MGCS – Ein neues Kampfsystem für das Heer
Deutschland und Frankreich wollen den Kampfpanzer der Zukunft bauen. Dahinter steckt nicht nur ein einziges Fahrzeug, sondern ein vernetztes System. Die Anforderungen sind hoch. Die Gefahr des Scheiterns ist es auch.
Die Stärke des Leoparden ist die Furcht vor dem Leoparden“, lautet ein traditionelles Sprichwort aus Afrika. Das gilt auch für den nach der Großkatze benannten Kampfpanzer Leopard II. Das seit 1978 in Serie gebaute Waffensystem wird von Armeen in aller Welt als deutsches Spitzenerzeugnis geschätzt und von vielen Experten nach wie vor als bester Panzer aller Zeiten betrachtet. 3600 Stück sind davon bislang beim deutschen Hersteller Krauss-Maffei Wegmann (KMW) und seinen Lizenznehmern in anderen Ländern produziert worden – es ist eine auch kommerzielle Erfolgsgeschichte. Einst als Rückgrat der NATO zur Abwehr von Panzerverbänden des Warschauer Pakts konzipiert, kam der Leopard II bei der KFOR-Truppe im Kosovo vor gut 20 Jahren erstmals zum Einsatz. Dänemark und Kanada nutzten ihn auch bei der ISAF-Mission in Afghanistan. Die Türkei setzte ihn in Syrien ein. Wie sein Namensgeber aus dem Tierreich wirkt der Leopard II allein schon durch die Furcht vor ihm – vor seiner überlegenen Technologie, ohne dass er auch nur einen einzigen Schuss abgegeben hätte. Doch nach über 40 Jahren im Dienst sind die Tage des Leopard II gezählt.
Der französische Leclerc ist zwar jüngeren Datums, seine Entwicklung begann 1982, die erste Einheit wurde 1996 ausgeliefert. Aber auch bei diesem Modell tickt die Uhr. Ewig wird man den Leclerc ebenso wie den Leopard II nicht modernisieren und für die Anforderungen des Gefechtsfelds der Zukunft nachrüsten können. Deutschland und Frankreich haben sich daher entschlossen, den Panzer der nächsten Generation gemeinsam zu entwickeln. Das Projekt trägt den wenig emotionalen Titel „Haupt-Landkampfsystem“, es wird nach seiner englischen Begrifflichkeit Main Ground Combat System kurz MGCS genannt. Dahinter steckt kein einzelnes zu entwickelndes Fahrzeug mehr, sondern – wie die Bezeichnung schon sagt – ein ganzes Verbundsystem, eine Kombination aus heute zum Teil noch futuristisch anmutender Hochtechnologie, Big Data und Waffentechnik. Überlegenheit und Durchsetzungsfähigkeit lauten die Ziele. Der Zeithorizont für seine Einführung ist das Jahr 2035. Dann soll das MGCS Leopard II und Leclerc ersetzen.
Im Bundesverteidigungsministerium hat man ambitionierte Vorstellungen von dem, was das MGCS sein soll. Der zuständige Unterabteilungsleiter Brigadegeneral Holger Draber zeichnet gegenüber loyal das ganz große Bild eines Waffensystems der Zukunft und räumt dabei mit der Vorstellung auf, dass es sich lediglich um einen neuen Panzer handelt. Tatsächlich ist es wesentlich mehr als das: „Wir wollen ein für die Bündnis- und Landesverteidigung maßgebliches System, das in jeder Hinsicht auf dem Gefechtsfeld der Zukunft überlegen ist. Das wird eine Basisplattform sein, die in die eine oder andere Richtung ausgebaut werden kann.“ Das Besondere: „Nur eines der darauf fußenden Fahrzeuge wird Ähnlichkeit haben mit dem, was wir heute unter einem Kampfpanzer mit klassischer Rohrwaffe verstehen. Wir werden daneben auch Fahrzeuge haben, die mit anderen Effektoren ausgestattet sind. Vorstellbar sind Hochgeschwindigkeitsraketen, Drohnen, Laser und weit reichende Wirkmittel jenseits der Sichtlinie. Dazu Führungs- und Kommunikationsplattformen“, so Draber. Was genau schließlich entwickelt wird, ist noch Zukunftsmusik. Das soll später entschieden werden. Jetzt geht es zunächst einmal darum, bis 2024 Technologiedemonstratoren für einzelne Komponenten zu entwickeln. Daraus soll bis 2028 ein Gesamtsystemdemonstrator werden. Dieser wird zeigen, welche Fahrzeugtypen, Waffen und sonstigen Komponenten am Ende genutzt werden können. Zu gegebener Zeit soll das Projekt dann auch für weitere europäische Nationen geöffnet werden.
In einem Letter of Intent haben sich Deutschland und Frankreich 2018 zu dem gemeinsamen Projekt bekannt, zugleich wurde Deutschland als Leitnation festgelegt. Die beteiligten Unternehmen sind KMW und Rheinmetall auf deutscher und der Panzerbauer Nexter auf französischer Seite. KMW und Nexter sind schon seit 2015 unter dem Dach der Holding KNDS vereint. Die drei beteiligten Firmen haben sich zu einer Arbeitsgemeinschaft zusammengeschlossen, die seit Mai vergangenen Jahres zunächst eine Systemarchitekturstudie für das MGCS erarbeitet. Beabsichtigt ist, die unterschiedlichen Vorstellungen zu harmonisieren und eine plattformübergreifende Idee zu entwickeln. Die Arbeitsanteile zwischen beiden Nationen bei der Studie liegen bei jeweils 50 Prozent. In Koblenz wurde ein Koordinierungsbüro eingerichtet.
Doch um was geht es beim MGCS genau?
Auskunft hierzu gibt der für Forschung, Technologie und Innovation zuständige Chief Technology Officer bei Rheinmetall in Düsseldorf, Klaus Kappen. Der frühere Fernspäher der Fernspähkompanie 200 in Weingarten beschäftigt sich seit seinem Ingenieursstudium an der TU München 1995 mit Waffentechnologie, er war unter anderem im Forschungslabor der US-Army in Maryland tätig. Kappen sagt im Gespräch mit loyal: „Wir wollen ein Waffensystem entwickeln, das das Rückgrat der Bodentruppen darstellt und nach seiner Einführung 2035 mindestens 40 Jahre im Dienst bleiben soll.“
40 Jahre nach der Einführung 2035 bedeutet nichts weniger, als Einsatzszenarien bis ungefähr zum Jahr 2075 vorherzusagen. Das ist ein komplexes Problem. Denn dafür müssen Technologiesprünge gedacht werden, für die es heute einiger Fantasie bedarf. Weil das MGCS so grundlegend neu ist, hat die Industrie einen Zero-Base-Ansatz gewählt. Das heißt: Das, was es aktuell beispielsweise beim Leopard II gibt, wird nicht linear in die Zukunft fortgeschrieben, sondern es wird etwas völlig Neues geschaffen. „Wir denken vom Ende her, von der Wirkung, die wir erreichen wollen und nicht von dem, was schon da ist“, erläutert Kappen. Dieses weiße Blatt Papier, das die Entwickler vor sich haben, lädt geradezu ein, sich die verrücktesten Sachen auszudenken. Doch es gibt Rahmenvorgaben, die aus heutiger Sicht plausibel sind. Zum Beispiel, was die Bedeutung der Informationsverarbeitung angeht. Die wird bei einem Waffensystem wichtiger denn je.
Kappen geht davon aus, dass das Gefechtsfeld der Zukunft „überflutet sein wird mit Informationen“. Viel mehr Informationen als ein Mensch je in der Lage ist zu verarbeiten. Um die Datenflut in den Griff zu bekommen und möglichst in Echtzeit reagieren zu können, wird das neue Panzersystem mit Künstlicher Intelligenz ausgestattet sein müssen. Schon bei der Sensorik, der Informationsgewinnung und der Datenfusion der neuen Panzer werden die Ingenieure Neuland betreten. Zudem werden Kommunikation und Vernetzung ganz andere Dimensionen bekommen.
Selbstschutz des MGCS auch gegen Drohnen
Aber auch die Bedrohungen selbst werden sich ändern: Hochgeschwindigkeitsflugkörper, Drohnenschwärme, Laserwaffen, elektronische Kriegführung… Der Krieg zwischen Armenien und Aserbeidschan vor wenigen Monaten war der erste, der durch Kampfdrohnen entschieden wurde. In den zu untersuchenden Technologiefeldern soll nach Auskunft einer Sprecherin des Verteidigungsministeriums gegenüber loyal der Selbstschutz des MGCS auch gegen Drohnen berücksichtigt werden. Experten sind sich sicher, dass lasergestützte Waffen, aber ebenso intelligente Maschinenkanonen der nächsten Generation gegen die Drohnengefahr bei der Panzerentwicklung mitgedacht werden müssten. Der Zukunfts-Panzer soll zudem auch wieder gegen atomare, biologische und chemische sowie elektromagnetischen Waffen gewappnet sein.
Um im Waffensystem MGCS die Soldaten möglichst vor den Gefahren auf dem Gefechtsfeld zu schützen, könnten die Lösung unbemannte Fahrzeuge sein, die ferngesteuert von gedeckten Führungspanzern aus gelenkt werden. „Das autonome Fahren auf dem Gefechtsfeld ist in der Tat eine unserer Herausforderungen“, sagt Kappen, verweist aber auf die bisherigen Schwierigkeiten mit selbstfahrenden Autos im Straßenverkehr, wo die Rahmenbedingungen durch Leitplanken und Fahrbahnmarkierungen unvergleichlich besser sind und die Entwicklung dennoch eher schleppend vorankommt. Solche Hilfsmittel gibt es auf dem Gefechtsfeld nicht. Autonomes Fahren erfordert hier nochmal ganz andere Lösungen.
Tatsächlich dürfte der unbemannte MGCS-Panzer wohl erst die übernächste Entwicklungsstufe sein. „Zunächst geht es darum, dass wir die Besatzung reduzieren“, so Kappen. Eine Leopard II-Besatzung umfasst heute vier Mann: Kommandant, Fahrer, Ladeschütze, Richtschütze. „Ich halte es für realistisch, dass das MGCS nur noch von zwei Mann bedient wird. Am einfachsten ist es, die Funktion des Ladeschützen zu ersetzen. Das kann ein automatischer Lader bereits heute“, erläutert Kappen. Wie hingegen die verbleibenden Funktionen des Fahrers, Richtschützen und Kommandanten auf zwei Personen aufgeteilt werden können, muss die weitere Entwicklung zeigen.
Harte Nuss für die Waffeningenieure
Neben der Künstlichen Intelligenz ist die Bewaffnung Haupttreiber des Projekts. Der Leopard II verfügt über eine 120-Millimeter-Glattrohrkanone mit 42 Schuss sowie über ein Maschinengewehr. Die Hauptkampfentfernung liegt heute bei rund zweieinhalb Kilometern. Das MGCS muss nach Forderung der Planer auf eine Kampfentfernung von viereinhalb bis fünf Kilometern kommen. Das ist eine harte Nuss für die Waffeningenieure. Im Gespräch ist eine 130-Millimeter-Kanone. Ein Waffendesign jenseits der 130 Millimeter bringt von der Wirkung im Ziel keinen Mehrwert, hat aber negative Auswirkungen auf die operationelle Nutzbarkeit des System, beispielsweise aufgrund eines dann zu langen Rohrs.
„Zum jetzigen Zeitpunkt können wir noch nicht sagen, wie die verschiedenen Plattformen des MGCS aussehen werden, alles ist offen und denkbar“, sagt Kappen. Offiziell ist noch nicht einmal entschieden, ob es sich um Radpanzer oder Kettenfahrzeuge handeln wird. „Wobei es wohl auf die Kette hinauslaufen wird“, vermutet der Chief Technical Officer. In jedem Fall sind alle bislang kursierenden Designstudien nur vorläufige Ideen. Wie das MGCS tatsächlich aussehen wird, das werden erst die kommenden Jahre zeigen.
Das neue Hauptkampfsystem des Heeres mit seiner disruptiven Technologie ist nicht nur für Rheinmetall in Düsseldorf das wichtigste Zukunftsprojekt, sondern auch für Krauss-Maffei Wegmann in Kassel und München. Für dessen Geschäftsführer Ralf Ketzel hat das MGCS neben der technologischen Dimension vor allem eine politische. Nachdem die europäischen NATO-Partner zunächst hauptsächlich mit amerikanischen Panzern, dem M 41, M 47 und dem M 48, ausgestattet wurden, haben sich Deutsche und Franzosen erst später mit Eigenentwicklungen einen Namen gemacht. Der Leopard II wurde dabei sogar zum europäischen Standardkampfpanzer. Nun folgt der nächste Schritt, die deutsch-französische Zusammenarbeit. „Mit dem Leopard II hat man in Europa im Hinblick auf die USA ein Bewusstsein gleichwertiger Rüstung geschaffen. Das MGCS verbindet auf diesem Feld nun mit Frankreich und Deutschland die politisch wichtigsten Partner und auch die beiden bedeutendsten Technologienationen der EU“, sagt der frühere Artillerieoffizier Ketzel.
Dabei hebt er die Bedeutung des Standorts Deutschland für die Panzerproduktion hervor: „Wir haben einen Führungsanspruch im Panzerbau, der sich unter anderem auf den Leopard II, aber auch auf den Puma gründet. Bei moderner Heerestechnologie ist Deutschland ohne Zweifel weltweit führend. Den Qualitätsnachweis haben wir vor langer Zeit schon erbracht und gehalten.“ Die Franzosen mit ihrer starken Ausrichtung auf Hochtechnologie anderer Art – wie zum Beispiel Schienenfahrzeuge, Atomkraft, Hochsee-U-Boote, Weltraumtechnik – seien der ideale Partner. Wenn man zusammenarbeite, sollten absolute Spitzenprodukte dabei herauskommen, erwartet Ketzel.
Die deutsche Seite habe allerdings ihre Position gegenüber den Franzosen geschwächt, räumt der KMW-Chef ein: „Während die Franzosen mit Nexter ihren nationalen Champion ins Rennen geschickt haben, müssen wir unsere Rolle zwischen zwei Firmen ausbalancieren.“ Ketzel verweist zwar auf die gute Zusammenarbeit zwischen KMW und Rheinmetall beim Leopard II, beim Puma und beim Boxer – aber wie immer man es auch dreht, die Dreier-Konstellation macht die Sache nicht einfach. Immerhin: „Der deutsche Führungsanspruch beim Projekt MGCS drückt sich darin aus, dass wir die stärkeren Vorgaben machen.“
Das MGCS wird stets verglichen mit dem zweiten Super-Projekt der deutsch-französischen Zusammenarbeit im Rüstungssektor, dem künftigen Kampfflugzeug FCAS (Future Combat Air System). In der Tat gibt es einige Parallelen. FCAS als Nachfolger von Eurofighter und Rafale ist auch nicht mehr nur ein einzelnes Flugzeug, sondern ein Verbund aus Kampfjet, Drohnenschwarm und Satelliten mit starken Anteilen Künstlicher Intelligenz. Geplante Indienststellung: 2040. Die Kosten werden sich wohl auf rund 100 Milliarden Euro belaufen. Auch beim MGCS ist von einem dreistelligen Milliardenbetrag die Rede. Bei FCAS gibt es mit Airbus Defence and Space aus Bayern einen deutschen und mit dem Flugzeugbauer Dassault einen französischen Partner. Den Lead haben die Franzosen.
Allerdings: Zwischen Deutschen und Franzosen knirscht es knapp vier Jahre nach dem Startschuss 2017 gewaltig.
Aus der latenten Spannung ist inzwischen offener Dissens geworden sei. Es geht um Eifersüchteleien, Prestige, Furcht vor Technologieabfluss, unterschiedliche Einsatzszenarien, gegenseitige Vorwürfe, der eine wolle den anderen übervorteilen, und um unterschiedliche Unternehmenskulturen. Die Krise war zwischenzeitlich so handfest, dass weder Paris noch Berlin ein Scheitern von FCAS ausschließen wollten. Man habe in den Abgrund geblickt und wolle sich nun zusammenraufen, hieß es zuletzt. Würde FCAS begraben werden, wären die deutsch-französischen Rüstungsbeziehungen auf Jahre, vielleicht Jahrzehnte hinaus vergiftet. Womöglich nicht nur die Rüstungsbeziehungen.
Der Erfolgsdruck ist gewaltig
Welchen Einfluss das stotternde FCAS-Projekt auf das MGCS hat, lässt sich leicht ausmalen. Die industriepolitischen, militärischen und Mentalitätsunterschiede gelten ja für FCAS genauso wie für MGCS. Das Panzerprojekt würde unter einen noch gewaltigeren Erfolgsdruck als ohnehin geraten. Es könnte an ihm zerbrechen. Die deutsche Industrie wäre vermutlich aufgrund ihrer Technologieführerschaft in der Lage, den Panzer der Zukunft auch alleine zu bauen, so wie die Franzosen aufgrund ihrer Erfahrungen im Kampfflugzeugbau in der Lage wären, den Nachfolger des Rafale ebenfalls allein zu stemmen. Eine Scheidung der Partner bei beiden Großprojekten hätte in jedem Fall eine verheerende Außenwirkung – innerhalb Europas und darüber hinaus. FCAS ist im Projektfahrplan MGCS ungefähr ein Jahr voraus. Es bleibt abzuwarten, ob sich mögliche Bruchstellen beim Panzerprojekt auch erst in einigen Monaten zeigen. Bislang beteuern alle Seiten, dass man gut zusammenarbeite.
Der schärfste Konkurrent für das MGCS ist der russische T-14-Panzer, dessen Prototyp 2015 vorgestellt wurde. KMW-Chef Ralf Kenzel nennt den T-14 „unseren Druckpunkt und unsere Benchmark.“ Die Russen hätten die Panzerentwicklung konsequent vorangetrieben. Bemannte Türme wie noch im Leopard II sind dort längst Vergangenheit. „Unsere direkte Bedrohung ist der T-14“, stellt Ketzel klipp und klar fest. Und meint das technologisch und militärisch. Betriebswirtschaftlich steht KMW allerdings nicht mit Russland, sondern mit anderen außereuropäischen Herstellern von Kampfpanzern im Wettbewerb. Der russischen militärischen Herausforderung werden Deutschland und Frankreich auch militärisch etwas entgegensetzen müssen. Jeder für sich oder gemeinsam.