Machtpolitik ist unausweichlich
Deutschland befindet sich mitten in einer historischen Zeitenwende. Nicht allein die Klimapolitik erfordert einen Paradigmenwechsel, auch die Sicherheitspolitik muss angesichts strategischer Bedrohungen neu gedacht werden. Globale Macht- und Ordnungspolitik sind die Parameter der 2020er-Jahre. Dem kann sich die Bundesrepublik nicht länger entziehen. Nur durch militärische Stärke kann es Frieden und Klimaschutz geben.
Repressive Regime und autoritäre Staaten wie die Volksrepublik China und das Russland von Wladimir Putin bedrohen den Westen. Die amerikanische Politik hat dies unter Präsident Joe Biden erkannt und eine Kehrtwende vollzogen. China wird als Risiko angesehen. Mit Russland verhandelt Washington hart. Die Vereinigten Staaten richten ihr militärisches Dispositiv mehr denn je auf den Fernen Osten aus, während die Bundesrepublik in China zwar einen strategischen Rivalen, aber keinen Gegner sieht. Auch gegenüber Russland ist Berlin angesichts der russischen Bedrohung der Ukraine und des neuen Blockdenkens in Moskau nicht in der Lage, zu einer adäquaten Position zu gelangen. Die Welt hat sich in wenigen Jahren dramatisch verändert, die strategischen Gewichte haben sich verschoben – Deutschland jedoch scheint in den neuen Realitäten noch nicht angekommen zu sein.
Dabei bedarf die Bundesrepublik in ihrer Außen- und Sicherheitspolitik dringend einer strategischen Wende. Unser Land muss nach 70 Jahren unter dem Schutz der Amerikaner und der NATO eine neue Rolle in der rauer gewordenen Welt finden. Gefordert ist nicht weniger als eine strategische Neuausrichtung Deutschlands; es muss sich wieder auf eine robuste Verteidigung der westlichen Ordnung an der Seite seiner NATO-Partner einstellen. Die Ära der humanitären Einsätze kann mit dem Scheitern in Afghanistan als beendet angesehen werden – von künftigen Ausnahmen bei Antiterroreinsätzen oder bei der Genozidprävention und -bekämpfung abgesehen.
Deutschlands Verantwortung
Gefordert ist heute ein neues Modell strategischen Denkens. Im Mittelpunkt steht dabei die Verantwortung Deutschlands gegenüber jener Weltordnung, durch die unser Land nach dem Zweiten Weltkrieg zu umfassendem Wohlstand und zu garantierter äußerer Sicherheit gekommen ist. Dieses neue strategische Denken muss seinen Ausgangspunkt in Anerkennung der tatsächlichen Weltlage nehmen – also der Situation, wie sie ist, und nicht, wie man sie sich wünscht. Die strategische Alternativlosigkeit der zurückliegenden Jahrzehnte gilt es zu überwinden und die Einsicht in unterschiedliche Optionen sicherheitspolitischen Handelns zu fördern.
Die deutsche Sicherheitspolitik der 2020er-Jahre findet ihre Grundierung in der globalen Neuausrichtung der Vereinigten Staaten. Die Präsidentschaft von Joe Biden ist die Gelegenheit für Deutschland, die Grundlagen der Sicherheitspolitik der Zukunft zu legen. Es muss darum gehen, dass die USA trotz ihres Fokus auf China weiterhin Europa und Deutschland als gleichwertige Partner betrachten, und Washington davon zu überzeugen, dass es ein Fehler wäre, sich von Europa zu lösen. Diese Gefahr wäre fatal für unseren Kontinent – und sie ist im Falle einer zweiten Präsidentschaft Donald Trumps ab 2025 real.
Materielle Machtgrundlage wackelt
Ungeachtet aller Berliner Sonntagsreden zur internationalen Politik ist in weiten Teilen der politischen Klasse und Gesellschaft nicht angekommen, was sich strategisch im Untergrund der Weltpolitik ereignet. Die Weltordnung ist westlich, weil sie auf einem materiellen Machtübergewicht des Westens beruht und sich durch eine freiheitliche Werteorientierung auszeichnet. Damit macht sie Deutschlands „Lebenswelt“ aus, wie es Bundespräsident Joachim Gauck einst formulierte. Diese ideelle und materielle Machtgrundlage wird jedoch gegenwärtig aggressiv durch einige Großmächte infragegestellt. Wir sehen dies als einen globalen Kampf um Machtdominanz, der mit allen verfügbaren Machtmitteln außer bislang zumindest den unmittelbar kriegerischen geführt wird.
Das ist die Kernerkenntnis, die in Berlin am Anfang aller künftigen Debatten stehen sollte. Die Deutschen mögen die bisherige Ordnung gleichsam für natürlich und unendlich halten, das ist sie aber nicht. Ganz im Gegenteil: Sie ist, das zeigt die geschichtliche Erfahrung, vergänglich, wenn sie nicht robust geschützt wird. Mit der Gewöhnung an diese Ordnung ist auch eine Geisteshaltung gewachsen, die die institutionalisiert-friedliche, intraeuropäische Konfliktlösung verinnerlicht hat. Das ist gut, führt aber in der Auseinandersetzung mit den handfesten Machtambitionen und harten Machtmitteln von Großmächten zu Fehleinschätzungen. Und die können schwerwiegende Folgen für den Schutz der Sicherheit, der Freiheit und des Wohlstands in Deutschland haben.
„Strategic Mindset“
Was Deutschland jetzt braucht, ist die zügige Herausbildung eines „strategic mindset“, also eines strategischen Ansatzes, der Macht als Konstante der Weltpolitik begreift. Machtpolitik ist unausweichlich mit einem Denken verbunden, in dem die eigene Stärke und die der Partner die Voraussetzung ist, mit der der Beitrag Deutschlands zum Erhalt der westlichen Ordnung gemessen wird. Die Förderung eigener Stärke sowie jener der NATO und zugleich die Schwächung expliziter Feinde des Westens müsste deutsche Staatsräson sein. Militärische Macht ist in diesem Denken eine zwingend notwendige Komponente der Politik – und zwar als glaubwürdige Abschreckung sowie im Falle eines Falles auch als Instrument der Gewaltabwendung beziehungsweise Friedenserzwingung.
Im politischen Berlin wird inflationär und ohne inhaltliche Unterfütterung immer wieder von „mehr Verantwortung“ für Deutschland gesprochen. Doch was heißt das? Die dahinter stehende Frage wird nicht gestellt, obwohl sie unausgesprochen im Raum steht: Wofür ist denn diese Verantwortung Deutschlands gut? Die Antwort kann nur lauten: Deutschlands Verantwortung muss sich als strategische Pflicht zur Verteidigung der westlichen Ordnung verstehen – ohne Wenn und Aber und ohne naive Träumerei. Deutschlands Verantwortung ist der Ordnung verpflichtet, der unser Land all seine Sicherheit, seine Freiheit und seinen Wohlstand zu verdanken hat. Nur das robuste Eintreten für diese Verantwortung gewährleistet, dass das Land weiterhin in diesen Werten leben kann. Dazu gehören eine robuste Außenpolitik und in letzter Konsequenz auch militärische Mittel, wenn unsere Freiheit und die unserer Verbündeten bedroht ist.
Neue Konzepte verantwortlicher Machtpolitik
Es war der Florentiner Niccolò Macchiavelli, der einst seinen Landsleuten in Zeiten des radikalen Umbruchs der internationalen Ordnung neue Begrifflichkeiten anbot, mit denen sie die Realitäten der Gegenwart besser verstehen konnten. Eine solche machiavellistische Revolution, wie sie der britische Historiker und Politikwissenschaftler Quentin Skinner nannte, brauchen wir auch heute, um den Großteil der deutschen Eliten auf die geänderten Rahmenbedingungen internationalen Handelns einzustimmen – nicht aus Zynismus, sondern aus Einsicht in das, was sich in der Welt abspielt. Ein neues „strategic mindset“ könnte die viel bemühte, aber unverstandene Zeitenwende, die sich gerade ereignet, mit neuen Konzepten verantwortlicher Machtpolitik füllen. Denn eines ist klar: Wir selbst werden unsere Stellung in der Welt verteidigen müssen. Die Feinde des Westens werden dies nicht tun.
Ein Merkmal dieses „strategic mindset“ ist neben militärischer Stärke die Erinnerungspolitik in Deutschland. Heute geht es nicht mehr darum, wegen des Zweiten Weltkriegs politisch vor Scham im Boden der Gegenwart zu versinken. Heute geht es vielmehr darum, sich der Zerbrechlichkeit der Ordnung zu vergewissern, die der Bundesrepublik nach 1945 im Westen und nach 1990 als Ganzem Frieden und Freiheit gebracht hat. Das bedeutet, im Jahr 2022 festzustellen, dass ein großes Opfer Hitler’scher Aggression, Russland, heute eine strategische Gefahr für die NATO ist.
Aggression ist politisch allgegenwärtig
Russland ist heute nicht mehr Opfer. Es ist unter Wladimir Putin eine Bedrohung für Europa, die gegenwärtig noch durch die USA gebannt wird. Aggression ist kein historisches Relikt, auch wenn wir das in Deutschland gerne so sehen. Aggression ist politisch allgegenwärtig und jederzeit möglich. Putins Instrumentalisierung der Geschichte muss als ein Mittel zum Zweck zur Erreichung strategischer Ziele und als eine Verschleierung seiner aggressiven Intentionen angesehen werden.
Die strategische Bedrohung durch die Volksrepublik China ist mit derjenigen Russlands wechselwirksam verquickt. Kommt es im Zuge der Systemrivalität zwischen den USA und China zu einem Krieg, muss davon ausgegangen werden, dass die USA ihr gesamtes militärisches Gewicht in die ostasiatische Waagschale werfen. Umgekehrt würde damit die Glaubwürdigkeit der NATO-Abschreckung gegenüber Russland drastisch sinken. Die psychologische Negativwirkung der China-Konzentration der USA auf den Zusammenhalt der NATO wäre immens. Putin wüsste eine solche historische Gelegenheit gewiss zu nutzen; mindestens würde er einen erheblichen materiellen Preis bei der „Neugestaltung“ Europas verlangen. Die Konsequenz dieses Plansspiels für Deutschland liegt darin, zunächst die konventionelle Abschreckungskraft der europäischen NATO-Länder zu stärken und die Führung in Europa zu übernehmen. Damit ergäbe sich eine neue, für Washington glaubwürdige Lastenteilung.
„Eurodeterrent“ als Rückversicherung
Um für den Fall eines US-China-Krieges mit Blick auf Russland gewappnet zu sein, ist es unabdingbar, eine europäische atomare Abschreckungskapazität in der NATO zu schaffen, zusammen mit Frankreich, Grossbritannien und Polen. Dieses würde die Lebensversicherung Europas darstellen, sollten US-Nuklearwaffen mit Blick auf China andere Funktionen übernehmen. Eine solches „Eurodeterrent“ böte zudem eine Rückversicherung gegen ein nicht auszuschließendes sicherheitspolitisches Abkoppeln der USA unter einer neuen Trump-Regierung in den USA.
Die robuste Gewährleistung des Friedens in der internationalen Politik macht für den Westen also eine starke Abschreckungsfähigkeit notwendig. Dies hat übrigens nicht nur friedenserhaltende Folgen, sondern auch eine klimapolitische. Denn diese Stärke führt zu Stabilität der Ordnung. Nur in solcher Stabilität ist der sukzessive Erfolg klimabezogener Anstrengungen möglich. Ernsthafte Spannungen oder gar Krieg machen solche Bemühungen unmöglich. Kooperation unter den größten CO2-Emissären ist dann nicht denkbar. Deshalb: ohne strategische Sicherheit kein Fortschritt im Klimaschutz.
Die Autoren
Prof. Dr. Maximilian Terhalle, Oberstleutnant d.R., ist Gastprofessor an der London School of Economics (LSE) und ihrem Thinktank LSE IDEAS. Einer seiner Forschungsschwerpunkte sind Fragen strategischer Führung in der internationalen Politik. Er war für das britische Verteidigungsministerium tätig und ist politischer Berater in Berlin.
Dr. Bastian Giegerich, ist Director of Defence and Military Analysis am International Institute for Strategic Studies (IISS), London. Er war zuvor im Bundesverteidigungsministerium tätig und ist Autor und Herausgeber mehrerer Bücher zu Fragen europäischer
Sicherheit und Verteidigung.
Zum Artikel
Dieser Artikel ist eine exklusiv für loyal geschriebene Zusammenfassung der zentralen Thesen aus dem Buch „The Responsibility to Defend: Rethinking Germany’s Strategic Culture“ der beiden Autoren. Es ist kürzlich als Veröffentlichung des International Institute for Strategic Studies (IISS) in London in englischer Sprache erschienen (Adelphi Papers, Verlag Routledge, 149 Seiten, 21,55 €) und hat in der transatlantischen sicherheitspolitischen Öffentlichkeit eine breite Diskussion ausgelöst.