Künstliche Intelligenz in der Bundeswehr
Die deutschen Streitkräfte tun sich schwer mit militärischer KI. Schon an der Grundlage Digitalisierung hapert es. Konzeptionelle Ansätze hat bis jetzt nur eine Teilstreitkraft erarbeitet.
Schon beim ersten Kriegseinsatz der Bundeswehr spielten erste Ansätze von KI-Militärtechnik eine wichtige Rolle. Im Kosovokrieg 1999 zerstörten deutsche Tornados mit Raketen vom Typ HARM Radarstellungen der jugoslawischen Armee. Zu diesem Waffensystem schreibt die Luftwaffe auf ihrer Webseite: „Dieser etwa 360 Kilogramm schwere Flugkörper arbeitet weitestgehend autonom, indem er die Radarsignale erfasst, lokalisiert und sich dann selbstständig auf dem vom Boden ausgehenden Radarstrahl ins Ziel lenkt.“ Die Befähigung von Waffensystemen zu selbstständigen Aktionen über leistungsstarke Elektronik, Sensorik und IT-Systeme ist heutige Standardrüstung. „Kognitive Verstärkung“ von Waffen nennen das die Militärplaner der Bundeswehr.
Der Anteil hochgradig automatisierter Waffen über KI-Anwendungen unter menschlicher Führung in modernen Streitkräften wächst stetig. In der Bundeswehr sind das zum Beispiel die Flugabwehrsysteme Patriot und MANTIS. Der Schützenpanzer Puma hat vordefinierte Bekämpfungsarten, die er abspult, wenn sie gestartet werden. Das Waffenleitsystem der Fregatte F125 ermöglicht komplexe vollautomatisierte Bekämpfungsmodi. Mit der Automatisierung geht jedoch eine zunehmende Autonomie des Kriegsgeräts einher. Denn der Mensch wird immer mehr zum reinen Auslöser, Überwacher und Beender von Kampfphasen.
Fortschrittstreiber „Künstliche Neuronale Netze“
Neuester und wohl auch künftiger Treiber der KI-Rüstung ist das maschinelle Belernen Künstlicher Neuronaler Netze (KNN), ermöglicht durch den Lernstoff Datendigitalisierung. Nur auf diese Variante nimmt das Verteidigungsministerium Bezug, wenn es um KI in den Streitkräften geht. Damit lässt sich das unangenehme Thema KI in der Waffenkammer als vermeintlich erst anstehendes Zukunftsthema umgehen. In der Tat sind die bisherigen Anwendungen der KNN-Klasse in der Bundeswehr überschaubar und vor allem nicht kinetisch, also direkt waffenwirksam.
Laut einer Befragung von Staatssekretär Thomas Silberhorn durch die Grünen Ende 2020 kommt Künstliche Intelligenz in der Bundeswehr im Sanitätswesen zum Einsatz, beispielsweise in der computerassistierten Chirurgie. Zudem führte das Bundessprachenamt seit Anfang 2020 das Übersetzungsprogramm „Neuronale Maschinelle Übersetzung“ ein – ein auf Künstlicher Intelligenz basierendes Pilotprojekt. Das Lagebild des Cyber- und Informationsraums wird ebenfalls mithilfe von KI erstellt. Seit 2018 entwickeln die deutschen Streitkräfte auch eine softwarebasierte Krisenfrüherkennung. Hier dient das Programm künstlicher Intelligenz „Watson“ von IBM als Analyseplattform für die Bundeswehrmodelle.
Bundeswehr zeigt sich verschwiegen
Geht es um KI im militärischen Kernbereich, gibt sich das Wehrressort schmallippig. Gegenüber loyal zitiert eine Sprecherin lediglich die KI-Strategie der Bundesregierung: „Geprüft wird die KI-Nutzung für Informations-, Entscheidungs- und Wirkungsüberlegenheit.“ Das heißt jedoch, es geht um alle Bereiche der Kriegsführung: um überlegene Aufklärung, Gefechtsführung und Bekämpfung durch KI. Diese für eine vorausschauende und damit effizientere Wartung von Gerät zu nutzen, wird gleichfalls untersucht. Ebenso beschäftigt die Bundeswehr die Frage, wie sie KI in die Ausbildung einbringt. Schließlich müssen die Soldaten auf die kommenden KI-Kriegswelten vorbereitet werden. Das US-Militär lässt beispielsweise zu „Explainable AI“ forschen – zu Deutsch: „erklärbare KI“. Das heißt, lernende KI, die nicht nur Ergebnisse liefert, sondern auch erklären kann, wie sie dazu gekommen ist – für Soldaten wichtig, um Vertrauen in die Fähigkeiten Künstlicher Intelligenz zu entwickeln.
Deren konzeptionelle Erfassung ist in den Bundeswehrteilstreitkräften noch unterentwickelt. Die Marine lässt auf Anfrage von loyal das Verteidigungsministerium antworten, ein KI-Positionspapier sei derzeit nicht vorgesehen. Ein Sprecher der Luftwaffe äußert gegenüber loyal: „Ein Positionspapier wurde wegen der vielfältigen Einsatzmöglichkeiten von KI bisher nicht erstellt. Viele Fragen zum Nutzen für Führung, Aufklärung, Wirkung und Unterstützung können noch nicht beantwortet werden.“ Nur das Amt für Heeresentwicklung brachte 2019 das Konzeptpapier „Künstliche Intelligenz in den Landstreitkräften“ heraus.
Konzeptpapier „Künstliche Intelligenz in den Landstreitkräften“
Dessen Ausblick auf 2030 und später: Die zunehmende Vernetzung durch Digitalisierung – die Grundlage moderner KI – schafft das berüchtigte gläserne Gefechtsfeld, ein Raum, der über Drohnensensorik aufgeklärt und mit indirektem Präzisionsfeuer beherrscht wird. Nicht länger werden dort Kampfeinheiten massiert, sondern nur noch deren Feuerkraft mittels KI-optimierter Operationsführung. Das heißt vor allem: Kämpfe werden immer weiter beschleunigt. Hier zu bestehen, geht nur über weitere Automatisierung, die zunehmend in die Autonomisierung kippen wird. Das schon ikonenhafte Beispiel Drohnenschwärme für Massenangriffe: Ohne eine phasenweise Autonomie intelligenter UAV ist deren Zusammenwirken als Schwarm nicht möglich. Eine reine Automatisierung erlaubt nur Formationsflüge, was den Wert als Waffe hinfällig macht. Vonseiten des Heeres wird vor allem das Mensch-Maschinen-Teaming mittels KI als entscheidend angesehen. Der Hauptgrund dafür ist kein originär militärischer. Die Militärs rechnen schlicht mit einem latenten Rekrutierungsproblem. Nur die massenhafte Einbindung von Robotern macht die Bundeswehr auf Dauer noch durchhaltefähig. Seit 2018 haben die Landstreitkräfte einen Testverband Digitalisierung, der bis jetzt vor allem Transportroboter erprobt. „Dies jedoch in suboptimaler Bestandsinfrastruktur“, so ein Heeressprecher zu loyal. Die Bundeswehr orderte erst vor Kurzem wieder analoge Funkgeräte aus den 1980er-Jahren, da die Ausrüstung mit digitalen nur schleppend vorankommt.
Schreckensbild als Hemmschuh
Wie das Verhältnis von Autonomie zu menschlicher Kontrolle bei Waffen austariert wird, ist die entscheidende Frage bei der kommenden Kriegsführung. Bis dato verstecken sich Politik und Streitkräfte bei diesem Thema. So heißt es im Koalitionsvertrag der jetzigen Regierung: „Autonome Waffensysteme, die der Verfügung des Menschen entzogen sind, lehnen wir ab.“ Allerdings ist auch nicht bekannt, dass irgendein Staat weltweit vollautonome Waffen anstrebt.
Doch das Beschwören dieses Schreckensbilds erlaubt es, sich vor der heiklen Sachdebatte zu drücken, wie teil- autonome Waffensysteme eingehegt werden sollten. Die Einschätzung von Frank Sauer, Experte für Robotik und KI in Streitkräften an der Universität der Bundeswehr München, im Gespräch mit loyal: „In der Bundeswehr herrscht die unbegründete Furcht, dass bereits vorhandenes Gerät, das schon über autonome Funktionen verfügt, infrage gestellt wird.“ Sauer ist Mitglied der AG Technikverantwortung des Future Combat Air System – dem deutsch-französisch-spanischen Luftkampfsystem, das bis 2040 entstehen soll. Die vom Systemverantwortlichen Airbus und der Fraunhofer-Gesellschaft initiierte Expertengruppe ist ein erster Ansatz für Technikfolgenabschätzung zu KI bei Rüstungsvorhaben. Allerdings ist bei der AG bis jetzt nur die deutsche und spanische Projektseite dabei.
Die Entwicklung von KI in der Bundeswehr ist vor diesem Kontext noch offen. Eine eigene ernst zu nehmende KI-Strategie für die Streitkräfte gibt es nicht. Eine solche ist auch nicht vorgesehen, ergab eine Anfrage von loyal beim Verteidigungsministerium. Bundeswehrbelange sind Mitläufer in der KI-Strategie der Bundesregierung, die 2018 herauskam. Die ist ganz darauf ausgerichtet, KI als Gut für die deutsche Exportwirtschaft zu entwickeln. Militärische Bedarfe werden nur allgemein erwähnt, aber keine klaren Ziele formuliert und messbare Schritte dorthin. Die Fortschreibung der KI-Strategie vom vergangenen Jahr wird ebenfalls nicht konkreter. Dort findet sich die Bundeswehr im Kapitel „KI in der öffentlichen Verwaltung“. Da die Bundeswehr nicht als vollwertige Streitkraft konzeptioniert und aufgestellt ist, sondern als ergänzende Bündnisarmee, tastet sie sich im NATO- und EU-Verbund an die eigenen KI-Ambitionen heran, vor allem mit Blick auf die NATO-Führungsmacht USA. Eine Sprecherin des Verteidigungsministeriums zu loyal: „Die Bundeswehr beteiligt sich an den konzeptionellen Ansätzen bei NATO und EU und ist Mitglied der Partnership for Defence, eines multinationalen Forums zur KI-Zusammenarbeit unter dem Dach des Joint Artificial Intelligence Center des US-Verteidigungsministeriums.“
Deutschland: ziviler Forschungsschwerpunkt
Die Innovationsagentur DARPA des US-Verteidigungsministeriums ist schon seit Jahrzehnten maßgeblicher Treiber westlicher KI-Forschung – militärisch wie zivil. Deren Budget im laufenden Haushaltjahr beträgt 3,5 Milliarden US-Dollar. Das ist mehr als der gesamte Etat von Deutschlands wichtigster Institution angewandter Forschung, der Fraunhofer-Gesellschaft, mit 2,8 Milliarden Euro (etwa 3,2 Milliarden in US-Dollar). Davon beträgt der Anteil explizit militärischer Forschung laut jüngstem Fraunhofer-Jahresbericht 139 Millionen Euro. Wie viel davon in KI-Forschung fließt, erhebt das Verteidigungsministerium nicht, ergab eine Anfrage von loyal. KI-Forschung in Deutschland läuft über den zivilen Sektor. Allein die Start-up-Finanzierung der KI-Strategie der Bundesregierung sieht 200 Millionen Euro vor. Für deutsche Erfolge in der KI-Forschung soll die neue Agentur für Sprunginnovationen sorgen, geschaffen 2019 nach dem Vorbild der DARPA — allerdings als zivile Variante unter der Ägide des Forschungsministeriums. Dort laufen Initiativen wie zum Beispiel für energieeffiziente KI-Systeme, die auch von grundlegendem Interesse für die Bundeswehr sind. Zur Berücksichtigung militärischer Interessen gibt es entsprechende Verträge zwischen Verteidigungs- und Forschungsministerium, so eine Sprecherin des Wehrressorts zu loyal.
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In Teil 1 des Themenschwerpunktes Künstliche Intelligenz der loyal vergleicht Ulrike Franke die unterschiedlichen Ansätze von USA und EU. Hier lesen.