Mayday!
Ohne die USA können sich die Europäer nicht verteidigen. Trotz großer Ankündigungen geht es in Sachen EU-Armee und gemeinsamer Rüstung nur langsam voran.
Wir schreiben das Jahr 2021: Die USA sind vor ein paar Monaten aus der Nato ausgetreten. So hatte es der gerade wiedergewählte Präsident Trump schon lang vorher angekündigt. Doch gerade jetzt spitzen sich die Spannungen zwischen Russland auf der einen und Polen und Litauen auf der anderen Seite zu. Zunächst fliegen russische Kampfjets immer wieder durch den litauischen Luftraum, dann kommt es zu Schießereien an der russisch-litauischen Grenze. Ein paar Tage später greifen russische Hacker die Computer der polnischen und litauischen Regierung an, russische Spezialeinheiten nehmen den litauischen Flughafen Kaunas ein. Zwei Wochen danach haben russische Militärs alle litauischen Truppen vernichtet. Auch die deutschen Soldaten, die zur Überwachung des Luftraums und zur Abschreckung der Russen im Land waren, sind aufgerieben. Die europäischen Nato-Staaten sind verzweifelt und rufen den Bündnisfall aus. Doch beim Blick in die Waffenarsenale macht sich bei den Militärs Verzweiflung breit: Es gibt viel zu wenige Panzer, Flugzeuge und Luftabwehreinheiten.
Dieses fiktive Szenario hat der angesehene Thinktank „International Institute for Strategic Studies“ (IISS) im vergangenen Jahr in seiner Analyse „Defending Europe“ entworfen. Das Ergebnis: Bei einem konventionellen Angriff eines Gegners in der Größenordnung von Russland würde den europäischen Nato-Mitgliedern massiv Gerät fehlen. Ohne die USA klafft eine riesige Lücke beim militärischen Gerät: Bei der Marine würden 16 Fregatten mit Mehrzweckfunktion fehlen – allein deren Anschaffung würde laut IISS bis zu 33 Milliarden US-Dollar kosten. Das Heer braucht vor allem Luftabwehrsysteme. Zwischen 62 und 78 Batterien etwa an Patriot-Systemen müssten für bis zu 78 Milliarden US-Dollar angeschafft werden, so die Wissenschaftler vom IISS. Dazu: mehr als 3.000 Kampfpanzer, 264 Kampfjets und mehr als 3.000 gepanzerte Fahrzeuge. Die Einkaufsliste ist nicht nur lang, sondern auch sehr teuer. Insgesamt 357 Milliarden Euro müssten die europäischen Nato-Mitgliedsstaaten ausgeben, um gegen einen Angriff wie oben beschrieben, gewappnet zu sein, so die Experten vom IISS.
Das ist beunruhigend. Denn selbst wenn alle europäischen Nato-Mitglieder das Zwei-Prozent-Ziel der Nato erfüllen würden, also zwei Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts (BIP) für Verteidigung ausgeben, wären das nur etwa 100 Milliarden Euro. Das ist nur ein Drittel des vom IISS errechneten, notwendigen Betrags. Und: Bisher sind die meisten EU-Staaten noch weit vom zwei Prozent Ziel entfernt: Deutschland gibt im Moment 1,3 Prozent des BIPs für Verteidigung aus – obwohl die Bundesregierung in den vergangenen Jahren das Budget für die Bundeswehr bereits massiv erhöht hat.
Nur jeder Dritte für Einsatz zum Schutz von Bündnispartnern
Und Geld ist nur das eine. Ein Planspiel der Körber-Stiftung zeigt, wie zögerlich und uneinig die europäischen Nato-Staaten ohne die USA bei einem Angriff wären. Das Szenario des im vergangenen Sommer mit Vertretern aus verschiedenen Nato-Ländern durchgeführten Planspiels: Die russische Regierung übernimmt in einer hybriden Aktion die Regierung in einem Land auf dem West-Balkan. Die gestürzte legitime Regierung ruft die Nato zu Hilfe. Die Teilnehmer des Planspiels waren ratlos und baten die US-Regierung verzweifelt sich zu engagieren. Zu einer eigenen, glaubwürdigen Reaktion konnten sie sich nicht durchdringen. Dazu passen auch die Umfrageergebnisse des US-amerikanischen Meinungsforschungsinstitut Pew: Auf die Frage, ob im Falle „eines ernsthaften militärischen Konflikts zwischen Russland und einem Nato-Partner das eigene Land militärisch aktiv“ werden sollte, sprechen sich die meisten Befragten in europäischen Ländern dagegen aus. In Deutschland ist nur jeder Dritte für einen Einsatz von Bundeswehrsoldaten, um Bündnispartner zu schützen.
Schlecht ausgerüstet, schwach und uneins – das sind dunkle Aussichten für die europäische Verteidigung. Dabei klingen die Ansprachen von europäischen Politikern ganz anders: „Heute legen wir den Grundstein für eine Europäische Verteidigungs- und Sicherheitsunion“, sagte die damalige deutsche Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen beim Start der gemeinsamen Verteidigungsinitiative Pesco vor drei Jahren. Pesco soll gemeinsame Rüstungsprojekte erleichtern. Der gleichzeitig aufgesetzte Europäische Verteidigungsfonds soll diese dann finanzieren.
Pesco und europäischer Verteidigungsfonds wurden von Ursula von der Leyen und anderen europäischen Politikern als Meilensteine hin zu einer gemeinsamen Verteidigung bezeichnet. Beide sollten Antworten auf ein viel beschworenes Problem geben: 20 verschiedene Programme für gepanzerte Fahrzeuge existieren in der EU, sechs U-Boottypen und fünf für Kampfflugzeuge. Mit diesem Sammelsurium wollten die Verteidigungspolitiker führender EU-Nationen aufräumen. Mit Pesco und europäischem Verteidigungsfonds habe man „die schlafende Schönheit“ der EU-Verteidigungspolitik wachgeküsst, sagte gewohnt bildhaft der frühere EU-Kommissionschef Jean Claude Juncker.
Wie sieht es nach knapp drei Jahren mit Pesco aus?
Die Bilanz fällt bestenfalls gemischt aus. Abgesehen von Malta und Dänemark machen zwar alle EU-Staaten mit. Und: Die Liste der Projekte, die nun unter dem Label „Pesco“ multinational geplant werden, ist lang. 47 Projekte stehen auf der Liste, darunter echte Rüstungsschwergewichte wie der Bau einer Euro-Drohne oder die Entwicklung eines Patrouillenbootes. Der Europäische Verteidigungsfonds, mit dem multinationale Rüstungsprojekte gefördert werden sollen, ist mit 13 Milliarden Euro gefüllt. Das ist zwar wenig im Vergleich zu den 357 Milliarden, die laut IISS nötig wären, um die europäischen Nato-Partner etwa gegen einen Angriff Russlands krisenfest aufzustellen. Es ist aber immerhin eine Anschubfinanzierung für Forschungsprojekte – die klammen EU-Ländern und deren Rüstungsfirmen helfen kann.
Doch wenn es darum geht, die diagnostizierten Fähigkeitslücken zu schließen, bleiben Experten skeptisch: „Die Projekte sind oft am unteren Ende des Fähigkeitsspektrums angesiedelt und beinhalten meistens das, was Mitgliedsstaaten schon vorher bereit waren, national umzusetzen“, schreiben die Wissenschaftler des IISS im Mai 2019 in einer im Internet veröffentlichten Studie. Die Fähigkeitslücken, so die Wissenschaftler, bleiben bestehen, vielmehr trügen jetzt Projekte das Label „Pesco“, die sowieso bereits von den einzelnen Regierungen befürwortet und bei Unternehmen in Planung gewesen seien. Der Zusatznutzen von Pesco sei nicht ersichtlich. „Insbesondere wenn es um große Militäraktionen geht, hat Europa massive Fähigkeitslücken. Da gehen sehr wenige Pesco-Projekte ran“, sagt auch Ulrike Franke vom European Center on Foreign Relations.
Außerdem kranken die Pesco-Projekte an denselben Problemen wie europäische Gemeinschaftsprojekte der Vor-Pesco-Zeit. Zu spät, zu teuer, zu wenig funktional – das waren die Kritikpunkte bei vergangenen multinationalen europäischen Rüstungsprojekten wie dem Transportflugzeug A400M oder dem Eurofighter. Oft bestürmten die verschiedenen Länderregierungen die Industrie mit immer neuen – oft auch widerstreitenden – Anforderungen an das Flugzeug oder den Panzer. Das Ergebnis: eine teure „eierlegende Wollmilchsau“.
Diese Gefahr ist auch heute nicht gebannt. Beispiel Euro-Drohne. Frankreich, Deutschland und Italien wollen zum ersten Mal in der Geschichte eine eigene Drohne bauen. Sie soll in mittleren Höhen fliegen können und dabei vor allem aufklären, aber auch Waffen tragen können. In Deutschland soll die Euro-Drohne die Heron-TP ablösen, die die Bundeswehr im Moment von Israel geleast hat. Eigentlich sollte die Entwicklung der Drohne im Jahr 2025 abgeschlossen sein. Doch daraus wird wohl nichts. Deutschland und Frankreich streiten sich darum, was die Drohne können soll. Laut deutscher Bundesregierung ist die Drohne vor allem für den heimischen Einsatz vorgesehen, sie soll bei Tag und Nacht und „widrigen Witterungsbedingungen“ fliegen können. Die Deutschen hätten gerne zwei Motoren. Das wiederum kritisiert der französische Senat, der fürchtet, die Drohne wiege dann zu viel (10 Tonnen) und könne deshalb nur schwer exportiert werden. Außerdem wollen die Franzosen die Drohne eher für die Einsätze im Ausland, zum Beispiel in Subsahara-Afrika konstruieren.
Doch der Streit um die Technik ist nur ein Symptom für ein viel tiefergehendes Problem. Danach gefragt, welche Herausforderungen die eigene Sicherheit bedrohen, geben Vertreter der europäischen Länder ganz unterschiedliche Antworten. Das zeigt eine Studie der Denkfabrik „European Council on Foreign Relations“. Während südliche Staaten wie Italien, Malta oder Griechenland in der unkontrollierten Migration eine Haupt-Bedrohung sehen, fürchten sich ost- und nordeuropäische Staaten wie Estland, Polen und Finnland eher vor einer russischen Aggression. Länder wie Frankreich, Großbritannien oder Belgien sehen sich eher durch Terroranschläge gefährdet.
Lichtblicke in der bilateralen Zusammenarbeit
Trotz dieser grundlegenden Differenzen gibt es auch Lichtblicke. Oft funktioniert die Zusammenarbeit zwischen verschiedenen europäischen Armeen nämlich schon recht gut. Die Bundeswehr teilt sich mit den niederländischen Streitkräften seit ein paar Jahren das Landungsschiff Karel Doormann. Da die Niederlande keine eigene Panzertruppe mehr unterhalten, haben sie zudem Panzersoldaten in ein deutsches Panzerbataillon eingegliedert. Auch mit Polen arbeitet die Bundeswehr immer enger zusammen. Unter dem Motto „Cross-Attachment“ läuft gerade die Unterstellung eines polnischen Heeresbataillons in eine deutsche Brigade und umgekehrt. Die Ausbildung der Panzersoldaten findet schon seit ein paar Jahren gemeinsam statt.
Solche Beispiele stimmen Hans Peter Bartels, den Wehrbeauftragten des deutschen Bundestags, optimistisch: „So wachsen, wenn es gut geht, die Inseln funktionierender Kooperation. Sie werden größer, es werden mehr und manche wachsen zusammen. So bilden sie nach und nach Festland“, schreibt er in einem Beitrag für die „Welt“. Bartels geht dabei davon aus, dass es irgendwann effektiver sein wird, die militärische Kooperation nicht mehr nach den Rationalitäten der Inseln, sondern nach einem einheitlichen europäischen Regelwerk zu organisieren. So käme es auf ganz natürliche Weise schließlich zur „feierlichen Gründung einer Europäischen Armee, in der 20 oder 30 nationale Armeen aufgehoben und verschmolzen“ wären.
Doch wird das wirklich ohne abgestimmten Zeitplan und Strategie „quasi von selbst“ funktionieren? Marcel Dickow von der Stiftung Wissenschaft und Politik ist skeptisch. Beim Blick auf die Vergangenheit von Rüstungsprojekten stellt er fest: Die Zusammenarbeit funktionierte dann besonders gut, wenn es zum Überleben einzelner Firmen unbedingt notwendig war. Die meisten größeren Länder verstünden die Beschaffung von Rüstungsgütern immer noch als Frage der nationalen Souveränität. Und auch bei Truppenverzahnungen zeigt sich: Nationale Interessen sind den meisten Staaten wichtiger als die europäische Zusammenarbeit. Während Frankreich eigene Kampfeinsätze gegen Terrorgruppen im Sahel führt, beschränkt sich die Deutschland auf Ausbildungsmissionen oder nimmt an UN-Stabilisierungseinsätzen teil.
Auch ist Deutschland nicht unbedingt Vorreiter, wenn es um die Europäisierung der Verteidigung geht. Als das Prestigeprojekt der deutschen Marine, das Mehrzweckkampfschiff 180, im Januar an eine niederländische Werft ging, protestierten die unterlegene deutsche Werft und Politiker aus Schleswig-Holstein massiv. Die vier Schiffe, die auf allen Weltmeeren so gut wie alle Aufträge ausführen können sollen, sind mit 5,3 Milliarden Euro der bisher größte Marineauftrag in der Geschichte der Bundeswehr. Bernd Buchholz, Wirtschaftsminister in Schleswig-Holstein, nannte die Vergabe an die niederländische Damen Werft eine „schwachsinnige Entscheidung“. Andere europäische Staaten würden ganz selbstverständlich ihre eigene Industrie mit solchen prestigeträchtigen Aufträgen betrauen, so Buchholz. „Wir sind die Einzigen, die das in europaweiten Ausschreibungen machen und die anderen lachen sich tot über uns“, sagte er nach der Vergabe. Der Weg zu einer europäischen Verteidigung – er scheint noch lang zu werden.
Bildnachweise
Fotos: Hille Hillinga / Medicentrum Defensie (MCD); Airbus Defence and Space
Für die Grafik: Bundeswehr; M. Dorow / Bundeswehr; Wikipedia / ItalianLarry/ under CC; Eurofighter Jagdflugzeug GmbH; Bundeswehr