Land ohne strategische Tiefe
Israels Streitkräfte sind in eine Bodenoffensive im Gaza-Streifen übergegangen, um die Strukturen der Terrororganisation Hamas zu zerschlagen. Im Norden beobachtet die Hizbollah die Vorgänge. Sie verfügt über mehr Raketen als die meisten europäischen Staaten zusammen. Die Bedrohung für Israels ist immens. Ein Zweifrontenkrieg wäre das schlimmste Szenario für Israel. Denn es ist ein Land ohne strategische Tiefe.
Israels geostrategische Lage ist denkbar ungünstig. Das Land ist mit rund 22.000 Quadratkilometern kaum größer als Hessen. Mit knapp zehn Millionen Einwohnern wohnen in Israel aber ein Drittel mehr Menschen als in Hessen. Israel ist dicht besiedelt, und es fehlt ihm an strategischer Tiefe. Raketen der beiden Terrororganisationen Hamas im Südwesten und der Hizbollah im Norden können prinzipiell jeden Punkt des israelischen Territoriums treffen. Hinzu kommt eine weitere Bedrohung aus dem Jemen: Die dortigen Huthi-Rebellen haben bereits Raketen auf Israel abgefeuert – über eine Distanz von mehr als 2000 Kilometern. Die einzige Region Israels mit zumindest einer geringen strategischen Tiefe ist die Negev-Wüste – aber die ist wiederum praktisch unbewohnt.
Für israelische Militärplaner stellt der Zuschnitt ihres Landes ein großes Problem dar. Die Nord-Süd-Ausdehnung beträgt zwar rund 470 Kilometer, jedoch hat Israel an seiner schmalsten Stelle zwischen Herzliah am Mittelmeer und der Grenze zum Westjordanland eine „Wespentaille“ von gerade einmal 15 Kilometern in west-östlicher Richtung. Die größte West-Ost-Ausdehnung beträgt nur 135 Kilometer.
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Der Gaza-Streifen ragt im Südwesten mit etwa 40 Kilometer Länge und einer Breite von sechs bis 14 Kilometer wie ein Keil nach Israel hinein. Im Gaza-Streifen leben rund 2,2 Millionen Menschen. Israel hatte sich 2005 aus diesem Gebiet zurückgezogen und es den Palästinensern überlassen. Dort herrscht seitdem die palästinensische Terrororganisation Hamas, deren Angehörige am 7. Oktober durch die Grenzanlagen auf israelisches Territorium vorgedrungen sind und dort etwa 1.400 Menschen ermordet haben – das größte Massaker an Juden seit der Shoah. Seit Jahren wird Israel regelmäßig von Raketen aus dem Gaza-Streifen beschossen.
Im Norden trennt eine etwa 120 Kilometer lange Grenze Israel vom Libanon. Auf libanesischer Seite befinden sich Stellungen der Hizbollah, eine radikale schiitische Organisation, die sich in eine politische Partei und eine bewaffnete Miliz aufteilt und die – ebenso wie die Huthi-Rebellen im Jemen – vom Iran finanziert und militärisch ausgerüstet wird. Die Hizbollah soll ein Raketenarsenal von bis zu 150.000 Raketen besitzen. Die Hizbollah verfügt damit über eine größere Feuerkraft als die meisten europäischen Länder zusammen. Sie ist der am stärksten bewaffnete nichtstaatliche Akteur der Welt.
Hizbollah hat an Stärke gewonnen
Ihr Raketenarsenal stellt aktuell eine der größten Gefahren für Israel dar. Bislang wurde Israel nur mit wenigen Raketen aus dem Libanon beschossen. Die israelische Luftwaffe hat daraufhin jeweils Hizbollah-Stellungen angegriffen. Den bislang letzten Versuch, die Hizbollah entscheidend zu schwächen, unternahm Israel 2006, als es Stadtviertel von Beirut, die unter Kontrolle der Hizbollah stehen, tagelang beschoss. Damals sollen rund 500 Hizbollah-Anhänger getötet worden sein. Doch seitdem ist die „Partei Gottes“, wie Hizbollah übersetzt heißt, stärker geworden. Die Zahl ihrer Kämpfer wird heute auf 20.000 geschätzt. Hinzu kommen 30.000 „Reservisten“.
Israel hat, das betonte Verteidigungsminister Joav Gallant vor wenigen Tagen, kein Interesse an einem Krieg im Norden. Die israelische Armee ist vollauf damit beschäftigt, das Terrornetz der Hamas im Gaza-Streifen zu zerschlagen. Ein Zweifrontenkrieg würde gewiss die Hamas im Süden entlasten. Ob es dazu kommt, wird im Iran entschieden, für den die Hizbollah sozusagen eine Distanzwaffe gegen Israel ist. Die Mullahs könnten sie einsetzen, ohne selbst direkt in einen Krieg gegen Israel eintreten zu müssen. Ob Teheran die Hizbollah-Karte ziehen wird, ist ungewiss. Dies könnte dann passieren, wenn sich abzeichnete, dass Israel die Hamas im Gaza-Streifen komplett vernichtet. Nichts Geringeres als das ist das operative Ziel bei der gegenwärtigen israelischen Vergeltung für das Hamas-Massaker vom 7. Oktober.