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Die erste Schlacht gewinnen

Weitreichendes Feuer über Lenkwaffen wird für die Bewaffnung der Streitkräfte NATO-Europas immer wichtiger. Antreiber sind die US-Streitkräfte, die an neuen Kampfkonzepten arbeiten.

HIMARS-Raketenwerfer des 14. Feldartillerieregiments der US-Army bei einer Gefechtsübung in Estland im Winter 2023.

Foto: Joshua Zayas / U.S. Army

Für den Erfolg der ukrainischen Herbstoffensive 2022 waren sie ein entscheidender Faktor: Von den USA gelieferte HIMARS-Werfer, die mit ihrem weitreichenden Raketenbeschuss Russlands Logistik im Rückraum der Front zerschlugen, sodass deren Nachschub kollabierte. Neben Drohnen ist der Aufbau einer Produktion eigener Lenkwaffen großer Reichweite das zweite Hauptziel der ukrainischen Kriegsrüstung. Stetig drängt die Ukraine ihre westlichen Verbündeten zur Lieferung solcher Systeme, wie des deutschen Marschflugkörpers Taurus. Mit diesem könnte es die Brücke von Kertsch zerstören und so den russischen Nachschub auf die Krim massiv stören.

Weltweit werden immer leistungsstärkere „Long Range Fires“ – so die gängige US-Bezeichnung – zu einem Rüstungsschwerpunkt bei Streitkräften. In Deutschlands erster Nationalen Sicherheitsstrategie vom Sommer letzten Jahres sind sie die einzige Waffengruppe, die explizit erwähnt wird. Dort heißt es: „Die Bundesregierung wird die Entwicklung und Einführung von Zukunftsfähigkeiten wie abstandsfähigen Präzisionswaffen befördern.“ Bei der NATO sind Long Range Fires nach Raketenabwehr Rüstungspriorität Nr. 2, so Angus Lapsley, Stellvertretender NATO-Generalsekretär für Verteidigungspolitik und -planung, auf der Münchener Sicherheitskonferenz im Gespräch mit loyal.

Gemeint sind damit konventionelle Lenkflugkörper, deren Schlagkraft immens gesteigert wird: immer größere Reichweiten, stärkere Gefechtsköpfe, bessere Störresilienz und Manövrierfähigkeit sowie höhere Geschwindigkeiten bis zum Hyperschall. Das weite Spektrum der Long Range Fires beginnt beim oberen Ende des taktischen Feuers auf dem Schlachtfeld – den Raketenwerfern. Bis heute gelten hier Gefechtsweiten von 80 bis 150 Kilometern als Standard. Die USA entwickeln Werfer und Lenkwaffen für 500 Kilometer und mehr. Am oberen Ende der Long Range Fires wird von Deep-Precision-Strike-Systemen gesprochen. Das sind Präzisionslenkwaffen für strategische Schläge über 1.000 Kilometer, zum Beispiel gegen wichtige Verkehrsknotenpunkte eines Feindes tief in dessen Hinterland.

Addressat ist die NATO

Was macht dieses weitreichende Feuer militärisch so bedeutsam? Sein Einsatz verspricht, Operationen eines Gegners, oder schon deren Vorbereitung, rasch und entscheidend stören zu können, weil man zentrale Elemente dafür, etwa Kommandoeinrichtungen, vernichten kann. Das soll auch den Einstieg in einen Abnutzungskrieg vermeiden.

In der Militärdoktrin von Europas Hauptfeind Russland spielt dieses Kalkül eine zentrale Rolle. Dessen Streitkräfte gelten am weitesten fortgeschritten bei der Einführung der neuesten Form von Deep-Strike-Lenkflugkörpern – den Hyperschallwaffen. Der Militärexperte Fabian Hoffmann von der Universität Oslo hat sich eingehend mit der Rolle solcher Systeme für Russland befasst. Hoffmann sagte bei einem Vortrag der Konrad-Adenauer-Stiftung in Berlin: „Der Kreml zielt darauf, dass der Einsatz dieser Waffen als glaubwürdig gilt, weil sie nicht nuklear sind. Das soll Russland helfen, Kriege gegen schwächere Gegner an seiner Peripherie rasch zu gewinnen. Verbündeten wird signalisiert, dass Hilfeleistungen unterbunden werden können, beziehungsweise mit massiven Kosten verbunden wären.“

Adressat dieses Konzepts ist offensichtlich die NATO und deren Verteidigung, gerade für die baltischen Staaten mit ihrer geringen strategischen Tiefe. Das macht sie besonders anfällig für ein rasches Überrennen durch Russland. Naheliegendes Ziel russischer Deep-Strike-Schläge könnte auch Deutschland sein, das logistische Hauptdrehkreuz für die Verteidigung der NATO-Ostflanke. Umgekehrt sind Long Range Fires mit Deep Strike ebenfalls wichtig für die Abschreckung der NATO. Mit ihnen kann das Bündnis zeigen, dass es Mittel hat, um einen russischen Angriff unterhalb der nuklearen Schwelle abzuwürgen.

In den USA Rüstungspriorität Nr. 1

Vorreiter der Bewaffnung mit weitreichendem Feuer neuer Generation sind bei den Westmächten die USA. Alle Teilstreitkräfte treiben Projekte dazu voran und wollen sich bis Ende der Dekade mit entsprechenden Systemen bewaffnen. Bei der US-Army sind Deep-Strike-Fähigkeiten sogar Rüstungspriorität Nr. 1, noch vor der Modernisierung ihrer Kampffahrzeuge.

Eine Variante der Präzisionslenkwaffe JASSM bei einer Erprobung auf dem Testgelände White Sands in New Mexico, USA im Jahr 2009. (Foto: U.S. Air Force)

Was die Amerikaner antreibt, ist allerdings nicht der europäische Operationsraum, sondern der Indopazifik. In dessen weiten Distanzen zwischen Inselgruppen hätten Long Range Fires eine essenzielle Bedeutung im Falle eines Krieges mit China. Die US-Army stellt Verbände neuen Typs auf, die explizit darauf ausgelegt sind, neue Waffen in diesem Bereich einzuführen – die Multi-Domain Taskforces (MDTF). Die erste davon für Asien. Die zweite MDTF für Europa wird seit 2021 in Deutschland aufgebaut, mit Hauptquartier in Mainz-Kastel. Ihr Kern bildet ein „Strategic Fires Bataillon“ und ein mobiles Flugabwehrbataillon zu deren Schutz. Die Taskforces sind laut US-Army ihre „Eckpfeiler“ für eine Multi-Domain-Operationsführung, welche die US-Streitkräfte bis 2035 aufbauen wollen. Multi Domain soll die Verbindung aller Teilstreitkräfte zu einem Kampverbund erreichen.

Kommende Waffen der MDTFs sind die Precision Strike Missile im HIMARS-Werfer für die neue obere taktische Reichweite von 500 bis 700 Kilometer. Als mittlere Reichweite gilt das System „Typhon“. Es verfügt über SM-6 Raketen zur Luftverteidigung und den Marschflugkörper Tomahawk für Ziele in 1.600 Kilometer Entfernung und mehr. Die Spitze bildet die Long-Range Hypersonic Weapon namens „Dark Eagle“. Diese Lenkwaffe soll strategische Ziele auf bis zu 3.000 Kilometer bekämpfen.

Auf Nachfrage von loyal gibt ein Sprecher der US-Army Europe and Africa an, dass es für die Bestückung der Batterien des Strategic Fires Bataillons noch keinen Zeitplan gibt. Die Precision Strike Missile hat laut US-Angaben eine Anfangsbefähigung erreicht und ist somit bereit, um direkt in den Verbänden getestet zu werden. Vom Typhon-System sind Tests in Europa bekannt. Die MDTF für Asien hat zu Jahresbeginn ihre erste Batterie damit in Dienst gestellt. Bei „Dark Eagle“ sollten Tests Ende 2023 eine Anfangsbefähigung nachweisen; doch diese wurden abgesagt, da es Probleme mit dem Werfer gibt.

Zu den Multi-Domain-Taskforces hat die US-Army das Projekt „Convergence“ gestartet – zu Deutsch: „Annäherung“ beziehungsweise „Angleichung“. Mit dieser jährlichen Übungsserie seit 2020 sollen die Alliierten an die kommende US-Kampfweise herangeführt und integriert werden. Während Alliierte wie Frankreich und Polen schon mitmachen, ist die Bundeswehr erst auf Tuchfühlung. Das US-Projekt sei im Heer bekannt, eine Beteiligung aber offen, so ein Heeressprecher gegenüber loyal. Bei der Luftwaffe sei das US-Vorhaben hingegen unbekannt, sagte eine Sprecherin.

Deutschland: Bislang nur Taurus verfügbar

Die Luftwaffe hat bei der Bundeswehr die Führung bei den zentralen Multi-Domain-Elementen Flugabwehr und Deep-Precision-Strike. Der luftgestützte Marschflugkörper Taurus mit 500 Kilometern Reichweite ist bis jetzt die einzige Fähigkeit Deutschlands in diesem Bereich. Für die kommenden F35-Kampfflugzeuge sind 75 Marschflugkörper vom Typ AGM-158B/B2 JASSM vorgesehen, mit einer Reichweite von bis zu 1.000 Kilometern. Details zu weiteren Planungen und Rüstungsvorhaben will die Luftwaffe nicht mitteilen. Nur so viel: „Bei konventionellen Effektoren mit großer Reichweite ist eine Steigerung der Leistungsfähigkeit der Effektorik sowie eine Zunahme an Lagerbestand zu erwarten“, so ein Luftwaffensprecher zu loyal. Auf der Tagung „Perspektiven der Verteidigungswirtschaft“ in Bonn äußerte der stellvertretende Luftwaffeninspekteur Generalleutnant Lutz Kohlhaus zu Jahresbeginn, dass die NATO in einem potenziellen Krieg nicht in der Lage sei, ihren Luftraum umfassend zu schützen. Die Allianz müsse sich deshalb in die Lage versetzen, das Luftkriegspotenzial eines Gegners schon auf dessen Territorium zerschlagen zu können.

Die Marine will ihr weitreichendes Lenkwaffen-Feuer ausbauen, um auch verstärkt Landziele wie gegnerische Führungseinrichtungen, Sensor- und Waffenstellungen sowie Logistikzentren bekämpfen zu können. Bis jetzt hat die Marine dafür nur den Lenkflugkörper RBS15 MK3 mit überschaubaren 200 Kilometern Reichweite. Ein Marine-Sprecher sagte loyal: „Alle Fregattenklassen und die K130-Korvetten sollen dazu künftig befähigt werden.“ Allerdings strebt die Marine keine Deep-Precision-Strike-Fähigkeiten nach NATO-Definition an, so der Sprecher. Die Definition dafür nach Zielspektrum und Reichweite ist laut NATO als geheim eingestuft.

300 Kilometer und mehr

Das Heer plant weit reichendes Feuer über Raketenartillerie künftig bei seinen Divisions- und Korpsstrukturen für die NATO. Der jetzige Mars-II-Werfer mit 84 Kilometern gilt als nicht mehr ausreichend. Die Heeresführung nennt 300 Kilometer und weiter als die neue obere taktische Kampftiefe. Für Deep Precision Strike im Rückraum eines Gegners sollen Werfer mit einem neuen Lenkflugkörper kommen – Projektname: „System indirekten Feuers großer Reichweite.“ Ein Sprecher des Heeres zu loyal: „Bei diesem künftigen System steht die Hyperschalltechnologie noch nicht im Fokus.“

AGM-158-JASSM-Lenkflugkörper der US Air Force zur Inspektion vor ihrem Depot bei einer Übung auf der Basis Barksdale in Louisiana, USA im Frühjahr 2021. (Foto: Jacob B. Wrightsman / U.S. Air Force)

Frankreich und Großbritannien betreiben Forschung und Entwicklung zu nationalen Lenkwaffen mit Hyperschall-Technologie. Gesamteuropäisch steht bisher die Abwehr gegen russische Long Range Fires und Deep-Strike-Waffen im Vordergrund. Wie üblich bei den Europäern gibt es zahllose Querelen. Über die EU läuft das PESCO-Projekt „Twister“, die Entwicklung eines weltraumgestützten Warn- und Abfangsystems bis 2030. Die Führung hat hier Frankreich. Paris wollte nicht akzeptieren, dass die Kommission ein spanisches Konsortium auswählte, um den Twister-Lenkflugkörper zu entwickeln – gefördert mit 100 Millionen Euro aus dem EU-Verteidigungsfonds.

Impulse wohl erst aus den USA

Nachträglich ging eine zweite 80-Millionen-Euro- Studie an Frankreichs MBDA Konzern. PESCO und Verteidigungsfonds sollten die Vernetzung der nationalen Wehrbranchen fördern, tatsächlich werden Verteilungskämpfe finanziert. Deutschland hat nach Beginn des russischen Invasionskriegs gegen die Ukraine hastig die „Sky-Shield-Initiative“ aufgegleist. Mit anderen Europäern will es schnell einen Abwehrschirm über marktverfügbare Systeme aufbauen. Die erste Beschaffung, das israelische Arrow3-System, wird jedoch von diversen Lenkwaffen-Experten wie Fabian Hoffmann als ungeeignet angesehen, um russische Systeme abzufangen.

Trotz der Taurus-Erregung mit Blick auf den Ukraine-Beistand hat sich in Deutschland noch keine Debatte zur Rolle und Rüstung moderner Lenkwaffen großer Reichweite entwickelt. Nach tradiertem Muster sind Politik und Gesellschaft mit der Gestaltung einer Sicherheitsvorsorge überfordert. Impulse dazu dürften, wie stets, von den USA kommen, wenn von dort in naher Zukunft Stationierungswünsche zu Long Rang Fires neuer Generation an Deutschland gerichtet werden.

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