Kräftemessen im Indopazifik – Kampfkonzept gesucht
Die Volksrepublik China rüstet massiv und mit scheinbarer Leichtigkeit auf. Peking und Washington drohen im Indopazifik aneinanderzugeraten. Den Vereinigten Staaten fällt es schwer, überzeugende militärische Anworten zu finden. Vor allem die Logistik der US-Streitkräfte ist ein Schwachpunkt.
In Chinas Taklamakan-Wüste offenbart sich der Alptraum der US-Marine. Auf dem dortigen Raketentestgelände entsteht zurzeit eine Zielattrappe ihres neuesten Flugzeugträgers „USS Ford“. Satellitenbilder von Ende vergangenen Jahres zeigen die neue Schießlandschaft der Volksbefreiungsarmee, zu der auch ein US-Lenkraketenzerstörer gehört. Von anderen Testgeländen sind weitere Zielnachbauten bekannt, etwa das Hauptquartier der US-Navy für Japan in Yokosuka. Hintergrund der Attrappen und ihrer Beschusstests: China sieht sich als natürliche Vormacht Asiens.
Doch steht dem Reich der Mitte die USA im Wege. Mit ihrem Allianz- und Basensystem vor Ort hegen sie Peking ein – was der fremden Macht von jenseits des Pazifiks nach Überzeugung der KP Chinas nicht zusteht. Eine Militärstrategie der „aktiven Verteidigung“ soll deshalb die USA langfristig aus dem Westpazifik abdrängen. Der Kern des Konzepts: Das China vorgelagerte Südchinesische Meer soll als Territorialgewässer vereinnahmt werden mitsamt der „abtrünnigen Provinz“ Taiwan. Damit hätte Peking die Kontrolle über die Haupthandelsstraße im Indopazifik. Raketen sind für diesen Ansatz die zentrale Waffe. Chinas Streitkräfte rüsten konsequent ein umfangreiches Arsenal von Kurz- und Mittelstreckenraketen sowie Marschflugkörpern auf und entwickeln deren Zielerfassung und Treffgenauigkeit weiter – gerade auch gegen bewegliche Ziele. Wegen ihrer hohen militärischen Bedeutung sind die landgestützten Systeme sogar in einer eigenen Teilstreitkraft gebündelt.
Im Zeichen der Raketen
Ein massenhafter Raketen-Einsatz droht inzwischen selbst die Abwehr kampfstarker amerikanischer Flottenverbände um Flugzeugträger wie die „USS Ford“ zu überfordern, sollten diese auf China vorstoßen, beispielsweise, um bei einer Invasion Taiwans einzugreifen (siehe Artikel auf Seite 18-21). Unterfüttert wird die Raketenschlagkraft durch „Konter-Interventions-Operationen“, wie es die chinesischen Militärplaner nennen. Im westlichen Militärjargon ist von „A2/AD“ die Rede. Das englische Akronym steht für „Anti-Access/Area denial“. Das heißt, China baut sein Küstenvorfeld – speziell im Südchinesischen Meer – zielgerichtet zu einer Verteidigungszone aus. Sensoren zur Aufklärung und Störung – auch auf künstlich errichteten Inseln – sowie Abwehrraketen und Patrouillenschiffe bilden einen dichten Abwehrschirm. Gegnerischen Verbänden, die in diesen Bereich vordringen, drohen rasche Erfassung und hohe Verluste. Zudem sind unter dieser Schutzkuppel chinesische Marineeinheiten wie Raketen-U-Boote besser geschützt und schwer aufzuklären.
Die US-Streitkräfte arbeiten mit Hochdruck an Konzepten, um im Westpazifik militärisch wieder die Oberhand zu erlangen. Ihr bisheriges „Air-Sea-Battle“-Konzept eines dominanten Luftwaffen-Marineverbunds trägt nicht mehr. Die Landkomponente soll nun eingebunden werden und eine totale Vernetzung aller Teilstreitkräfte von Cyber bis Weltraum erfolgen. Mit beidem will das US-Militär gegen China wieder in Front kommen. Die US-Neuerungen stehen ebenfalls ganz im Zeichen der Raketenwaffen. So baut das US-Heer für den Indopazifik seit 2019 zwei „Multi-Domain Taskforces“ auf. Diese sollen weitreichende Waffensysteme, sogenannte „Long-Range-Fires“, gebündelt zum Einsatz bringen – wie Raketenwerfer- und Marschflugkörpereinheiten kombiniert mit solchen zur Flugabwehr. Die US-Marines, Bindeglied zwischen Heer und Marine, krempeln dafür seit 2020 ihr Kampfkonzept radikal um.
Gegnerische Küsten per Anlandungen mit brachialer Feuerkraft einzunehmen, ist passé. Künftig geht es für die Marineinfanterie darum, mit mobilen Raketenwaffen in kleinen, schwer aufzuklärenden Trupps auf Inseln im chinesischen A2/AD-Abwehrschirm vorzustoßen. So sollen überraschende Schläge gelingen, auch gegen chinesische Kriegsschiffe und Kommandoeinrichtungen. Dann erfolgt ein rascher Rückzug, bevor der Gegner mit seinen „Long- Range-Fires“ zurückschlägt. Dafür geben die Marines ihre Panzer für mehr Raketenartillerie, mehr Tankflugzeuge und mehr Drohnenaufklärung auf, so die Pläne von US-Marines-Oberbefehlshaber David Berger in „Force Design 2030“. Allerdings bezeichnet Berger das bisherige Drohneninventar als ungeeignet für das schnelle Vorstoßen und Zurückziehen über weite Entfernungen, die den Operationsraum Indopazifik prägen. Dabei wächst die Bedeutung unbemannter Luftfahrzeuge für die Marines zwangsläufig. Wegen latentem Pilotenmangel werden deren F-35-Verbände ausgedünnt. Kampfdrohnen sollen künftig eine größere Rolle spielen. Die neu konzeptionierte Kriegsführung erproben die Marines zurzeit mit einem Testverband auf Hawaii.
Das „deutsche Problem“
Allerdings wird die militärische Qualität dieser US-Bemühungen von Militärexperten angezweifelt. So von den bekannten chinesischen Analysten Qiao Liang und Wang Xiangsui. Für sie ist die US-Fokussierung auf die netzwerkzentrierte Kriegsführung „eine elektronische Maginot-Linie, die gefährlich ist, da sie die exzessive Abhängigkeit von einer Technologie bedeutet“. Auch die Kritik von Franz-Stefan Gady – Fachmann für Cyber, Weltraum und künftige Kriegsführung am Think Tank International Institute for Strategic Studies in Berlin – geht in diese Richtung. Die US- Konzepte seien einseitig darauf ausgelegt, den Gegner auszumanövrieren; es fehle hingegen eine Abnutzungsstrategie, über die Großmächtekonflikte entschieden werden. „Ich nenne es das ‚deutsche Problem‘ der US-Streitkräfte“, so Gady im Gespräch mit loyal. Die Kriegführung der Wehrmacht mit ihren überraschenden Panzervorstößen, die den Gegner paralysierten, reichte nur für Schlachten- und Etappensiege im Weltkrieg. Der Faktor Schnelligkeit verlor bald gegen die abnutzende Feuerkraft der Alliierten, die beispielsweise den Artilleriekampf besser führten.
Die angestrebte Multidomain-Kriegsführung der US-Streitkräfte folgt derselben Logik: Ein schnelles Erfassen und Bekämpfen durch vernetzte Sensoren und Waffen soll den Gegner schocken, dem totale Dominanz suggeriert wird. „Die dafür notwendigen Netzwerke sind extrem verwundbar gegen Hacking und Jamming und brauchen viel Energie“, kritisiert Militärexperte Gady.
Für ihr neues Inselspringen bräuchten die US-Marines weitreichende Aufklärungssensoren sowie leistungsstarke Jammer, um getarnt zu bleiben. Ansonsten wäre es ein Sprung auf den Präsentierteller. Zudem müssten die US-Marines mobile Träger elektrischer Energie mitführen – ein massiver Ballast beim geplanten agilen Vorgehen. Überzeugende Konzepte für die energiehungrigen Militäroperationen der nahen Zukunft gibt es bis dato nicht (siehe loyal 5/2021). Den steigenden Energiebedarf schätzen die US-Streitkräfte als so gewaltig ein, dass sie seit 2020 sogar an mobilen Atomkraftwerken forschen, um Entsendungsverbände zu versorgen.
Achillesferse Logistik
Generell ist die Logistik das Hauptproblem der USA für eine Großkampfführung im Indopazifik. Mit dem Ende des Kalten Kriegs gab es für die amerikanischen Streitkräfte nicht mehr das Szenario bedrohter und umkämpfter Versorgungsrouten. Zu Hoch-Zeiten US-amerikanisch dominierter Kriegsführung – dem Golfkrieg 1991 – konnten die Vereinigten Staaten ungestört über ein halbes Jahr lang eine Hightech-Streitmacht vor den Toren des Gegners Irak zusammenziehen. Bei einem Krieg mit dem Reich der Mitte wäre das völlig anders. China hat die Fähigkeit, die gesamte Logistikkette der USA anzugreifen. Das fängt bei Cyberattacken zur Sabotage von Umschlagplätzen direkt in den Vereinigten Staaten an. Die zahlreichen Häfen weltweit in chinesischem Besitz wären anfällig für Blockaden. Mit seiner U-Boot-Flotte kann China die US-Versorgungsrouten in den Indopazifik auch direkt angreifen. Ein Szenario, das US-Militärs besonders umtreibt, ist ein Präemptivschlag Chinas mit seiner Raketenstreitmacht auf die amerikanischen Basen in der Region. Zwei US-Navy-Offiziere modellierten 2017 einen solchen Erstschlag für die Stützpunkte in Japan. Das Ergebnis der Studie „First Strike“: 60 Prozent der dort stationierten Schiffe wären ausgeschaltet, alle Kommandoreinrichtungen und Landebahnen würden getroffen, trotz bestehender Raketenabwehr.
Doch auch ohne einen solchen Enthauptungsschlag, wäre die US-Pazifikflotte mit ihrer verkümmerten Versorgerflotte für längere Westpazifik-Operationen im Vorhof Chinas schlecht aufgestellt. Die jetzige „Combat Logistics Force“ für die vorderste Kampfzone besteht nur noch aus zwei schnellen Versorgern, 15 Tank- und zwölf Cargoschiffen. Folgt man US-amerikanischen Fachanalysen wie „Sustaining the Fight” des einflussreichen Think Tanks CSBA von 2019, müssten die Amerikaner ihre gesamte Versorgungsarchitektur aufwendig verdichten. Das hieße, eine komplexe Logistikflotte aus großen, mittleren bis kleinsten Einheiten aufbauen plus schwimmender, verlegbarer Versorgungshubs und schwer aufzuklärender Tankblasen, sogenannter Dracones, aufzubauen. Nur solch ein bewegliches Netz wäre wohl resilient gegen Angriffe. Bis jetzt läuft der Nachschub einseitig über sechs Basen im Indopazifik, die alle in Reichweite chinesischer Raketen wie der DF-26 liegen, bekannte Admiral Philip Davidson – bis vergangenes Jahr Oberbefehlshaber des US-Pazifikkommandos – bei einer Anhörung vor dem Kongress.
Doch die Aufwertung der Logistik auf US-Seite läuft nur schleppend an. Für eine neue Generation von Standardversorgern sollen in diesem Jahr überhaupt erst Forschung und Entwicklung beginnen. Zum Rüstungsziel einer 355-Schiffe-Flotte gibt es erst ein Bauprogramm für überschaubare 20 Tankschiffe. Bei der Pacific Deterrence Initiative im US-Haushalt, die aufgelegt wurde, um die US-Militärstrukturen in Asien zu stärken, wollte das US-Pazifikkommando 2022 einen Schwerpunkt Logistik setzen. Dieser wurde vom Verteidigungsministerium zunächst kassiert. Die Masse der insgesamt 5,1 Milliarden US-Dollar sollten wie gehabt in Waffensysteme fließen. Erst über die Intervention des Kongresses kam die Logistik zurück in die Initiative, allerdings als kleinster Posten.
„Weiße Elefanten“ in der Rüstung
Ihre Rüstung auf China auszurichten, ist ein zentrales Problem der USA. Die Chinesen bauen in Riesenschritten eine Flotte mit neuesten Einheiten auf. Die Dynamik strich Deutschlands derzeitiger Marineinspekteur Vizeadmiral Kay-Achim Schönbach in seiner ersten Grundsatzrede im vergangenen Jahr heraus: „China hat in den letzten vier Jahren Schiffe in der Anzahl der gesamten französischen Marine in Dienst gestellt.“
Die USA stehen dagegen vor der Herausforderung, ihre bestehende Flotte sinnvoll zu modernisieren. Doch in der US-Rüstung wimmelt es von sogenannten „Weißen Elefanten“ – Investitionsruinen, die im Wehretat exorbitante Summen über Jahrzehnte auffressen, aber nicht die geplante Wirkung bringen. Dazu gehören die neuen Littoral Combat-Ships. Die seit 2008 der Flotte zulaufenden Küstenkampfschiffe sind gegen die Feuerkraft der chinesischen Marine nicht überlebensfähig. Das Programm der „Zumwalt“-Tarnkappen-Zerstörer musste wegen völlig entgleisender Kosten radikal eingedampft werden. Statt einer neuen Zerstörerklasse mit 32 Einheiten bleibt es bei kümmerlichen drei Schiffen. Oder der F-35-Kampfjet, den sowohl Navy als auch US-Marines nutzen. Dessen Lebenszykluskosten durchbrachen schon vor zehn Jahren die Billionengrenze. Inzwischen liegen sie bei 1,7 Billionen US-Dollar, so der US-Rechnungshof in einer Analyse 2021. Oft sind die Problemfälle Rüstungsvorhaben aus den frühen 2000er-Jahren: aufgelegt für eine Kriegsführung nach dem Modell „Desert Storm 1991“ für das schnelle Niederwerfen einer unterlegenen Mittelmacht. Bei China haben es die USA hingegen mit einer Hightech-Wirtschaftsmacht zu tun, deren Rüstung Maßstäbe setzt – von modernsten Drohnen über Hyperschallwaffen bis zur Künstlichen Intelligenz. Diese Rüstung schleppt nicht den Ballast gewachsener Programme mit sich wie in den USA, wo ein konservatives Beschaffungswesen, traditionelle Anbieter und Kongressabgeordnete mit Standortinteressen ein kontraproduktives Beharrungsdreieck bilden.
Einseitige Ausrichtung?
Grundsätzlich stellt sich zudem die Frage, ob diese Großkampf-Ausrichtung der USA gegen China stimmig ist. Beide Staaten sind zweitschlagfähige Atommächte (siehe loyal 12/2021), was eine hohe Hürde für einen direkten Schlagabtausch aufbaut. US-Militärexperten wie Dominic Tierney sehen die künftige Konfliktaustragung beider Großmächte über Stellvertreterkriege. In einer Analyse für die „Texas National Security Review“ 2021 kritisiert Tierney die offizielle Erzählung vom Ende der Interventionskriege, hin zur Neuausrichtung auf gleichwertige Gegner, welche die beiden jüngsten US-Präsidenten Trump und Biden der Öffentlichkeit präsentieren. Denn die dominante Konfliktform weltweit bleiben Bürgerkriege, wie Afghanistan, Syrien und seit jüngstem Äthiopien. Diese innerstaatlichen Auseinandersetzungen sind wie gemacht dafür, dass die sino-amerikanische Rivalität in sie einsickert.
China baut seit Jahren seine Rüstungsexporte aus und hat über sein globales wirtschaftliches Ausgreifen zunehmend Interessen, die es aktiv schützen muss. Die USA dagegen konfigurieren ihren Interventionismus nur um, wie Tierney analysiert. Die US-Army baut nun reine Ertüchtigungsverbände für Partnerarmeen auf – die „Security Force Assistance Brigades“. So soll das künftige US-Engagement indirekter und damit weniger verlustreich ausfallen. Die erarbeitete Kompetenz aus 20 Jahren Anti-Terror-Krieg wie in Afghanistan wird dagegen fahrlässig behandelt. Bereits 2014 wurde das Irregular Warfare Center der US-Armee aufgelöst – mit Blick auf mögliche Auseinandersetzungen mit China ein unkluges Vorgehen. Statt Großkampf im Westpazifik könnte es weiterhin um diverse Kleinkriege gehen, geprägt von irregulärer Kampfführung.