Lessons Learned – Amerika und der Ukraine-Krieg
In den USA ist der russische Feldzug in der Ukraine Top-Thema. Besonders genau schauen die Militärs hin. Die USA könnten ihre Strategie für Osteuropa anpassen.
Die üblicherweise auf innenpolitische Themen ausgerichteten US-Medien widmen dem Ukrainekrieg bereits seit der russischen Aufmarschphase große Aufmerksamkeit. Sämtliche größere Nachrichtensender und Zeitungen berichten detailliert über politische, militärische und humanitäre Aspekte des Krieges. Unabhängig von der politischen Ausrichtung der Zeitungen und Sender stehen in der Berichterstattung die Völkerrechtsverstöße und Gräueltaten der russischen Streitkräfte sowie der Widerstandswillen des ukrainischen Volkes im Mittelpunkt. Ausnahmen bilden eine Handvoll Kommentatoren des rechten Flügels, die – im Gleichschritt mit dem ehemaligen Präsidenten Donald Trump – noch im März als Freunde Wladmir Putins auftraten.
Auf den ersten Blick gelang es dem russischen Präsidenten, durch sein brutales Vorgehen in der Ukraine die innen- wie außenpolitisch zerstrittene amerikanische Bevölkerung zu einen. Ende März/Anfang April durchgeführte Umfragen ergaben, dass 70 Prozent der US-Bürger Russland inzwischen als Feindnation einstufen. Im Januar waren es nur 41 Prozent. Weitere 24 Prozent der Befragten bezeichnen heute Russland als „Gegenspieler“ oder „Konkurrenten“. Lediglich drei Prozent sehen in Moskau einen „Partner“ der USA. Diese Bewertung gilt unabhängig von der politischen Orientierung der Befragten.
In dieser Bewertung spiegelt sich auch die Einstellung der Bevölkerung hinsichtlich der Haltung der US-Regierung in diesem Konflikt. Rund zwei Drittel der Amerikaner kritisierten Ende März, dass die US-Regierung bislang zu wenig zur Unterstützung der Ukraine unternommen habe. Eine weitere Verschärfung der Wirtschaftssanktionen einschließlich eines vollständigen Energieembargos und weitere Waffenlieferungen genießen mit rund 80 Prozent die höchste Zustimmung. Es folgen – mit Zweidrittelzustimmung – großzügigere Aufnahmeverfahren für Flüchtlinge sowie die Entsendung zusätzlicher Truppen nach NATO-Europa. Ein direktes militärisches Eingreifen in den Krieg lehnen jedoch zwei Drittel der Amerikaner ab.
Fraktionen wollen noch mehr Militärhilfe
Auf dem Kapitol herrscht ähnliche Stimmung. Die vom Weißen Haus beschlossenen Hilfspakete wurden zügig und fast einstimmig bewilligt. In den Fraktionen beider Parteien mehren sich Stimmen, die noch mehr Militärhilfe für die Ukraine fordern. So nannte der einflussreiche Demokratische Senator Richard Blumenthal die gegenwärtige Position der US-Regierung „schizophren“. Blumenthal sagte in einer Anhörung über US-Militärhilfe für Kyjiw: „Wir wollen, dass die Ukraine Russland besiegt und haben gleichzeitig Angst vor einer Eskalation, wenn wir Putin in die Enge treiben.“ Die Republikanische Abgeordnete Liz Cheney bezeichnete das russische Vorgehen als Völkermord und forderte die Versorgung der ukrainischen Streitkräfte mit schweren Waffen.
Über die grundsätzliche Unterstützung der Ukraine hinaus nutzt die Republikanische Partei die Gelegenheit, sich im Vorfeld der Parlamentswahlen im November als Partei der nationalen Stärke zu profilieren. So kritisiert der Republikanische Fraktionschef im Senat, Mitch McConnell, dass Präsident Biden zu lange zögerte, Waffen zu liefern und zu früh die US-Militärberater aus der Ukraine abzog. Entschiedeneres Handeln im Verlauf der russischen Aufmarschphase hätte Putin von der Invasion abschrecken können, äußerte der Oppositionsführer im März.
McConnell muss hierbei die Quadratur des Kreises vollziehen. Der ehemalige Präsident Donald Trump hat unter den Wählern der Republikaner nach wie vor viele Anhänger. Zwar mäßigte Trump in den vergangenen Wochen in der Öffentlichkeit seine putinfreundliche Haltung unter anderem mit der Behauptung, dass er als Präsident niemals eine russische Invasion der Ukraine „zugelassen“ hätte. Doch sind viele Trump-Wähler gespalten. Umfragen ergaben, dass ein Teil dieser Wähler weiterhin isolationistisch bleiben oder gar Verständnis für die Invasion hegen, während ein anderer Teil voll hinter der gegenwärtigen US-Politik steht oder gar eine militärische Intervention der USA begrüßen würde. Auch im Kongress zeigt die Garde der Trump-Unterstützer tiefe Risse. Während etwa Senator Lindsey Graham zum Attentat auf Putin aufrief, verweigerte eine Handvoll republikanischer Abgeordnete des Repräsentantenhauses Anfang April die Zustimmung zu verschiedenen Gesetzesvorlagen, die den Druck auf Russland steigern sollten.
Ukraine wurde unterschätzt
Besonders genau schauen amerikanische Militärs auf den Kriegsverlauf in der Ukraine. Bereits vor dem Krieg warnten viele pensionierte Offiziere davor, die numerische Überlegenheit der russischen Streitkräfte mit einer qualitativen Überlegenheit gleichzusetzen. Sie verwiesen unter anderem auf die Tatsache, dass die ukrainischen Streitkräfte im Verlauf des letzten Jahrzehnts mit intensiver Hilfe des US-Militärs und anderer NATO-Streitkräfte modernisiert wurden. Das Pentagon schätzte die Stärke der Ukrainer allerdings anders ein. US-Generalstabschef Mark Milley prognostizierte gegenüber dem Kongress, dass die Ukraine binnen 72 Stunden nach einem russischen Einmarsch kapitulieren müsste.
Die Frage, warum die US-Militärstäbe eine so starke Fehleinschätzung lieferten, wird derzeit intern geprüft. Fest steht, dass Russland trotz des monatelangen Aufmarsches den Angriff schlecht vorbereitet und durchgeführt hat. Selbstüberschätzung (beziehungsweise Unterschätzung des Gegners) und Probleme bei der Logistik werden als größte Schwachpunkte bezeichnet. In Erwartung eines raschen Sieges wurde lediglich Nachschub für zwei Wochen eingeplant. Soldaten wurden ohne ausreichende Winterausrüstung und mit abgelaufen Feldrationen in den Einsatz geschickt; Fahrzeugkolonnen blieben aufgrund von Treibstoffmangel, aber auch wegen unzureichender Wartung, liegen.
Es fehlt vielfach an Ausrüstung, die in einem modernen Heer selbstverständlich sein sollte, erklärte Major a.D. John Spencer, Leiter des Studienprogramms für urbane Kriegsführung am Madison Policy Forum. Spencer erwähnte unter anderem Nachtsichtgeräte. Die mit westlicher Ausrüstung versorgten ukrainischen Kräfte konnten dank des russischen Fehlbestands im Schutz der Dunkelheit beinahe ungehindert operieren. Es fehlt den Russen auch an Kommunikationsausrüstung. Russisches Personal war gezwungen, über offene Kanäle zu kommunizieren. Die Soldaten ergänzten die eigene Ausrüstung durch gestohlene Mobiltelefone, die dann von westlichen und ukrainischen Diensten abgehört wurden.
Der Krieg zeigt den amerikanischen Experten auch die Schwächen der überkommenen russischen Führungsstruktur. „Die russische Führung ist zentralisiert,“ erklärte Generalleutnant a.D. Ben Hodges, von 2015 bis 2017 Befehlshaber der US-Heereskräfte in Europa. „Eigeninitiative durch Offiziere wird nicht gefördert“, sagt Hodges. Dies führt zu Verzögerungen auf der operativen Ebene und zwingt hochrangige Offiziere, an vorderster Front präsent zu sein. Seit Kriegsbeginn sind mindestens sieben russische Generäle sowie eine große Anzahl Regiments- und Bataillonskommandeure gefallen, erklärt General a.D. David Petraeus. Der Verlust an Führungsexpertise werde die Einsatzbereitschaft der russischen Armee noch weiter schwächen, vermutet der ehemalige US-Befehlshaber im Mittleren Osten. Doch auch auf unterster Ebene leide das russische Heer, so Generalleutnant a.D. Mark Hertling. Besonders fatal: Das Fehlen eines starken, professionellen Unteroffizierskaders führe zu Ausbildungsmängeln, Disziplinlosigkeit und schwacher Truppenmoral, stellte Hertling fest.
Doch scheinen die Russen aus dem Desaster in der gegenwärtigen Offensive zu lernen. Angesichts der Anfang April eingeleiteten Schritte – Konsolidierung der Offensivkräfte auf den Ostteil der Ukraine, Einsetzung von General Alexander Dwornikow als einheitlicher Befehlshaber der Offensivkampagne – erkennt das Pentagon eine Wende in der russischen Strategie. Russland dürfte hierdurch seine Stärken, etwa die numerische Überlegenheit bei den schweren Manöververbänden, besser als bisher zur Geltung bringen. Als Ausgleich werde nun auch die Ukraine zusätzliche schwere Waffensysteme einschließlich Kampfpanzer brauchen, so General Milley am 5. April vor dem Senat. Tatsächlich will die US-Regierung nun den Transfer solcher Waffensysteme aus den Beständen anderer osteuropäischer Staaten vermitteln.
Hohen Bereitschaftsgrad der Streitkräfte sicherstellen
Bei derselben Senatsanhörung sagte General Milley, dass die Aussicht auf einen direkten Krieg zwischen den Großmächten zunehme. Künftige Verteidigungsetats müssten darauf ausgerichtet sein, sowohl einen hohen Bereitschaftsgrad der Streitkräfte sicherzustellen und zugleich ausreichende gezielte Investitionen in Forschung, Entwicklung und Beschaffung zu tätigen, um die Oberhand in einem solchen Krieg zu gewährleisten.
Die bisherigen Lehren aus dem Ukrainekrieg werden noch ausgewertet. Eine Erkenntnis jedoch wurde bereits gezogen. Die bisherige Politik, mit einer vergleichsweise „diskreten“ Truppenpräsenz in Osteuropa Abschreckung zu betreiben, entpuppt sich als unzureichend. Die USA dürften ihre Truppenpräsenz in der Region langfristig ausbauen, erklärte Milley. Im Gespräch seien ständige Stützpunkte, die durch abwechselnde Entsendungsverbände aus den USA besetzt werden. Dies würde eine robuste Abwehrfähigkeit gegen eine russische Aggression an der NATO-Ostflanke bilden, würde aber gleichzeitig ausreichende Flexibilität für eine US-Reaktion auf eine Aggression im Pazifikraum oder in einer anderen Region bewahren.
Der Autor
Sidney E. Dean ist Fachjournalist für US-Sicherheitspolitik mit Sitz in Suffolk, Virginia.