auf der Kommandobrücke. (Foto: Stephan Pramme)

So wie auf Deutschland der Druck lastet, eine führende Rolle an der Ostflanke zu übernehmen, so trägt Italien Verantwortung für die Südflanke. „Die Amerikaner brauchen, und das sagen sie uns immer wieder, ein Gleichgewicht im Mittelmeerraum, eine Stabiliät“, so Credendino. Früher haben die USA selbst diese Rolle übernommen. Doch sie verlagern ihre Marinekräfte stetig nach Asien, zu ihrem Hauptkonkurrenten China. Die Analyse von Italiens Marinechef: Als Gleichgewichtsmarinen im Mittelmeer kämen nur jene Frankreichs und Italiens infrage, die beide über die gleiche Anzahl von Schiffen verfügten. Frankreichs Marine hat aber einen globalen Bezug bis in den Indopazifik. Diese hoffe somit auf ein verstärktes Engagement der Flotte Italiens im Mittelmeer. Die USA wolle dies zudem, um die Türkei einzuhegen. Die Marine des schwierigen NATO-Alliierten sei der Bezugspunkt für maritime Rüstung im Mittelmeer. Mit ihrem exponentiellen Aufwachsen sei sie bald die größte Seestreitmacht der NATO in Europa, so Credendinos Ausblick.

Doch eine Kapazitätsausweitung zu einer Gleichgewichtsmarine bildet die Rüstungsplanung für die Seestreitkräfte nicht ab. Für Italien geht es zunächst darum, das bestehende Flottenmodell zu finanzieren und alte Einheiten durch neue zu ersetzen. Die angestrebte Expeditions-Taskforce braucht zum Beispiel drei Flugabwehr-Fregatten als Geleitschutz. Italien hat aber nur zwei. Bei der Einführung von Drohnen ist Italiens Marine Nachzügler. Wie die deutsche Marine hat sie eine Schwäche bei Seefernaufklärern. Jene Deutschlands sind veraltet, Italien hat gar keine. Der geplante Zulauf von neun Maschinen dürfte fünf Jahre dauern, so die Einschätzung des Marinechefs. Welcher Typ es wird, ist noch unklar. Bis jetzt müssen die Italiener bei Bedarf Aufklärer der US-Navy anfragen, die bei Sigonella auf Sizilien stationiert sind.

Die Sanitätsabteilung des Flugzeugträgers wird von Doktor Leutnant Lucia Simonetti geleitet. Zu ihrer Rechten Bootsmann Sabrina di Bella, zur Linken Seekadett Ilaria Caloi – zwei der vier Krankenschwestern aus Simonettis Team. Die „Cavour“ kann mit einem kleinen Krankenhaus aufwarten: ein Role-2-Rettungszentrum mit zwei Operationssälen sowie MRT und Spezialraum zur Behandlung von Brandwunden. Es verfügt über 20 Krankenbetten und 12 Intensivbetten. Bei Bedarf können noch Notbetten für bis zu 200 Patienten und mehr aufgebaut werden. (Foto: Stephan Pramme)

Modernste US-Maschinen im italienischen Besitz finden sich dagegen auf der Luftwaffenbasis Amendola, nahe Foggia. Das dortige 32. „Sturm“-Geschwader führt die F35 in Italiens Luftwaffe ein. Auch die F35-B des Flugzeugträgergeschwaders der „Cavour“ werden hier geflogen und gewartet, bis ihre Basis in der Nähe von Tarent für sie aufnahmebereit ist.

Bei der Luftwaffenrüstung hat sich Italien geschickt platziert. Es begann bereits 2008 in das US-Programm eines Kampfjets 5. Generation einzusteigen. Die frühe Beteiligung verschaffte Italien die einzige F35-Fabrik in Europa. Diese kann nun den wachsenden Bedarf in Europa decken. Die F35 verbreitet sich dort stetig. Auch die Bundeswehr beschafft inzwischen die US-Maschine als Tornado-Ersatz für ihre nukleare Teilhabe.

Ein F35A-Mehrrollen-Kampfjet des 32. „Sturm“-Geschwaders. 30 dieser Hangars reihen sich auf der Luftwaffenbasis Amendola aneinander. Die Tanklager für die Kampfjets sind im Boden davor eingelassen. (Foto: Stephan Pramme)

Der F35-Komplex in Amendola trägt den Namen „La Citadella“ und sieht auch so aus. Hoch aufragende Betonhangars, gesichert mit Stacheldraht, auf einer sonnenverbrannten Brache. Laut der Soldaten vor Ort klettert das Thermometer hier gerne mal auf bis zu 46 Grad. Fotos der Maschinen sind nur im Abstand von sieben Metern erlaubt, um keine Details aufnehmen zu können. Die F35 von hinten zu fotografieren, ist gänzlich untersagt. So will es die US-Produktionsfirma Lockheed Martin. Im Zentrum des Triebwerks befindet sich ein Bauteil, das Konkurrenz und den USA nicht wohl gesonnene Mächte keinesfalls zu sehen bekommen sollen. Auch ein unscheinbarer Betonkubus darf nicht abgelichtet werden. Darin befinden sich die Flugsimulatoren der F35, an denen US-Piloten auf Vertragsbasis ihre Kameraden vom 32. italienischen Geschwader schulen und trainieren.

Oberst Antonio Vivolo ist Kommodore des 32. Geschwaders, das die F35 in Italiens Luftwaffe einführt. (Foto: Stephan Pramme)

Was macht die F35 so besonders? Laut Geschwaderkommodore Oberst Antonio Vivolo formt der US-Jet die italienische Luftwaffe von einem taktischen zu einem strategischen Instrument. Bisherige Jets sind vor ihren Einsätzen auf ein bis zwei Rollen konfiguriert, die F35 kann selbst in einem Einsatz mehrere Rollen flexibel übernehmen und auf neue Lagen reagieren. Vivolo: „Der größte Vorteil der F35 ist ihre Fähigkeit, der Kommandostruktur über ihre verschiedenen Sensoren ein sehr hochwertiges Situationsbewusstsein zu geben, insbesondere wenn dieses Kampfflugzeug in Staffeln operiert.“ Inzwischen haben die F35 in Amendola eine Anfangsbefähigung. Italien kann sie für leichte Aufgaben wie Air-Policing in Estland, Polen und Island einsetzen.

Doch laut Sicherheitsstrategie soll Italien seine Luftwaffe in der weiteren Mittelmeerregion einsetzen können, also auch von staubigen Pisten im Sahel ohne High-End-Infrastruktur. Diese Versorgungreife hat die F35 noch nicht. Zudem bräuchte es für Schläge über weite Distanzen – dem Hauptvorteil von Luftstreitkräften – Masse, die Italien nicht hat. Doch auch hier gehen die Italiener pragmatisch ans Werk. Geschwaderkommodore Vivolo zu loyal: „Das ursprüngliche Beschaffungsziel waren mehr als 100 F35, die nur aus Budgetgründen reduziert wurden. Unsere Hauptaufgabe besteht also darin, einen starken Kern von F35-Jets aufzubauen und ihre Wirkung durch die beste Integration mit Jets der vierten Generation, Drohnen und anderen Mitteln zu vervielfachen.“

Klar ist: Für Italiens Streitkräfte bleibt es schwierig, ihren wachsenden militärischen Herausforderungen in Europa gerecht zu werden. Bereits Italiens Weißbuch von 2015 verlangte nach einem sechsjährigen Planungszyklus für die Rüstung, damit sich die Investitionen für das Fähigkeitsprofil der Streitkräfte besser steuern lassen. Umgesetzt wurde das bis heute nicht. Zudem sind die Staatsschulden hoch, und Militärausgaben sind unpopulär, wie Umfragen zeigen. Italien verschob die Erfüllung des Zwei-Prozent-Ziels im vergangenen Jahr auf 2028. Seit dem jüngsten NATO-Gipfel in Vilnius gelten die zwei Prozent jedoch als Minimum. Wie die Regierung von Giorgia Meloni das umsetzen will, ist noch unklar.


Flugzeugträger „Cavour-CVH 550“

Maximale Verdrängung: 27.800 t
Gesamtabmessung: 244 x 40 m
Flugdeckabmessung: 220 x 34 m
Tiefgang: 8 m
Antrieb: 88 MW (121.664 PS)
Stromerzeugung: 17.6 MW
Geschwindigkeit: mehr als 30 kn
Reichweite: 7.000 sm bei 16 kn
Flugzeuge: Starrflügel F-35B, Harrier AV-8B II/ Drehflügler EH-101, NH-90, AB-212
Besatzungsmitglieder: 39 Offiziere, 502 andere Dienstgrade
Eingeschifftes Personal: Bis zu 1.200 Mann – einschließlich Luftkampfgeschwader, Marineinfanterie, weiterem Stabs- und Sanitätspersonal

Die „Cavour“ vor Anker im Militärhafen von Tarent, der zentralen Marinebasis im Süden Italien. (Foto: Stephan Pramme)
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