Keine Chance auf Sieg im Krieg gegen das Kokain
Europa wird von Kokain aus Lateinamerika überschwemmt. Die EU ist aufgrund ihrer hohen Kaufkraft besonders attraktiv für die Kartelle. Deren Bekämpfung mit Spezialkräften in Südamerika hängt in der Luft.
Es ist ein Kokain-Tsunami, der gerade Europa überrolle, sagt Michael O’Sullivan, Direktor der europäischen Anti-Drogen-Einheit MAOC-N (Maritime Analysis and Operations Centre/Narcotics). Seit einiger Zeit beschreiben Experten der europäischern Sicherheitsbehörden die Situation in äußerst drastischen Worten. Tatsächlich erreichen seit einiger Zeit extrem große Mengen Kokain aus Südamerika den alten Kontinent auf dem Seeweg. 2022 wurden allein im Hamburger Hafen etwa 9,5 Tonnen der Droge, beziehungsweise pasta básica de cocaína (hochkonzentriertes Kokain, das vor dem Weiterverkauf für den Konsum gestreckt wird), gefunden. Geht man von circa 70 Euro pro Gramm im Straßenverkauf aus, ergibt das etwa 665 Millionen Euro (der Jahresetat der EU-Polizeibehörde Europol dagegen belief sich im selben Jahr auf 193 Millionen Euro – weniger als ein Drittel des Werts des Rauschgifts). Die in belgischen und niederländischen Häfen konfiszierten Mengen an Kokain sind zum Teil mehr als zehnmal so hoch wie die in Hamburg.
Bei all dem handelt es sich aber nur um die Spitze des Eisbergs, denn der Großteil der Drogen bleibt unentdeckt, was nicht zuletzt der nahezu gleichbleibende Straßenverkaufspreis mit meist sehr hohem Reinheitsgrad nahelegt. Kokain wird spätestens seit den 1970er-Jahren nach Europa geschmuggelt, doch woran liegt es, dass die Menge in jüngster Zeit derart exponentiell gestiegen ist?
Kokain gehe in gewisser Weise den Weg des Wassers, sagt ein belgischer Staatsanwalt: den des geringsten Widerstands. Dass es auf einmal dermaßen viel davon in Europa gibt, liegt hauptsächlich daran, dass es vergleichsweise einfach ist, die Droge hierhin zu bringen. Lange Zeit fanden sich die meisten Konsumenten in den USA. Kokain gelangte aus Lateinamerika über Mexiko in die Vereinigten Staaten.
Die USA gehen deutlich offensiver vor, etwa indem sie mit Geheimdienst- und Kommandounternehmen Drogenkriminelle unilateral in Mittel- und Südamerika präventiv bekämpfen. Die US-Drogenbehörde DEA führt seit den 1970er-Jahren auch mit paramilitärischen Einheiten einen Krieg gegen die Drogenhändler. Zu diesem „War on Drugs“ gehören auch außerordentlich strenge Gesetze, verbunden mit hohen Haftstrafen in amerikanischen Gefängnissen. Viele Narcos wissen, dass sie in den USA mit jahrzehntelanger Inhaftierung rechnen müssen und sie, anders als im notorisch korrupten Strafvollzug Lateinamerikas, ihre Geschäfte auch nicht vom Gefängnis aus weiterführen können.
Absatzmarkt Europa ist vergleichsweise risikoarm
„Lieber ein Grab in Kolumbien als eine Zelle in den Vereinigten Staaten“, sagte darum schon der bekannte Drogenboss Pablo Escobar. Hinzu kommt, dass viele Staaten Mittel- und Südamerikas hochrangige Kartellmitglieder inzwischen an die USA ausliefern. All dies erhöht das Risiko und den Aufwand, Kokain dort auf den Markt zu bringen. Dadurch sinkt der Gewinn. Der Absatzmarkt Europa hingegen ist vergleichsweise risikoarm. Befindet man sich einmal innerhalb des Schengenraums, gibt es de facto keine Grenzkontrollen mehr. Auch drohen bei einer Verurteilung keine so harten Strafen wie in den USA. Südamerikanische Schwerstkriminelle werden selten ausgeliefert, weil dazu schlicht die rechtlichen Grundlagen fehlen. Hinzu kommt, dass die europäische Bevölkerung über eine außerordentlich hohe Kaufkraft verfügt – Deutschland beispielsweise ist die fünftgrößte Volkswirtschaft der Welt. All dies zusammen schafft ungewöhnlich günstige Bedingungen für den internationalen Drogenhandel. Diesmal liegt El Dorado, das Goldland, eben nicht irgendwo in Südamerika, sondern direkt in der EU, zumindest aus Sicht der Drogenkartelle.
Mit dem Endabnehmer Europa haben sich auch die Schmuggelrouten verändert. Sie führen jetzt über die unzugängliche Amazonasregion und Westafrika nach Europa. Bereits der Amazonas-Hafen Manaus, 1.700 Kilometer von der Mündung in den Atlantik entfernt, wird von Hochseeschiffen angelaufen, deren Container dann in Hamburg oder Antwerpen entladen werden. Man sieht, dass Ursprungsland und Absatzmarkt in dieser Problematik eng miteinander verbunden sind. Auch darum lohnt der Blick über den Atlantik. Die Welle des aktuellen Kokain-Tsunamis beginnt ihren Lauf am anderen Ende der Welt, in den Tropen Südamerikas, nahe am Äquator. Hier wächst die Koka-Pflanze, aus der die Droge hergestellt wird.
Ein Land sticht dabei besonders hervor: Kolumbien. Laut dem United Nations Office on Drugs and Crime (UNODC) wurden im Jahr 2022 weltweit etwa 2.500 Tonnen Kokain hergestellt. Ein großer Teil davon stammt aus Kolumbien, der Rest überwiegend aus Peru, Ecuador und Bolivien. Die Kokain-Produktion in Kolumbien ist heute so hoch wie nie zuvor. Das Land ist der Frontstaat im Drogenkrieg schlechthin. Hier wird der Kampf gegen die Narcos vor allem auch mit militärischen Mitteln geführt – und das schon seit Jahrzehnten, mit hohem Aufwand und unter großen Verlusten. Spätestens seit die Auseinandersetzung mit dem Medellín-Kartell unter Pablo Escobar zu Beginn der 1990er-Jahre bürgerkriegsähnliche Formen angenommen hatte, wurden Armee-und paramilitärische Polizeieinheiten zur Drogenbekämpfung eingesetzt.
Zu allem Übel herrscht heute immer noch ein Bürgerkrieg. Marxistische Guerillagruppen – hauptsächlich eine Neo-FARC und die ELN (Ejército de Liberación Nacional) – beteiligen sich am Drogenhandel. Die Formulierung Narco-Terrorismus ist allein schon deswegen angebracht. Es sind ganze drogenbasierte Kriegsökonomien entstanden, die vom Staat als militärische Ziele angesehen werden.
Das Comando Jungla
Die Anti-Drogen-Einsätze sind besonders in den unzugänglichen Dschungelregionen extrem aufwendig und meistens hochriskant. Deshalb wurden gleich zwei Spezialeinheiten aufgestellt, die bevorzugt mit diesen komplexen Missionen betraut werden. Eine davon ist das legendäre Comando Jungla: Nachdem auf der Suche nach Drogenlaboren und Dschungelpisten ganze Patrouillen spurlos verschwunden sind, beschlossen die Verantwortlichen 1989, dass man für diese Aufgaben eine spezialisierte Truppe bräuchte, und holten sich Hilfe in Großbritannien. Ausbilder des britischen SAS trainierten die ersten 130 Comandos. Im Wappen der Elitetruppe findet sich neben einem Einhorn und einem Löwen auch ein Kukri – ein Messer, das traditionell von den Gurkhas getragen wird, nepalesischen Soldaten im Dienste der britischen und indischen Streitkräfte. Es eignet sich wohl hervorragend für den Dschungelkampf, und die SAS-Soldaten führten es ebenfalls, als sie 1989 nach Kolumbien kamen. Als Hommage an den SAS hat es Eingang ins offizielle Wappen des Comando Jungla gefunden. Das steht übrigens nicht zufällig auf grünem Grund: Der Dschungel ist grün.
Das Comando Jungla ist Teil der Policia Nacional und untersteht der Dirección de Antinarcóticos, die von der Hauptstadt Bogotá aus den Kampf gegen die Drogenkriminellen koordiniert. Eine Compañia Antinarcóticos Jungla ist in San Luis stationiert und circa 130 Mann stark. Insgesamt besteht das Comando Jungla aus vier Kompanien in jeweils gleicher Mannschaftsstärke. Außer San Luis gibt es die Standorte Facatativá, Santa Marta und Tuluá. Aktuell existieren etwa 600 voll ausgebildete Comandos Jungla. Sie können in ganz Kolumbien innerhalb kürzester Zeit eingesetzt werden.
Behörden von Drogenkartellen infiltriert
Die Ziele der Operationen werden von der Dirección de Antinarcóticos bestimmt. Es ist ein offenes Geheimnis, dass die Sicherheitskräfte des Landes bis hin zu den höchsten Positionen von den Drogenkartellen infiltriert sind. Insider verraten gegen Geld – oder weil sie und ihre Familien bedroht werden – Einsatzpläne und sensible Informationen. Auch daran scheitert oft die Zusammenarbeit mit europäischen Partnern. Offiziell besteht zwar eine Kooperation zwischen den Polizei- und Zollbehörden, doch weigern sich die Europäer aus den genannten Gründen, wichtige Erkenntnisse mit ihren südamerikanischen Partnern zu teilen.
Beim Comando Jungla minimiert man dieses Risiko. Die drei Fähigkeiten Aufklärung, Operationsplanung und Transport liegen bei der Truppe selbst – inteligencia, operativo y transporte.Damit müssen keine externen Kräfte in die Operationen einbezogen werden. Ein hochrangiges Mitglied des Comando Jungla betont, dass es bei ihren Missionen sehr wichtig sei, den Kreis der Eingeweihten so klein wie möglich zu halten, und man es darum nicht riskieren könne, Informationen mit anderen Stellen zu teilen, nur weil beispielsweise ein Hubschrauber gebraucht würde, um ein Team an den Einsatzort zu bringen. Das Comando Jungla hat deshalb eigene, teils bewaffnete Hubschrauber samt Piloten.
Die Equipos Tácticos Operacionales (ETO) des Comando Jungla, die die Kernaufträge ausführen, bestehen aus jeweils sechs Mann. Zwei ETOs finden in einem Hubschrauber vom Typ Black Hawk Platz. Ein Equipo Táctico Operacional besteht aus einem Späher, einem MG-Schützen, einem Sanitäter, einem Sprengstoffexperten und dem Gruppenführer sowie bei Bedarf aus weiteren Spezialisten, etwa einem Scharfschützenteam oder Hundeführern. Eine weitere spezialisierte Einheit zur Drogenbekämpfung ist die Brigada Especial Contra el Narcotráfico (BRCNA). Sie wurde im Jahr 2000 aufgestellt und besteht aus drei Bataillonen (insgesamt mehrere Hundert Soldaten samt Hubschraubern und Besatzungen), die landesweit operieren.
Fokus auf Drogenlaboren und Transportketten
Nachdem die Sprühflüge mit Glyphosat vor einigen Jahren eingestellt wurden, verzichtet der Staat weitgehend auf die Zerstörung von Koka-Pflanzungen. Von Hand einzelne Pflanzen auszurupfen ist zeitraubend, aufwendig, risikoreich (mitunter werden Sprengfallen zwischen den Wurzeln versteckt) und wenig effizient. Stattdessen greifen die Spezialeinheiten heute Drogenlabore und Transportketten an. Die DEA und andere Dienste der USA unterstützen sie dabei mit elektronischer Aufklärung und Informationen. Doch auch dieser Aufwand ist hoch und fordert stetig neue Opfer.
All dies hat nicht dazu geführt, dass die Drogenkartelle nennenswert geschwächt wurden. Bislang gibt es zwar in einigen südamerikanischen Ländern hervorragend ausgebildete und ausgerüstete Einheiten für die Drogenbekämpfung. Das führt zu Teilerfolgen, wie zerstörte Drogenlabore irgendwo im Dschungel. In Europa gelingen vermeintlich spektakuläre Kokain-Beschlagnahmungen in Häfen. Doch der Drogenkrieg geht trotz allem unvermindert weiter. Denn es fehlt eine globale Strategie gegen die Kartelle.
Martin Specht ist freier Journalist mit Sitz in Medellin (Kolumbien).